Chile | Nummer 240 - Juni 1994

Das Mausoleum Chiles

Das Mausoleum Chiles

“…das Modernste in ganz Lateinamerika”, ob damit nun das Hyatt Hotel, das Einkaufszentrum Mall del Alto Las Condes oder das neue Hochsicherheits­gefängnis gemeint ist, passend ist dieses Attribut in jedem Fall. Die Modernität geht um in Chile und macht auch vor den Gefängnissen nicht halt. Der Bau des neuen Hochsicherheitsgefängnisses kostete die Regierung 2,8 Milliarden Pesos (11,2 Millionen DM). Diese Investition vervollständigt den Plan der Terrorismusbekämpfung, der Ende 1991 von der Aylwin-Regierung entwickelt worden war (siehe LN 236). Insassen dieses Gefängnisses sind Männer, die seit März 1990, also seit dem Ende der Militärdiktatur, aufgrund politischer Motivation Strafdelikte wie Ent­führung, Banküberfall oder Zerstörung öffentlichen Eigentums, begangen ha­ben. Sie selbst bezeichnen sich als Politische Gefangene, werden aber von der Regierung und vom Großteil der Bevölkerung als Terroristen angesehen.

Evangelia Wasdaris

Am 20. Februar begann in Chile mit der Einweihung des Hochsicherheits­ge­fäng­nisses eine neue Ära der Terroris­mus­be­kämpf­ung. Zunächst wurden 45 Ge­fangene verlegt, 37 davon aus der Ex-Penitenciaría (ehemaliges Zuchthaus) und neun aus dem Gefängnis San Miguel. Der Hochsicherheitstrakt liegt auf dem Ge­lände der Ex-Penitenciaría in San­tiago und wurde im Oktober 1993 fertiggestellt. Es sind vor allem Mitglieder der militanten Opposi­tionsgruppen FPMR (Frente Patriótico Manuel Rod­ríguez) und Lautaro (Frente Juvenil Lautaro), die zu den Ge­fangenen zählen. Die Mehrheit von ihnen ist noch nicht in letzter Instanz verurteilt worden. Die FPMR und verschiedene Menschen­rechts­organisationen, wie die ODEP (Organización Defensa Popular) und die OPP (Organización De Presos Políticos) fordern die sofortige Schließung des Hochsicherheitstrakts. Damit stehen sie jedoch ziemlich allein da, denn von der Mehrheit der Bevölkerung und von den Regierungsparteien wird diese Maßnahme zur Terrorismusbekämpfung als notwen­dig angesehen.
Schon Wochen vor der Verlegung hieß es in den Zeitungen, die Angehörigen der Gefangenen hätten Angst, daß es bei der Verlegung Tote geben könnte: “…ehrlich gesagt, wir fürchten, daß die Gefängnis­truppe der Polizei (Gendarmería) bei unse­ren Verwandten, die all ihren Widerstand aufbringen werden, um sich der Verle­gung zu verweigern, nicht vor dem Töten zurückschrecken wird”.

“Operación Canario”

Über den Verlauf der Verlegung gibt es verschiedene Versionen (siehe Interview). Der Bericht der Gendarmería besagt, daß die Verlegung der Gefangenen der Ex-Penitenciaría gegen sieben Uhr morgens begann und von einer Spezialeinheit durchgeführt wurde. Es sei zu keinen nen­nenswerten Zwischenfällen gekommen, auch sei niemand verletzt worden. Anders hingegen im Gefängnis San Miguel: zwei Gefangene, Víctor Gonzáles und Mauricio Hernández, beides Mitglieder der FPMR, hätten gegen die Polizisten Feuer eröffnet. Demzufolge “…mußte so schnell wie möglich gehandelt werden, indem Trä­nengasbomben geworfen wurden und ebenfalls geschossen wurde”. Das Ergeb­nis der Verlegung: zwei durch Schüsse in den Oberschenkel verletzte Gefangene und vier leichtverletzte Polizisten. Zwei Tage später wurde in der Presse berichtet, daß diese Angaben unvollständig seien. Drei weitere Gefangene, Mitglieder der Gruppe Lautaro, hätten ebenfalls leichte Verletzungen erlitten. Claudio Martínez, Chef der Gendarmería, erklärte dazu, daß er diese drei Gefangenen nicht miteinbe­zogen habe, da sie nicht in ein Kranken­haus gebracht werden mußten. Die Operación Canario, wie die Verlegung offiziell genannt wurde, bezeichnete er “als erfolgreich abgeschlossen”.

