Haiti | Nummer 360 - Juni 2004

Das Spiel ist eröffnet

Wer tritt das politische Erbe Jean-Bertran Aristides an?

Nach dem Zusammenbruch der haitianischen Regierung, bemühen sich die verschiedenen Akteure um möglichst viel Einfluss auf die Zukunft des Landes. Die Situation auf den Straßen bleibt derweil – trotz internationaler Truppen – gefährlich.

Hans-Ulrich Dillmann

Haiti ist aus den Schlagzeilen. Staatspräsident Jean-Bertrand Aristide ist, mit US-amerikanischer Nachhilfe, zum zweiten Mal vorzeitig aus dem Präsidentenamt geschieden und aus der ersten freien schwarzen Republik vertrieben worden. Er lebt in seinem Südafrikanischen Exil. Niemand in der bundesdeutschen Presse interessiert sich mehr für die Details der Nach-Aristide-Ära. Aber die Situation im „Land der Berge“ hat sich nicht beruhigt – im Gegenteil. Ab 1. Juni soll eine UN-Blauhelm-Truppe von 6.700 SoldatInnen und 1.600 Polizist-Innen die Sicherheit in der acht Millionen Einwohner zählenden „Repiblik Dayiti“ garantieren. Bisher hat die multinationale Einsatztruppe aus US-Marines, französischen SoldatInnen, KanadierInnen und ChilenInnen dies nur unzureichend geschafft. Sie zeigen nur sporadisch und in sicheren Regionen Präsenz.
Was Haiti derzeit durchlebt, hat im politischen Leben Frankreichs längst einen konkreten Namen: „Kohabitation“ – die Zusammenarbeit unterschiedlicher weltanschaulicher Richtungen. Während der Präsident des Landes von der einen Partei ist, stellt der politische Gegner den Regierungschef und die Minister. In der Bundesrepublik Deutschland hat sich dafür der Begriff große Koalition herausgebildet. Die „miteinander lebenden“ politischen Protagonisten lassen sich in Haiti schnell ausmachen und benennen.
Da ist einmal der Interimspräsident Bonifaz Alexandre. Der frühere juristische Berater der französischen Botschaft und Präsident des Obersten Gerichtshofes hat seine Schuldigkeit getan, indem er den schriftlichen Hilferuf unterzeichnete, der die ausländische Intervention legitimierte. Seit seiner spektakulären Amtsübernahme am letzten Februartag hat die Weltöffentlichkeit von diesem eher als profillos eingeschätzten Präsidenten nichts mehr gehört. Der von einem „Rat der Weisen“ berufene und, wie es in Port-au-Prince die Spatzen vom Dach pfeifen, von den USA ausgewählte Übergangspremierminister Gérard Latortue qualifiziert sich dadurch, dass er sich hervorragend in internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen auskennt: Die letzten Jahrzehnte aber hat er im Ausland verbracht – und kennt wenig von der gesellschaftlichen Realität des Landes. Die Mitglieder seines Kabinetts eint, dass sie zwar – wie allgemein anerkannt wird – etwas von der jeweiligen Materie ihres Aufgabengebiets verstehen, aber wenig politische Visionen besitzen. Eine Technokratenregierung, die derzeit heftigen politischen Pressionen der unterschiedlichen haitianischen Interessensgruppen ausgesetzt ist. Viel wichtiger aber ist, den wirklichen politischen Akteuren nicht mit eigenen Ambitionen in die Quere zu kommen.

Aristides langer Schatten
Während die ausländischen Streitkräfte mit ihren sporadischen Patrouillen vermeintlich für die Sicherheit tagsüber sorgen, beherrschen die RebellInnen in Wirklichkeit noch weite Teile des Landes, ohne dass deren Präsens wahrnehmbar wäre. Sicherer ist es in dem Land unter den neuen Herren nicht geworden – eher im Gegenteil. Die Nacht gehört bewaffneten Banden, die die Stunde des Übergangs und der Unsicherheit nutzen, ihren Geschäftsbereich auszuweiten. Raubüberfälle auf Banken und Supermärkte, Blitzentführungen gegen die Zahlung einer kleinen, direkt aus dem Geldautomaten gezogenen Auslösesumme oder Straßenraub – alle Einheimischen, mit denen ein Besucher der Inselhälfte redet, können ein Lied davon singen.
Dagegen ist es um die einstige politische Opposition gegen den früheren Staatspräsidenten Jean-Bertrand Aristide seltsam ruhig geworden. „Jetzt ist die Stunde der Technokraten“, sagt Gérard Pierre-Charles. Der 69 Jahre alte Soziologe ist einer der GründerInnen von Convergence Démocratique (CD), einem Bündnis aus so genannten Linksparteien und gemäßigten Ex-DuvalieristInnen – ehemalige AnhängerInnen des Duvalier-Clans, dessen Vater und Sohn (Papa und Baby Doc genannt) das Lande vor Aristide autokratisch regierten. „Die Protagonisten der politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre können diese Arbeit nicht leisten“, sagt der einstige Weggefährte des Armenpriesters Aristide. Es werde sicher fünf, vielleicht sogar zehn Jahre dauern, bis sich Haiti wieder von der Ära Aristide erholt habe, glaubt der Ex-Marxist. „Wir brauchen eine große Koalition. Die Menschen in Haiti sind der politischen Auseinandersetzungen überdrüssig.“
Ruhig ist es um eine andere Organisation geworden, die ebenso wie die CD in der Demokratischen Plattform vertreten ist. Seit immer deutlicher wird, dass führende Mitglieder der „Gruppe der 184“, besonders jene um den Unternehmer André Apaid, die bewaffneten RebellInnen um Guy Philippe finanziert haben, hört man von dem Bündnis aus Nichtregierungsorganisationen, Unternehmerverbänden und Frauengruppen wenig. Apaid selbst hat sich ganz aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Möglicherweise um sich nicht peinlicher Fragen nach der Höhe der finanziellen Zuwendung stellen zu müssen, die nach Informationen diplomatischer Kreise in Port-au-Prince pro UnternehmerIn monatlich 50.000 US-Dollar betragen haben sollen.
Der Premier auf Probe, Gérard Latortue, tingelt derzeit durch die Vereinigten Staaten und besucht Frankreich, um Zuschüsse für die leere Staatskasse zu sammeln und die ausländischen „Schutzmächte“ um eine weitere Intensivierung von Hilfslieferungen anzugehen, damit das Land nicht völlig kollabiert.

