Literatur | Nummer 418 - April 2009

Das neue Kultbuch über Rio

Aslı Erdogans anarchischer Vagabunden-Roman handelt vom Scheitern einer jungen Frau in der Gewaltmetropole Rio de Janeiro

Saskia Vogel

In dem Roman Die Stadt mit der roten Pelerine vermittelt Aslı Erdogan eindringlich die berüchtigte Oberflächlichkeit Rio de Janeiros, an der so mancher Ausländer Schiffbruch erlitten hat beim Versuch, in der Hochglanzmetropole emotionalen Halt zu finden. In der 29-jährigen Protagonistin Özgür werden sich all diejenigen Leser und vor allem Leserinnen wiederfinden, die es selber einst gewagt haben, „nur mit einem Koffer in der Hand“ nach Rio de Janeiro zu gehen, und wie Özgür am „schönsten Ort der Welt“ gescheitert sind.
Schon bald empfindet Özgür für die unzähligen Einladungen zu einem Glas Bier (chopinho) nur noch Brechreiz, denn Rio, ist ihre bittere Erfahrung, funktioniert unverbindlich. So taucht die Person, mit der sie sich noch vor einer Stunde telefonisch verabredet hatte, die ganze Nacht nicht auf und die unabhängige Özgür wird zunehmend einsam, hat einen schlecht bezahlten Job und verdöst die Zeit kettenrauchend in ihrer schäbigen Wohnung, in der sie mehrmals einen Nervenzusammenbruch erleidet.
Einen wirklichen Plot hat der Roman mit dem anarchisch-freien Vagabunden-Feeling nicht. Warum auch? Die lethargische Tropenhitze macht Aktivitäten fast unmöglich. Özgür trinkt in Spelunken, schlurft mit kaputten Schuhen ins Bohèmeviertel Santa Teresa und wird Opfer eines Überfalls. „Dann legte sie sich auf die Couch. Özgür […] starrte die Wand an, dabei schaffte sie es, an nichts, rein gar nichts von Bedeutung zu denken.“ Um sich nicht ganz zu verlieren, schreibt sie in atemlos-schnellem Stil das Buch Die Stadt mit der roten Pelerine. Der eigentliche Roman existiert also auf einer zweiten Erzählebene, kursiv in den Fließtext eingeschoben. Es sind die Erlebnisse, die Özgür um ihre Alter Ego-Protagonistin „Ö.“ konstruiert und in ein grünes Heft kritzelt. Der Roman ist eine Abrechnung mit dem Gewaltmoloch Rio, das ein „leichtes, schnell vergängliches“ Leben bietet „und an jeder Ecke ein[en] Tod“. Vehement klagt Özgür die Gleichgültigkeit an, mit der die Cariocas, wie die Einwohner Rios bezeichnet werden, Obdachlose mitten auf der Straße siechen lassen. Am Ende stirbt ihr zweites Ich Ö. durch eine verirrte Kugel auf Rios Straßen.
Die autobiografische Verknüpfung zwischen Özgür/Ö. und Aslı Erdogan (geboren 1967 in Istanbul) ist unverkennbar. Exemplarisch steht Erdogan für eine neue Generation unabhängiger türkischer Frauen, so Karin Schweißgut im Nachwort. Erdogan promovierte Mitte der 1990er Jahre als Physikerin an der Katholischen Universität Rios. Die Stadt mit der roten Pelerine entstand 1998 und ist der erste türkische Roman, der in Lateinamerika spielt. Angeblich machte die Autorin sich vor Ort keine Notizen, sondern schrieb das Buch später aus der Distanz. Am Ende gibt es für die Protagonistin „nichts mehr, was sie der Welt noch hätte sagen wollen“. Und doch hat sie die LeserInnen längst in ihren Bann gezogen.Verstimmen wird den Brasilienkenner lediglich die mitunter recht klischeehafte Charakterisierung Brasiliens als „neuer Welt“ und „halbwilden Dschungel“. Auch die Typisierung der Afrobrasilianer als „von den blutigen Spuren der Sklaverei“ gekennzeichnete Tänzer mit „afrikanischem Eros“ zeugen von wenig intimen Kenntnissen dieser Gesellschaft. Freuen wird die LeserInnen hingegen, dass Die Stadt mit der roten Pelerine zehn Jahre nach ihrem Erscheinen endlich auf Deutsch vorliegt. Denn der Roman hat das Potential, zum Kultbuch zu avancieren. Für alle Bohemiens und Rebellen, für alle Studierenden und Junggebliebenen, die in Rio geliebt und gelitten haben und bei Erdogan das ausgedrückt finden, was sie erlebt haben, nämlich die intensivste Zeit ihres Lebens.

// Saskia Vogel

Aslı Erdogan // Die Stadt mit der roten Pelerine // Aus dem Türkischen von Angelika Gillitz-Acar und Angelika Hoch // Unionsverlag // Zürich 2008 // 218 Seiten // 19,90 Euro

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