Chile | Nummer 375/376 - Sept./Okt. 2005

„Das Monster ist schutzlos, es ist nackt“

Interview mit dem spanischen Menschenrechtsanwalt Joan Garcés

Im Rahmen der Veranstaltung „Der Fall Farías-Allende“ im Ibero-Amerikanischen Institut am 16. Juli 2005 reiste der spanische Anwalt, Joan Garcés, nach Berlin. Die LN sprachen mit ihm über seine politische Tätigkeit als Berater des chilenischen Präsidenten Salvador Allende und seinen juristischen Kampf in der Anklage gegen Pinochet. Für seine Bemühungen, den Ex-Diktator aus Chile vor Gericht zu bringen, erhielt Garcés 1999 den alternativen Nobelpreis. Derzeit lehrt er an der Pariser Sorbonne und ist Präsident der Stiftung Salvador Allende mit Sitz in Madrid.

Rebecca Achenberg, Simone Schnabel

In Deutschland wurde die jüngste Publikation von Victor Farías Salvador Allende. Antisemitismo y eutanasia in den Medien kontrovers diskutiert. Wie reagierte die spanische Öffentlichkeit auf das Buch?

In Spanien wurde Farías’ Buch bei Teilen der extremen Rechten wohlwollend aufgenommen. Die großen spanischen Verlage weigerten sich, das Buch aufgrund seines verleumdenden Charakters zu publizieren. Von den großen spanischen Massenmedien berichtete nur die Tageszeitung „El Mundo“ darüber und widmete Herrn Farías eine Seite.

Und in Chile?

In Chile wurde das Buch ebenfalls von den faschistischen Medien der Rechten positiv aufgenommen. Es handelt sich um einen politischen Angriff, der dazu dienen soll, Allende in Verruf zu bringen. Das ist nichts Neues, schließlich war Allende sein Leben lang Kampagnen dieser Art ausgesetzt. Unsere erste Reaktion auf Farías’ Publikation war es, die Doktorarbeit Allendes jeder Person, die sie lesen möchte, zugänglich zu machen. Die Stiftung Salvador Allende hat sie deshalb als Buch und im Internet veröffentlicht.

Im Jahre 1968 reisten Sie nach Chile, um als persönlicher Berater Salvador Allendes tätig zu werden. Können Sie diese Zeit in knappen Worten und aus einer persönlichen Perspektive nachzeichnen?

Mein Interesse für Chile war intellektueller Natur. Ich promovierte zwischen 1966 und 1970 an der Sorbonne über die Revolution der politischen und ökonomischen Geschichte Chiles. Dabei kam ich zu der Schlussfolgerung, dass in den folgenden Wahlen 1970 die linke Unidad Popular mit Allende gewinnen könnte. Salvador Allende, mit dem ich seit 1968 befreundet war, lud mich ein, in der Praxis dazu beizutragen und ihn während des Wahlkampfs zu unterstützen. Nach dem Erfolg meiner Arbeit bot mir der Präsident an, weiterhin als persönlicher Berater in seiner Regierung mitzuarbeiten. Mein intellektueller Ansporn war dabei, mit der Etablierung demokratischer Freiheit wie auch sozialer und ökonomischer Demokratie zum Aufbau des Sozialismus beizutragen – das war Allendes Projekt. Es war intellektuell sehr anregend, eine beeindruckende soziale Mobilisierung mitzuerleben und gleichzeitig Zeuge der sozialen und ökonomischen Destabilisierung zu sein, die von der chilenischen Rechten und der Regierung Nixon und Kissinger initiiert wurde, um Bedingungen für einen Militärputsch zu schaffen.

Sie haben sich immer sehr dafür eingesetzt, dass Pinochet gerichtlich belangt wird. Wann begannen Sie, ihn anzuklagen und welche Rolle spielten dabei ihre persönlichen Erfahrungen unter Allende?

