Nicaragua | Nummer 423/424 - Sept./Okt. 2009

Das Ringen um die Basis

Stadtteilbewegung in Nicaragua: Von den Komitees zur Verteidigung des Sandinismus zu den Komitees zur Kommunalen Entwicklung

Kommunale Bewegungen sind in Nicaragua mit der sandinistischen Revolution entstanden. Nach dem Muster der kubanischen Komitees zur Verteidigung der Revolution (CDR) organisierten sich in den 1980er Jahren in Nicaragua die so genannten Komitees zur Verteidigung des Sandinismus (Comités de Defensa Sandinista, CDS) als Stadtteilkomitees. Diese verteilten Subventionsgutscheine, machten Nachtwachen und unterstützten Gesundheitskampagnen oder Einschreibungen zum Militärdienst.

Klaus Heß

Wie alle anderen Massenorganisationen standen sie zwischen Basis und Macht, waren zugleich Parteiorganisationen der Regierungspartei FSLN und Basisbewegungen. Bis 1984 hatten sie gar Sitz und Stimme im Parlament. Oft besetzte die FSLN führende Stellen in den CDS mit eigenen Kadern, welche im Konfliktfall die Partei- und Staatslinie vertraten. Die CDS erschienen somit wie auch andere FSLN-Massenorganisationen als staatstragende Vereinigungen, als Transmissionsriemen staatlicher Politik in die Bevölkerung, was die eigenständige Organisation von Basisinteressen hemmte.
Der Loslösungsprozess von der Partei vollzog sich ab 1988, als Omar Cabezas, damals Mitarbeiter des Innenministeriums, einen Rückbezug der CDS auf die originären Interessen im Stadtteil und die unmittelbare Wahl aller Funktionäre durch die zu vertretenden BürgerInnen einleitete. Mit dem so genannten Kommunalgesetz setzten die SandinistInnen am Ende ihrer Regierungszeit eine Gemeindeautonomie in Kraft: Erstmals seit einer über 50-jährigen Suspendierung konnten wieder BürgermeisterIn und Kommunalparlamente gewählt, eine starke Kommunalverwaltung aufgebaut und Haushaltsmittel eingerichtet werden, um zusammen mit den BürgerInnen eigene Entwicklungsstrategien umzusetzen.
Nach den ersten durchgeführten Gemeindewahlen wurde das Gesetz gemeinsam von der FSLN und der Liberalen Partei 1997 noch einmal reformiert und so genannte Komitees zur Kommunalen Entwicklung (CDM) eingeführt. In weiteren Gesetzen wurden 2001 und 2003 den Kommunen dauerhaft zehn Prozent des Staatshaushaltes zugewiesen und das Verfahren beschrieben, wie der Haushalt aufgestellt, diskutiert und entschieden werden soll.
Neben der Stärkung der kommunalen Ebene ging es dabei aber auch immer um ein neues Demokratieverständnis, das weit über die parlamentarische Demokratie hinausging. So wurden mit dem Gesetz zur zivilgesellschaftlichen Partizipation die CDM als höchste Instanz für den Dialog zwischen Kommunalregierung und Zivilgesellschaft bekräftigt und geregelt. Danach müssen spätestens zwischen Oktober und Dezember im ganzen Land die Kommunalhaushalte mit der Bevölkerung beraten werden. Hierzu können alle öffentlichen Medien und Foren genutzt werden; mindestens aber muss das CDM und eine Volksbefragung einberufen werden. Trotz der gesetzlichen Verpflichtung gibt es heute erst in 34 Prozent der Kommunen solche Komitees zur Kommunalentwicklung mit Haushaltskommissionen. Immerhin gibt es aber in 81 Prozent der Kommunen offene partizipative Bürgerkonsultationen.
Von der Form her sind die Komitees Zwitterstrukturen: Als Basisorganisationen werden ihre VertreterInnen auf Stadtteilversammlungen gewählt, gleichzeitig bilden sie aber auch Nichtregierungsorganisationen mit eigener Programmatik. Aus jedem Stadtteil wird ein zweiköpfiger Kommunaler Volksrat gewählt, der wiederum in der Gemeinde, im Landkreis und auf nationaler Ebene Dachstrukturen wählt. Die Kommunale Bewegung in Matagalpa sieht ihre Aufgabe beispielsweise in der Entwicklung einer Gemeindewirtschaft, sie will kommunale Gärten neben dem Schulgebäude anlegen, um die Ernährungssicherheit und gleichzeitig die kommunale Selbstorganisation zu verbessern. Andere Ziele sind die Herausbildung von GesundheitsbrigadistInnen oder die Erhaltung der lokalen Kultur sowie die Durchführung politischer Kampagnen zum Beispiel für eine würdige Behausung und eine angemessene Stromversorgung oder gegen die Wasserprivatisierung.
ADIC, eine Vereinigung zur Förderung der integrativen Gemeindeentwicklung in Matagalpa und Umgebung, hat die Selbstorganisation der Bevölkerung, Fortbildung, Weiterbildung und Verbesserung der Infrastruktur zum Ziel. Neben praktischer Umweltpolitik wie Wiederaufforstung und Latrinenbau gibt es Gruppen für Reflexion und Sensibilisierung, in denen über Selbstbestimmung und Partizipation gesprochen wird. Es werden auch Seminare für Männer durchgeführt, die Geschlechtergerechtigkeit und Maskulinität genauso wie innerfamiliäre Gewalt thematisieren. ADIC arbeitet im CDM mit anderen Organisationen und Netzwerken erfolgreich zusammen.
Nachdem Daniel Ortega 2006 erneut zum Präsidenten gewählt wurde, führte er 2007 per Dekret die so genannten Räte der Bürgermacht (Consejo de Poder Ciudadano, CPC) ein. Diese werden von der FSLN eingesetzt und vom Staat bezahlt. Die kommunalen Basisbewegungen sind seitdem stark verunsichert, da sie in direkter Konkurrenz zu den existierenden, parteiunabhängigen kommunalen Strukturen stehen und die Autonomie der Gemeinden unterminieren. KritikerInnen befürchten, dass das kommunale (Partei übergreifende) Denken geschwächt werden wird, was Auswirkungen auf vielfältige soziale, wirtschaftliche und politische Beziehungen haben würde. So werden die CPC mit einer wachsenden Menge von Verteilungsaufgaben betraut und bilden den Kern einer neuen Klientelwirtschaft. Ortega hat die sandinistischen BürgermeisterInnen darauf verpflichtet, dass sie sich den Entscheidungen der CPC „als organisiertes Volk“ beugen. Als erste Antwort auf die breite Kritik wurden die CPC im Juli 2009 in Kabinette der Bürgermacht umbenannt. Ob es sich dabei aber um einen wirklichen Politikwechsel hin zu breiteren Strukturen handelt oder nur eine Namensänderung ist, bleibt jedoch vorerst offen. Die schon existierenden kommunalen Strukturen werden auf alle Fälle weiterhin ausgehungert.
Trotzdem sind es heute kommunale Bewegungen wie ADIC, die CDMs und deren Dachorganisation Nicaraguanisches Netzwerk für Demokratie und lokale Entwicklung, die für eine breit angelegte Partizipation der Zivilgesellschaft eintreten. Angesichts der Polarisierung im Land sowie der weit verbreiteten Traumatisierung durch Krieg und politische Zuspitzungen der 1980er Jahre ist das nötiger denn je.