Zivile Camouflage
Währenddessen positioniert sich die „Front pour la Libération et la Reconstruction Nationale“ (FLRN), die sich jetzt nur noch „Front des nationalen Wiederaufbaus“ nennt. Guy Philippe, der ehemalige Polizeiverwaltungschef von Cap Haïtien und Militärchef der Front hat am Dienstag, den 18. Mai in Gonaïves die Gründung einer Partei bekannt gegeben. Die Partei wird von einem Triumvirat geleitet, das aus dem 36 Jahre alten Ex-Polizisten, dem vierzigjährigen Interimsbürgermeister der Rebellenhochburg im Artibonite, Winter Etienne, und Buteur Métayer, dem Bruder des ermordeten Chef der revolutionären Widerstandsfront, Amiot, besteht.
Phillipe, mit 32 Jahren der jüngste des Trios, hat inzwischen seine Tarnuniform abgelegt und gibt sich ganz zivil, auch wenn die weiße Hemdjacke nur unzureichend die Pistole verdecken kann, die er im Gürtel trägt. Es gelte mit allen gesellschaftlichen Kräften zusammenzuarbeiten, um dem Land Sicherheit zu geben, beschreibt er die Perspektiven des Landes. Die Polizei müsse reorganisiert und die Mitglieder seiner Befreiungsfront müssten sowohl in die Polizei als auch in die wieder aufzubauende Armee (Forces Armées d’Haiti) integriert werden.

Reuelose Selbstanzeige
Philippe hat in den letzten Wochen wichtige Mitkämpfer verloren. Ende April stellte sich Louis-Jodel Chamblain der Justiz, einer der früheren Köpfe der haitianischen Todesschwadronen. Er wurde 1995 zu zwei Mal lebenslänglicher Haft verurteilt. Ihm wird die Ermordung von Antoine Izmery, eines engen Mitarbeiters von Jean-Bertrand Aristide, im Jahre 1993 vorgeworfen. Außerdem soll er ein Jahr später in Gonaïves mit anderen Mitgliedern der „Front für Entwicklung und Fortschritt in Haiti“ (FRAPH) unter AnhängerInnen des früheren Armenpriesters ein Massaker angerichtet haben. Seit’ an Seit’ mit dem derzeitigen Polizeichef Haitis, Léon Charles, und dem Übergangsjustizminister Bernard Gousse fand er sich vor der Haftanstalt von Pétionville ein. Chamblain und auch der inzwischen inhaftierte Massenmörder Joseph Jean-Baptiste alias Jean Tatoune und Ex-Knastkumpel von Amiot Métayer hoffen auf ein neues Strafverfahren – und eine Amnestie. Derweil werden immer öfter Mitglieder der Fanmi Lavalas, dem Erdrutschbündnis von Ex-Präsident Jean-Bertrand Aristide, inhaftiert. Nach unbestätigten Informationen wurden rund 200 von ihnen in der Zeit nach dem Aristide-Abgang umgebracht.
Wirklich leise ist es nur um sie geworden. Die Sprecher der Lavalas-AnhängerInnen, ihres charismatischen Führers beraubt, ziehen es vor, keine Interviews zu geben oder BesucherInnen zu empfangen. Der 50 Jahre alte Parteiführer im Exil versucht derweil seine AnhängerInnen neu zu formieren und Lavalas zu reorganisieren, um sich eine Ausgangsbasis für eine mögliche Rückkehr zu schaffen. Zum Unwillen einiger linker LavalistInnen, die versuchen wollen, eine linke, populistische und vor allem nicht mehr auf Aristide zugeschnittene Opposition zu sein. Eine Minderheit noch, die jedoch im mittleren „Parteikader“ einigen Zulauf hat.

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