Das Mausoleum Chiles
Das Mausoleum Chiles
Am 20. Februar begann in Chile mit der Einweihung des Hochsicherheitsgefängnisses eine neue Ära der Terrorismusbekämpfung. Zunächst wurden 45 Gefangene verlegt, 37 davon aus der Ex-Penitenciaría (ehemaliges Zuchthaus) und neun aus dem Gefängnis San Miguel. Der Hochsicherheitstrakt liegt auf dem Gelände der Ex-Penitenciaría in Santiago und wurde im Oktober 1993 fertiggestellt. Es sind vor allem Mitglieder der militanten Oppositionsgruppen FPMR (Frente Patriótico Manuel Rodríguez) und Lautaro (Frente Juvenil Lautaro), die zu den Gefangenen zählen. Die Mehrheit von ihnen ist noch nicht in letzter Instanz verurteilt worden. Die FPMR und verschiedene Menschenrechtsorganisationen, wie die ODEP (Organización Defensa Popular) und die OPP (Organización De Presos Políticos) fordern die sofortige Schließung des Hochsicherheitstrakts. Damit stehen sie jedoch ziemlich allein da, denn von der Mehrheit der Bevölkerung und von den Regierungsparteien wird diese Maßnahme zur Terrorismusbekämpfung als notwendig angesehen.
Schon Wochen vor der Verlegung hieß es in den Zeitungen, die Angehörigen der Gefangenen hätten Angst, daß es bei der Verlegung Tote geben könnte: “…ehrlich gesagt, wir fürchten, daß die Gefängnistruppe der Polizei (Gendarmería) bei unseren Verwandten, die all ihren Widerstand aufbringen werden, um sich der Verlegung zu verweigern, nicht vor dem Töten zurückschrecken wird”.
“Operación Canario”
Über den Verlauf der Verlegung gibt es verschiedene Versionen (siehe Interview). Der Bericht der Gendarmería besagt, daß die Verlegung der Gefangenen der Ex-Penitenciaría gegen sieben Uhr morgens begann und von einer Spezialeinheit durchgeführt wurde. Es sei zu keinen nennenswerten Zwischenfällen gekommen, auch sei niemand verletzt worden. Anders hingegen im Gefängnis San Miguel: zwei Gefangene, Víctor Gonzáles und Mauricio Hernández, beides Mitglieder der FPMR, hätten gegen die Polizisten Feuer eröffnet. Demzufolge “…mußte so schnell wie möglich gehandelt werden, indem Tränengasbomben geworfen wurden und ebenfalls geschossen wurde”. Das Ergebnis der Verlegung: zwei durch Schüsse in den Oberschenkel verletzte Gefangene und vier leichtverletzte Polizisten. Zwei Tage später wurde in der Presse berichtet, daß diese Angaben unvollständig seien. Drei weitere Gefangene, Mitglieder der Gruppe Lautaro, hätten ebenfalls leichte Verletzungen erlitten. Claudio Martínez, Chef der Gendarmería, erklärte dazu, daß er diese drei Gefangenen nicht miteinbezogen habe, da sie nicht in ein Krankenhaus gebracht werden mußten. Die Operación Canario, wie die Verlegung offiziell genannt wurde, bezeichnete er “als erfolgreich abgeschlossen”.
Glückwünsche der Regierung
Nach einem Treffen mit dem damals noch amtierenden Innenminister Enrique Krauss verkündete Martínez, daß die Regierung ihn zu der Verlegung beglückwünscht habe. Martínez vertrat die Ansicht, daß die Reaktion der Polizisten im Gefängnis San Miguel unvermeidbar gewesen war, “da die Terroristen das Feuer eröffneten”. Mit Nachdruck erklärte er, daß der Tod einiger von ihnen verhindert wurde: Die Polizisten hätten genaue Anweisungen gehabt, im Fall des Gebrauchs der Schußwaffe nur auf Arme und Beine zu zielen.
Wie gerufen kam der Gendarmería dann noch der Fund von fünf Schußwaffen, die scheinbar vor der Verlegung ins Gefängnis San Miguel geschmuggelt worden waren. Das war immerhin ein Beweis dafür, daß die Besorgnis berechtigt war. Das Vorgehen der Polizei konnte nun öffentlich gerechtfertigt werden.
Lügen als Strategie?
Die Gendarmería verkündete außerdem – fünf Tage vor der Verlegung – die Entdekkung eines Tunnels in der Ex-Penitenciaría, der den Gefangenen dazu dienen sollte, sich noch rechtzeitig aus dem Staub zu machen. Dieser Tunnel weise eine Länge von 15 bis 20 Meter auf und sei 1,50 Meter tief. Die beiden Eingänge des Tunnels wurden in Zellen von Gefangenen der FPMR entdeckt. Im Tunnel seien Kleidung, Nahrungsmittel, Zangen, Drähte, Grubenlaternen und Ventilatoren gefunden worden. Die Gefangenen und ihre Angehörigen bezeichneten die Darstellungen der Polizei als Einschüchterungsversuche. Ziel sei, die Organisation und das gemeinschaftliche Leben der Gefangenen zu zerschlagen. Die Einführung von Isolationshaft ließe sich mit dieser Strategie gut begründen. Momentan teilen sich zwei Gefangene eine Zelle, da einige Räumlichkeiten noch fertiggestellt werden müssen.
Das Ziel: Gehirnwäsche
Sobald es möglich ist, kommen die Gefangenen in Isolationshaft. “Wir verlieren alle unsere Rechte, die wir uns in den letzten drei Jahren erkämpft haben: das ungestörte Beisammensein mit der Familie, das Recht, zu arbeiten, zu studieren, das Recht auf gesundheitliche Versorgung, das Recht, zweimal in der Woche Sport zu treiben und das Recht auf Intimkontakt”, erklärt der Gefangene Pablo Muñoz, Mitglied der FPMR. “Ihr eigentliches Ziel ist, unsere politischen Ideen und vor allem unsere Psyche zu zerstören. Wir sitzen hier in einem modernen Mausoleum, und niemand stört sich daran.”
Der Käfig der “Canarios”
Der Hochsicherheitstrakt besteht aus drei Stockwerken. Insgesamt gibt es 88 Einzelzellen, die auf das zweite und dritte Stockwerk verteilt wurden, damit von vornherein der Bau von Fluchtwegen ausgeschlossen ist. In jeder Zelle befindet sich ein Stuhl, ein Tisch, ein Betonpodest mit aufliegender Matratze als Bett und eine in den Boden gelassene Toilette. Aufgeschlossen wird morgens um 9 Uhr, eingeschlossen abends um 18 Uhr. Dazwischen besteht die Möglichkeit, im Hof spazierenzugehen oder fernzusehen. Achtzig ausgebildete Wärter bewachen den Innenbereich. Der Hochsicherheitstrakt ist in sechs Sicherheitszonen mit Kontrollstellen für BesucherInnen eingeteilt. Alle Räume, mit Ausnahme der Zellen, werden durch Videokameras überwacht.
Ex-Präsident Patricio Aylwin erklärte, daß das Hochsicherheitsgefängnis die Menschenrechte in keinster Weise verletzen würde. Vielmehr seien die Terroristen diejenigen, die gegen die Menschenrechte verstoßen, indem sie ihre politischen Ideen durch gewalttätige Aktionen durchsetzen wollen. Dafür gäbe es in einem demokratischen System, wie es seit 1990 in Chile herrsche, keine Rechtfertigung. Aber wie steht die Demokratie den Gefangenen gegenüber? Demokratie und Hochsicherheitstrakt – das paßt nicht zusammen, in Stammheim sowenig wie in Santiago.