Douglas Antonio Morán Mejia, 29 Jahre, ist lokaler Koordinator des Movimiento Comunal Nicaragüense im Landkreis San Isidro.

Douglas beschreibt den Zweck seiner Arbeit als Förderung der Selbstorganisation der Landbevölkerung zur Verteidigung ihrer Rechte und zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Die Notwendigkeit dafür kennt er aus eigener Erfahrung: „Ich bin selbst hier aufgewachsen und weiß, dass wir durch gegenseitige Hilfe und die sozialen Kämpfe, die wir als Organisation geführt haben, viel erreichen können.“ Douglas erzählt, wie er von klein auf auf dem Land seiner Familie gearbeitet habe, später dann bei einem landwirtschaftlichen Großbetrieb. Dort habe er die Ungerechtigkeit erlebt, mit der die ArbeiterInnen behandelt wurden. Andererseits sei er dort auch zum ersten Mal mit den sozialen Kämpfen der LandarbeiterInnen in Kontakt gekommen, an denen er sich beteiligt habe, auch im Interesse der eigenen Familie: „In den 90er Jahren war es ja so, dass wir Bauern Objekte waren, nicht Subjekte, wir hatten keinen Zugang zu kostenfreier Bildung und Gesundheit.“ Die erste Organisation, bei der Douglas selbst Mitglied war, war die Behindertenvereinigung Los Pipitos, mit der sie 2002 in San Isidro eine Ortsgruppe gründeten. „Die wichtigste Erfahrung dort war für mich der enge und respektvolle Kontakt mit den Familien der Behinderten. Von dem, was ich dort gelernt habe, profitiere ich heute sehr in meiner Arbeit mit den Bauern“, erzählt er.
Zur gleichen Zeit wurde in San Isidro damals eine Ortsgruppe des Movimiento Comunal gegründet, sein Vater sowie sein Onkel seien mit dabei gewesen. So habe er die Aktivitäten dieser Organisation in Matagalpa kennen gelernt, deren ganze Idee und Struktur ihm sehr gefallen hätten. Douglas erinnert sich gut, wie ihm damals seine heutige Position übertragen wurde: „Als unsere Ortsgruppe bereits einigermaßen gut lief, mussten sich einige aus der bisherigen Leitung zurückziehen und ich wurde gefragt, ob ich mir zutrauen würde, die Funktion des Koordinators für unseren Landkreis zu übernehmen. Ich war damals erst 23, aber heute bin ich froh, dass ich ja gesagt habe.“
// Andrés Schmidt

Roberto Enrique Rodríguez, 34 Jahre, ist Koordinator des Rats des Bürgermacht (CPC) im Stadtteil 5. Juni in Matagalpa, nördlich der Hauptstadt Managua.

