Guatemala | Nummer 471/472 - Sept./Okt. 2013

„Das Thema ist Rassismus“

Interview mit der Menschenrechtsverteidigerin Claudia Samayoa

Seit 1994 kämpfen Menschenrechtsorganisationen in Guatemala darum, das System der Straflosigkeit für Großgrundbesitzer, Unternehmer und Militärs zu beenden. Die LN sprachen mit der Menschenrechtsverteidigerin Claudia Samayoa über die Konsequenzen des Völkermordprozesses gegen den Ex-Diktator Ríos Montt (LN 468).

Markus Zander

Wie war es möglich, dass der Verfassungsgerichtshof das Urteil gegen Ríos Montt annullieren konnte?
Nach der negativen Entscheidung des Verfassungsgerichts (CC) zum Völkermordurteil ist zu beobachten, dass sich auch innerhalb der Gerichtsbarkeit ein immer deutlicherer Widerstand gegen dieses System der Straflosigkeit entwickelt. Das CC hatte es nicht gewagt, mit seiner Entscheidung das Urteil tatsächlich zu annullieren; es forderte jedoch einen neuen Prozess, um die Annullierung auf ein anderes Gericht abzuschieben. So können wir jetzt zunehmenden Widerstand dagegen beobachten: Wir haben sechzig Jurist_innen, die sich weigern, ein Gericht zu formieren, um über neue Rechtsmittel der Verteidigung Ríos Montts zu entscheiden, das Tribunal A [des Strafgerichtshofs], das sein Mandat für den Prozess niedergelegt hat, und das Tribunal B, das im Völkermordfall weiterverhandeln soll, aber entschieden hat, sich bis zum April 2014 nicht über die Entscheidung des CC zusammenzusetzen. Das heißt, dass das Urteil gegen Ríos Montt formaljuristisch immer noch Geltung besitzt, es ist noch keine Annullierung erfolgt.

Es gibt also durchaus viele Richter_innen, die den Prozess nicht neu aufrollen möchten, weil sie das Urteil gegen Rios Montt für gerechtfertigt halten. Wie sind denn die Chancen, dass es tatsächlich Bestand haben könnte?
Die Chance bestünde, wenn sich ein neu gewähltes CC dafür entscheiden würde, politisch und nicht juristisch motivierte Urteile ihrer Vorgänger_innen, wie das zum Völkermordprozess, aufzuheben. Am Ende dieses Jahres stehen personelle Veränderungen im CC, im Obersten Gerichtshof (CSJ) und der Staatsanwaltschaft an. Der Kampf um die Aufrechterhaltung des Systems der Straflosigkeit wird sich auf diese neuen Ernennungen konzentrieren, und seine Nutznießer_innen haben schon damit begonnen, unterschiedliche Akteure wie Richter_innen und Staatsanwält_innen zu diskreditieren, um den begonnenen Prozess [der Bekämpfung der Korruption] zu unterbrechen. Deswegen ist dieser Widerstand das Mittel, das den Richter_innen bleibt, um die Gültigkeit des Urteils aufrecht zu erhalten. Im Endeffekt wird es von der weiteren politischen Entwicklung abhängen, ob sich das Blatt in die eine oder die andere Richtung wenden wird.

Wie wahrscheinlich ist es, das ein neuer CC tatsächlich aus neuen Richter_innen zusammengesetzt sein wird, die nicht durch das System der Straflosigkeit kompromittiert sind?
Es ist unwahrscheinlich, weil ihre Hintermänner alles tun, damit es keine unabhängige Beobachtung dieser Prozesse gibt. Das ist auch der Grund dafür, dass sie derartig heftig die internationale Gemeinschaft, die Entwicklungszusammenarbeit und die Vertretung des UN-Kommissariats für Menschenrechtsfragen attackieren: sie wollen den Beobachtern ihre Glaubwürdigkeit nehmen. Es sind sowohl die nationalen als auch internationalen Beobachter_innen, die in der Vergangenheit durchgesetzt haben, dass es im CSJ und dem CC unbescholtene und gerechte Richter_innen gibt und dass wir eine über alle Zweifel erhabene Generalstaatsanwältin haben. Mit diesen Attacken wird versucht, die Prozessbeobachtung in der öffentlichen Meinung zu delegitimieren, damit gesagt wird: „Das sind Guerriller@s, das sind Terrorist_innen, die wollen, dass Guatemala kommunistisch wird“.