Im Jahr 1995 publizierte ich das Buch „Orlando Letelier. Testimonio de Vindicación“ im Verlagshaus Siglo XXI. Während der Präsentation in Washington erklärte ich, dass Pinochet wegen seiner Verbrechen verurteilt werden würde. Die JournalistInnen sagten mir: „Es ist sehr interessant, was Sie behaupten, aber wir glauben Ihnen nicht. Wir sind sehr skeptisch, dass Pinochet jemals verurteilt wird.“ Und ich erwiderte ihnen: „Es wird zu einer Verurteilung kommen, da Pinochet ein Monster des Kalten Krieges ist. Der Kalte Krieg diente als Vorwand und bot den am Verbrechen beteiligten Staaten Schutz. Seit fünf Jahren ist der Kalte Krieg nun zu Ende. Das Monster ist schutzlos, es ist nackt. Und somit ist das der Moment, in dem die Gesetze greifen.“
Tatsächlich habe ich im Namen der spanischen Stiftung Salvador Allende genau ein Jahr später, im Juli 1996, Pinochet terroristischer Straftaten, des Genozids und der systematischen Folter angeklagt. Dies gab Anlass zu einem Festnahmegesuch, das ich im Oktober 1996 vor der spanischen Justiz formulierte, mit dem Ziel der Auslieferung Pinochets an Spanien. Die britischen Gerichte bewilligten die Auslieferung am 9. Oktober 1999. Jedoch übten die Regierungen von Eduardo Frei und Ricardo Lagos in Chile und die konservative Regierung von José Maria Aznar in Spanien Druck auf die Regierung Toni Blairs aus, ein unabhängiges Ärzteteam heranzuziehen, das die Verhandlungsunfähigkeit Pinochets attestieren solle. So wurde er am 2. März 2000 aus der Haft entlassen.
Dank der spanischen Stiftung wurde im Oktober 1998 die Beschlagnahmung des Vermögens von Pinochet beantragt, um auf die Entschädigungsansprüche der Opfer zu reagieren. Von da an begann er, sein Vermögen zu verstecken, um eine Beschlagnahmung zu verhindern. Nachdem im Jahr 2004 eine US-amerikanische Untersuchungskommission den Beweis für die Vermögensverschiebung gefunden hatte, reichte die Stiftung Salvador Allende bei der spanischen Justiz Klage gegen den Hauptverantwortlichen Pinochet und seine Komplizen, insbesondere die Riggs Bank in Washington, ein. Mit Erfolg, da nun seit Februar 2005 die Riggs Bank und ihre Besitzer über unsere Stiftung den Opfern Entschädigungen zahlen. Momentan erhält die Stiftung Anfragen der Opfer, die rechtmäßigen Anspruch auf die Entschädigungszahlungen haben. Alle Informationen zu diesem Hilfsfonds sind in der digitalisierten Zeitung „El Clarín“ veröffentlicht.

Sie versuchten seit 1995/1996 eine Festnahme Pinochets zu erreichen. Wer unterstützte Sie dabei?

Die Unterstützung kam vor allem von den chilenischen Opfern. Diese unterstützten intensiv den Ablauf des Prozesses in Spanien, weil 1996/97 die Gerichte in Chile für derartige Fälle immer noch geschlossen waren.

Wie schätzen Sie die neuen Verfahren gegen Pinochet ein: Wird er für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt werden oder beschränken sich die Prozesse auf den Fall Riggs?

Pinochet wurde im Jahre 2000 in Spanien nicht verurteilt, da das politische Establishment Chiles das nicht wollte. Dieses Establishment übt bis heute Druck auf die chilenischen Gerichte aus, damit es zu keiner Verurteilung kommt. Wir werden sehen, wie lange das noch so weiter gehen kann. In Spanien sind die Gerichte durch das Handeln der Stiftung Salvador Allende aktiv, und der internationale Haftbefehl ist rechtkräftig. Es läuft nun ein neuer Auslieferungsantrag an Spanien; gleichzeitig ist die spanische Stiftung vor dem chilenischen Gericht als Ankläger im Fall der Vermögensverschiebung und der Riggskonten vertreten und die Anklage diente als Anlass für die kürzlich verabschiedete Resolution des Berufungsgerichts in Santiago. Auf diese Weise wird die polizeiliche Kooperation zwischen Spanien und Chile zum Ausdruck gebracht, die dazu dienen soll, die Prozesse voranzutreiben.

Glauben Sie, dass es wirklich zu einer Verurteilung kommt?

Unsere Pflicht ist es, die Prozesse voranzutreiben. Wir werden sehen, ob die Gerichte in Chile die Möglichkeit und den Willen zu einer Verurteilung haben. Diese Frage ist und bleibt zunächst offen.

Wie reagieren die chilenische Gesellschaft und die Medien? Sind sie interessiert daran, die Vergangenheit „aufzuarbeiten“?

Die Massenmedien in Chile sind von den Unternehmen dominiert, die den Militärputsch, die Diktatur und die Verbrechen der Diktatur unterstützt haben. Nun sprechen sie sich für die Amnestie der an den Verbrechen Beteiligten aus.
Die spanische Stiftung Salvador Allende setzt sich deshalb dafür ein, dass die größte demokratische Zeitung Chiles, „El Clarín“, die am 11. September 1973 beschlagnahmt wurde, erneut als Printmedium erscheint. Wir kämpfen gerade vor einem internationalen Schiedsgericht mit Sitz in Washington, damit erstens der chilenische Staat Schadensersatzzahlungen leistet, zweitens die chilenische Gesellschaft wieder Pluralismus in den Nachrichten genießt und drittens die Stimme des Großteils der Chilenen, von Mitte bis Links, die momentan kein bedeutendes Sprachrohr inne hat, eines zurück gewinnt.

Was halten Sie von den Entwicklungen in Argentinien, wo der Oberste Gerichtshof die Amnestiegesetze aufgehoben hat? Was bedeutet dieser Beschluss für die Entwicklungen in Chile?

Die Resolution des argentinischen Gerichts geht zurück auf ein Votum des argentinischen Parlaments und dieses wiederum auf die Bewusstseinswerdung der gesamten argentinischen Gesellschaft darüber, dass die Verbrechen der Militärdiktatur nicht straffrei sein dürfen. Das ist eine der Auswirkungen des Pinochet-Prozesses in Spanien, die konform mit dem internationalen Strafrecht ist. Wir hoffen, dass sie auch eine positive Rückwirkung auf andere Länder, nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in Europa und in der ganzen Welt hat.

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