„In den 1980er Jahren normalisierte sich das Leben nach dem Krieg, den uns der US-Imperialismus aufgezwungen hatte. In den 1990er Jahren übertrug der Comandante die Regierung an Dona Violeta, Dr. Alemán und Enrique Bolanos, da war es sehr hart für uns, die sagten, sie seien der Wechsel.“
Roberto Enrique Rodríguez sagt von sich selbst, immer das gemacht zu haben, was die Partei FSLN wollte. Er war in der sandinistischen Jugend und auch direkt mit Aufgaben der FSLN betraut. Angesichts seiner schwierigen wirtschaftlichen Situation brach er eine Ausbildung zum Elektrotechniker ab und schlug sich von da an mit Gelegenheitsarbeiten durch. „Manchmal musste ich für 14 Tage raus aufs Land, da konnte ich mich nicht weiter um mein Studium kümmern. Gerne hätte ich eine feste Arbeit gehabt, aber es gab keine Gelegenheit“, erzählt er. „Mit der neuen Regierung ist es in den letzten zwei Jahren bergauf gegangen. Der Comandante [Daniel Ortega; Anm. d. Red.] ist auf Seiten der Armen, hat internationale Verhandlungen begonnen und bringt Sozialprogramme für die Bevölkerung auf den Weg.“
Heute ist Roberto Enrique Rodríguez Leiter des Rates der Bürgermacht (CPC) im Stadtteil 5. Juni
in Matagalpa. „Wir arbeiten Hand in Hand mit dem Bürgermeister, um einige Probleme der einfachen Leute zu lösen“, berichtet er über seine Arbeit in der kommunalen Bewegung. Der CPC besteht aus 15 Mitgliedern. Jeder hat seine Funktion, wie die Koordination der Bereiche Gesundheit, Erziehung, Umwelt, Sport, Frauen und andere, aber es wird zusammen gearbeitet. „Wenn der Verantwortliche für Gesundheit ein Problem hat, arbeiten wir alle an der Lösung zusammen“, so Rodríguez.
Der Stadtteil 5. Juni hat etwa 4.000 EinwohnerInnen, die Versammlungen sind grundsätzlich offen für alle. Aber viele hätten aufgrund ihres Berufes oder dem Studium keine Zeit zu kommen „oder sie wollen einfach nicht“. So kommen abhängig von der Situation und dem jeweiligen Thema der Sitzung circa 50 bis 80 Leute. Das wichtigste Thema für viele sei die BürgerInnen-Sicherheit, wegen der hohen Kriminalität. Weitere wichtige Themen sind Erziehung und Sport. „Gerade der Sport wird jetzt vom Comandante gefördert, weil viele Jugendliche Drogen nehmen oder in die Kriminalität abrutschen. Aber bis jetzt haben wir keine eigenen Fonds. Als die CPCs im Parlament diskutiert wurden, haben sich die Rechten dagegen ausgesprochen, so dass wir jetzt nur von unseren Händen leben müssen.“
Der Bürgermeister ruft regelmäßig die verantwortlichen KoordinatorInnen aller Stadtteile zu einer Versammlung zusammen, um bestimmte Probleme, beispielsweise die Umwelt oder Ausbildungsfragen betreffend, zu diskutieren. Genauso funktioniert es auf staatlicher Ebene, da ruft dann zum Beispiel das Umweltministerium oder das Erziehungsministerium die jeweiligen KoordinatorInnen zu sich. Auf der anderen Seite müssen sich die KoordinatorInnen der Stadtteile mit den Leuten im Barrio zusammensetzen, um eine Petition zu formulieren oder Probleme im Barrio öffentlich zu diskutieren. Rodríguez betont: „Die CPCs sind von Parteien unabhängig, die Mitglieder sind nicht nur von der Regierungspartei, sondern es gibt auch Koordinatoren von anderen Parteien.“
Sein Wunsch für die Zukunft ist, dass mit den CPCs einige Probleme des Barrios gelöst werden können. „Unser größter Erfolg ist, dass die Leute aus dem Stadtteil an den Versammlungen teilnehmen, dass sie zu den Veranstaltungen kommen und ihre Barrios repräsentieren“, zeigt sich Roberto Enrique Rodríguez glücklich. „Jetzt haben wir einen Comandante, der seine Versprechen hält. In den letzten 16 Jahren war das nicht so.“
// Klaus Heß