Mehrfach sprachen Zeugen des Prozesses über die Rolle des heutigen Präsidenten Molina als Kommandant der Armee während des Bürgerkriegs in der Ixil-Region. Was hat man von ihm und seiner Regierung bis zur möglichen Wiederaufnahme des Prozesses zu erwarten?
Es gab drei Momente während des Prozesses, in denen heutige politische Akteure genannt wurden. Einer war die Aussage eines ehemaligen Armeemechanikers und ein weiterer die Zeugenaussage des Generals Quilo Ayuso. Sein Gutachten stützt absolut die These der Anklage in Bezug auf die Befehlskette und die Verantwortlichkeit des Generals Ríos Montt für die getroffenen Entscheidungen. Beide Aussagen zeigen die geteilte Verantwortlichkeit sowohl des heutigen Präsidenten als auch der Militärs und gewisser Akteure aus der Oligarchie an den Menschenrechtsverletzungen während des bewaffneten Konflikts. Und es war General Ríos Montt selbst, der über die Befehlskette innerhalb der Streitkräfte sagte: „Ich bin nicht verantwortlich, sehr wohl aber…“ und dann zwar nicht mit Namen, sehr wohl aber mit dessen damaligem Posten Otto Pérez Molina erwähnte.
Die Verantwortlichkeiten von damals lassen sich nicht mehr verbergen, und deswegen ist der heutige Präsident ein weiterer mächtiger Akteur, der ein Interesse an der Annullierung des Prozesses hat. Wenn die neuen Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs gewählt werden, wird eines von ihnen direkt vom Präsidenten ernannt, ebenso wie der oder die Generalstaatsanwält_in. Diese beiden Entscheidungen sind in seinen Händen und er wird mit ihnen seine künftige Strafverfolgung zu verhindern versuchen.

Neben den Befehlshabern im Militär, gab es sicher auch Akteure, die Profit aus den Verbrechen des Krieges zogen, indem sie sich zum Beispiel widerrechtlich Land aneigneten. Sind also weitere Prozesse zu erwarten?
Im Augenblick kann ich das nicht sehen. In Fällen, in denen Land geraubt wurde, handelt sich nicht um Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern um die widerrechtliche Aneignung von Land. Ganz anders sieht das zum Beispiel bei außergerichtlichen Hinrichtungen aus, bei denen das Drängen auf Gerechtigkeit effektive Fortschritte gebracht hat. Damals waren es die Partei der „Bewegung für die Nationale Befreiung“ (MLN) und die geheime antikommunistische Armee, die „Mano Blanca“ (weiße Hand), in denen sich illegale paramilitärische Kräfte sammelten. Gegen diese Akteure wird es Prozesse geben. Das scheint besonders wichtig, weil gerade diese Gruppen wieder erstarken.

In vielen Teilen der guatemaltekischen Bevölkerung ist Widerstand gegen den Prozess zu spüren. Wie kommt es dazu?
Es gibt in der mestizischen und ladinischen Bevölkerung die rassistisch gefärbte Angst davor, dass die Indigenen zurückkehren könnten, um sich ihr Land wieder zu nehmen und alle nicht-Indigenen von ihrem Territorium zu vertreiben. Und genau diese rassistische Ideologie nutzt die kreolische Oligarchie, die sich als „reinrassig“ und nicht-indigen versteht, um ihre politische und ökonomische Macht über das Land und den Staat zu erhalten. Und weil sie den Völkermordprozess stoppen wollen, haben sie den Mythos kreiert, dass ein Urteil gegen Ríos Montt wegen Völkermords eine Verurteilung von uns allen bedeuten würde. Das wichtigste Thema dieses Prozesses ist für mich deshalb nicht der Völkermord – er ist wichtig, aber dahinter steckt Rassismus und die damit zusammenhängende eliminatorische Ideologie. Der Völkermord ist ihr deutlichster Ausdruck, aber er gründet sich auf den Rassismus, und das wird gerade so deutlich wie nie zuvor.

Infokasten:

Claudia Samayoa

ist Master der Philosophie und hat danach Konfliktbearbeitung und Politik studiert. Sie ist Menschenrechtsverteidigerin und Gründerin und Koordinatorin der Vereinigung zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger_innen in Guatemala (UDEFEGUA), die in diesem Jahr 14 Jahre alt wird.

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