Glückwünsche der Regierung

Nach einem Treffen mit dem damals noch amtierenden Innenminister Enrique Krauss verkündete Martínez, daß die Re­gierung ihn zu der Verlegung beglück­wünscht habe. Martínez vertrat die An­sicht, daß die Reaktion der Polizisten im Gefängnis San Miguel unvermeidbar ge­wesen war, “da die Terroristen das Feuer eröffneten”. Mit Nachdruck erklärte er, daß der Tod einiger von ihnen verhindert wurde: Die Polizisten hätten genaue An­weisungen gehabt, im Fall des Gebrauchs der Schußwaffe nur auf Arme und Beine zu zielen.
Wie gerufen kam der Gendarmería dann noch der Fund von fünf Schußwaffen, die scheinbar vor der Verlegung ins Gefäng­nis San Miguel geschmuggelt worden wa­ren. Das war immerhin ein Beweis dafür, daß die Besorgnis berechtigt war. Das Vorgehen der Polizei konnte nun öffent­lich gerechtfertigt werden.

Lügen als Strategie?

Die Gendarmería verkündete außerdem – fünf Tage vor der Verlegung – die Entdek­kung eines Tunnels in der Ex-Penitencia­ría, der den Gefangenen dazu dienen sollte, sich noch rechtzeitig aus dem Staub zu machen. Dieser Tunnel weise eine Länge von 15 bis 20 Meter auf und sei 1,50 Meter tief. Die beiden Eingänge des Tunnels wurden in Zellen von Gefange­nen der FPMR entdeckt. Im Tunnel seien Kleidung, Nahrungsmittel, Zangen, Drähte, Grubenlaternen und Ventilatoren gefunden worden. Die Gefangenen und ihre Angehörigen bezeichneten die Dar­stellungen der Polizei als Einschüchte­rungsversuche. Ziel sei, die Organisation und das gemeinschaftliche Leben der Ge­fangenen zu zerschlagen. Die Einführung von Isolationshaft ließe sich mit dieser Strategie gut begründen. Momentan teilen sich zwei Gefangene eine Zelle, da einige Räumlichkeiten noch fertiggestellt werden müssen.

Das Ziel: Gehirnwäsche

Sobald es möglich ist, kommen die Ge­fangenen in Isolationshaft. “Wir verlieren alle unsere Rechte, die wir uns in den letzten drei Jahren erkämpft haben: das ungestörte Beisammensein mit der Fami­lie, das Recht, zu arbeiten, zu studieren, das Recht auf gesundheitliche Versor­gung, das Recht, zweimal in der Woche Sport zu treiben und das Recht auf Intim­kontakt”, erklärt der Gefangene Pablo Muñoz, Mitglied der FPMR. “Ihr eigentliches Ziel ist, unsere politischen Ideen und vor allem unsere Psyche zu zerstören. Wir sitzen hier in einem modernen Mausoleum, und niemand stört sich daran.”

Der Käfig der “Canarios”

Der Hochsicherheitstrakt besteht aus drei Stockwerken. Insgesamt gibt es 88 Ein­zelzellen, die auf das zweite und dritte Stockwerk verteilt wurden, damit von vornherein der Bau von Fluchtwegen aus­geschlossen ist. In jeder Zelle befindet sich ein Stuhl, ein Tisch, ein Betonpodest mit aufliegender Matratze als Bett und eine in den Boden gelassene Toilette. Aufgeschlossen wird morgens um 9 Uhr, eingeschlossen abends um 18 Uhr. Dazwi­schen besteht die Möglichkeit, im Hof spazierenzugehen oder fernzusehen. Acht­zig ausgebildete Wärter bewachen den In­nenbereich. Der Hochsicherheitstrakt ist in sechs Sicherheitszonen mit Kontroll­stellen für BesucherInnen eingeteilt. Alle Räume, mit Ausnahme der Zellen, werden durch Videokameras überwacht.
Ex-Präsident Patricio Aylwin erklärte, daß das Hochsicherheitsgefängnis die Men­schenrechte in keinster Weise verletzen würde. Vielmehr seien die Terroristen diejenigen, die gegen die Menschenrechte verstoßen, indem sie ihre politischen Ideen durch gewalttätige Ak­tionen durchsetzen wollen. Dafür gäbe es in einem demokratischen System, wie es seit 1990 in Chile herrsche, keine Recht­fertigung. Aber wie steht die Demokratie den Gefangenen gegenüber? Demokratie und Hochsicher­heitstrakt – das paßt nicht zusammen, in Stammheim sowenig wie in Santiago.

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