Silvio Prado, 53, ist Politikwissenschaftler

Silvio Prado befand sich als Guerillero der FSLN am 19. Juli 1979 im westlichen Teil von Nicaraguas Hauptstadt Managua. „Der Morgen war grausam, da suchten wir Leute, die die Nationalgarde vom Somoza massakriert hatte.“ erzählt er über den Tag, an dem die sandinistische Befreiungsfront FSLN über den Diktator Somoza siegte. „Die Leute wussten, dass wir dort eine FSLN-Zelle hatten und so riefen sie uns. Ich war Teil eines Guerillatrupps in Managua, der sich nicht nach Masaya zurückgezogen hatte.“
In den Jahren nach der Revolution war Prado in der Organisation und Ausbildung der Komitees der Verteidigung des Sandinismus (CDS) tätig. Später kam er als Professor zur Lehrergewerkschaft ANDEN. Anschließend war er in der Abteilung für internationale Beziehungen der FSLN Europadirektor, später Afrikadirektor. „Nach 1990 wollte ich dann wieder in die Stadtteilarbeit“, berichtet Prado weiter. Er war bis zum 1. Kongress der FSLN in den Stadtteilen San Judas und Altagracia von Managua aktiv. „In meinem Stadtteil gab es sehr kritische Debatten, bis die Frente die Debatten 1993 beendete, sich für eine Person entschied [Daniel Ortega; Anm. d. Red.] und sich gegen uns wandte. Weil ich kein caudillista sein wollte, bin ich gegangen.“
Seine Kritik richtet sich vor allem dagegen, dass die piñata [bei der der so genannten piñata sicherten sich 1990 sandinistische Kader kurz vor der Regierungsübergabe zahlreiche Eigentumstitel und Staatsgüter; Anm. d. Red.] nicht aufgearbeitet wurde, die Verantwortlichen nie zur Rechenschaft gezogen wurden und dass die Führung der FSLN ihre Verantwortung für die Wahlniederlage nicht übernahm. Prado stellt fest: „Nach der Niederlage
hätte die Frente volksnaher und regierungskritischer werden und mehr öffentliche Debatten durchführen sollen.“ „Sie hätte eine Strategie der demokratischen Opposition entwickeln müssen, was sie aber nicht tat“, so Prado weiter.
Prado entschloss sich dann, Soziologie zu studieren und schuf den Verein für Kommunale Entwicklung. 1993 ging er nach Boaco, wo eine sehr konservative Bevölkerung lebt, und engagierte sich dort für Bürgerbeteiligung, Dezentralisierung und lokale Entwicklung. Danach gründete er das Nicaraguanische Netzwerk für Demokratie und lokale Entwicklung mit, das 53 Organisationen in wichtigen Gemeinden umfaßt.
2003 promovierte Silvio Prado in Spanien in Politische Wissenschaften. 2006 kam er zurück nach Nicaragua und gründete das Zentrum für politische Studien und Analysen CEAP. Er sagt: „In den kommunalen Bewegungen gibt es viele politische Ausdrucksweisen. Die FSLN hat versucht, diese zu kontrollieren, aber vergeblich. Ein Großteil der Führungspersonen ist sandinistisch, ein anderer Teil der Bewegung ist in den letzten Jahren durch die Begleitung unseres Verein erst entstanden.“ Während die FSLN 16 Jahre lang in der Opposition war, seien die meisten Schulungen von Nichtregierungsorganisation (NRO) veranstaltet worden. „Und die FSLN hat sich einen Dreck geschert um diese Ausbildung.“
Silvio Prado bezeichnet es als seinen größten persönlichen Erfolg, dass er sich selber „recycelt” habe und nicht stehen geblieben sei: „Ab 1990 habe ich meine Kenntnisse weiterentwickelt, meine kritischen und analytischen Fähigkeiten verbessert, um zu verstehen, was in diesem Land passiert“
Und sein größter Misserfolg? Kein Millionär geworden zu sein. Außerdem bedauert er, nicht mehr zur notwendigen Veränderung der FSLN beigetragen zu haben. Wenn er die Mittel hätte, würde er gerne ein sozialpolitisches Forschungszentrum gründen, das die kritischen Kapazitäten in der Bevölkerung stärkt, damit Nicaragua von kritischen und selbstbewussten BürgerInnen bewohnt wird, die sich von keiner/m PolitikerIn täuschen lassen. „Ich möchte, dass mein Land in Würde lebt, mit sozialem Wohlstand und in Freiheit.“
// Klaus Heß

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