Nicaragua | Nummer 452 - Februar 2012

Das verlorene Erbe einer Bildungsrevolution

Die Entwicklung hin zu einer „Grundbildung für alle“ in Nicaragua stagniert

Bildung war eines der großen Themen im revolutionären Nicaragua der 1980er Jahre. Seit der Rückkehr der Sandinist_innen an die Regierungsmacht im Jahr 2006 ist eines ihrer Aushängeschilder der „Kampf um die 6. Klasse“, der Zugang zu Grundbildung für alle Kinder. Ein Besuch auf dem Land verdeutlicht jedoch, das zur Erreichung dieses UN-Milleniumszieles noch einiges fehlt.

Laura Cieslik

„Lasst uns voranschreiten, Brigaden, Guerilleros der Alphabetisierung! Die Lesefibel dient dir als Machete, damit löschst du mit einem Schlag Unwissenheit und Irrtum aus!“
Wer an einem Werktags morgens um kurz nach Acht die Grundschule von Rodeito betritt, einer 200-Seelen-Gemeinde im Nordwesten Nicaraguas, trifft auf 80 ordentlich in Reih und Glied aufgestellte Schüler_innen, die mit mal mehr, mal weniger Inbrunst zunächst die Nationalhymne und anschließend die Hymne der Bildung singen. Eine Hymne der Bildung? Seit der sandinistischen Revolution 1979 ist Bildung in Nicaragua ein Schlagwort. Die Hymne wurde jedoch erst 2006 mit der Wahl der „Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN)“ wieder an den Schulen eingeführt – ursprünglich war sie das Lied der landesweiten Alphabetisierungskampagne von 1980. Im selben Jahr wurde auch die Grundschule von Rodeito gegründet und verbildlicht somit die sandinistischen Bemühungen im Bildungsbereich, vor allem in den bis dato stark vernachlässigten ländlichen Regionen. Nach der Euphorie der ersten Jahre brach jedoch schon bald die von den USA unterstütze Konterrevolution über Nicaragua hinein. Die Contras zerstörten Schulgebäude, übten Anschläge auf Lehre_innen aus und stürzten die Wirtschaft in eine tiefe Krise. Darunter litt vor allem das Schulsystem – mangelhafte Qualität, eine Zunahme der Analphabeten- und Schulabbrecherquote sowie allgemein niedrige Anmeldungszahlen waren die Folge. Mit dem Regierungswechsel hin zur neoliberalen Präsidentin Violeta Chamorro, später dann Arnoldo Alemán und Enrique Bolaños, drehte sich auch in den Klassenräumen der Wind. Wie die meisten anderen staatlichen Schulen bekam auch die Grundschule Rodeitos den Status der „Verwaltungsautonomie“ zugeschrieben. Offiziell bedeutete dies mehr Mitspracherecht für die Eltern, inoffiziell die Vernachlässigung der Schulen durch die Regierung und die Einführung von Schulgebühren in einem Land, in dem 70 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze lebten.
Die 35-jährige Daisy Chavarría Erazo aus Rodeito hat als Kind von den Bildungsreformen der frühen Achtziger profitiert. Noch immer ist sie bekennende Sandinistin. Unter der Regierung Chamorros begann sie als Lehrerin an der Grundschule zu arbeiten und erzählt nicht ohne Empörung: „Als ich vor 15 Jahren hier angefangen habe, wurde ich von den Eltern bezahlt und bekam nur einen Bruchteil des Gehaltes, welches staatliche Lehrer bekamen. Es gab viel zu viele Schüler für die Lehrer, aber das Ministerium war nicht bereit, eine weitere Stelle zu finanzieren.“ Persönlich hat Daisy der Wahlsieg der Sandinist_innen im Jahr 2006, den diese im November 2011 wiederholten, genützt. Heute ist sie fest vom Bildungsministerium angestellt und trägt sogar die Leitung der Schule. Mit der Regierung von Präsident Daniel Ortega sei Aufmerksamkeit, die die Schule bekommt, gestiegen, stellt die alleinerziehende Mutter fest. Dennoch fehle es nach wie vor an allen Ecken und Enden, vor allem an Materialien für Schüler_innen und Lehrer_innen. Doch die Bewohner von Rodeito wissen sich zu helfen: reicht die Ration an Schulheften, welche die Schule jährlich vom Ministerium bekommt, nicht für alle Schüler_innen aus, werden sie einfach entzwei geschnitten.
Die jetzige Regierung verlangt von allen Lehrer_-innen Nicaraguas, die Zahl der Sitzenbleiber_innen auf ein Minimum zu reduzieren, doch das Engagement von „Doña Daisy“ und ihren drei Lehrerkolleginnen geht weit darüber hinaus. Völlig selbstverständlich erklärt sie: „Wenn ein Schüler im Unterricht nicht mehr hinterherkommt, geben wir ihm nachmittags oder am Wochenende unbezahlte Nachhilfe. Es ist wichtig, den Kindern mit Liebe und Fürsorge zu begegnen, damit alle die Versetzung schaffen.“ Selbst eine Fahrt in den nächsten größeren Ort, Somotillo, nimmt sie in Kauf, um dort für eine ihrer Schülerinnen ein paar neue Sandalen zu kaufen, damit diese zur Schule gehen kann. Rodeito kann eine Schulbesuchsquote vorweisen, von der man an anderen Orten Nicaraguas nur träumen kann. An der Atlantikküste müssten vier von fünf Kindern in der Schule auf dem Boden sitzen, in anderen Regionen würden nicht mal im Stehen alle Schüler_innen in den Raum passen, erzählt Daisy. Ist die Bildungspropaganda der Regierung nur schöner Schein?
Groß hat Daniel Ortega angekündigt, bis 2015 ein Milleniumsziel der UN zu erreichen: Alle Kinder im Grundschulalter sollen die Schule besuchen. Der Haken: Nicaragua ist in Mittelamerika das Land mit dem prozentual kleinsten Bildungshaushalt – Tendenz fallend. Zum Vergleich: 1979 war auf einem Kongress lateinamerikanischer Staaten beschlossen worden, den Bildungshaushalt bis 2000 auf mindestens sieben Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu heben. Nachdem er in Nicaragua unter Bolaños zeitweise 4,8 Prozent betragen hatte, ist er unter Ortega stetig bis auf aktuell 3,65 Prozent gesunken. Nach offiziellen Erklärungen sucht man vergeblich. Fakt ist, dass von dem ohnehin schon geringen Bildungshaushalt ein Großteil in Verwaltung und universitäre Bildung investiert wird, während die Ausgaben für die Ausstattung und Infrastruktur im Grundschulsektor sinken.
Das Gehalt der Grundschullehrer_innen reicht nicht einmal zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse. Nicht selten kommt es vor, dass nicaraguanische Lehrer_innen nach Costa Rica auswandern, um dort als Hausangestellte zu arbeiten – ein weitaus lukrativerer Job.
Dass die Grundschule von Rodeito inmitten der Revolution gegründet wurde, ist nicht nur eine terminliche Übereinstimmung: In dem kleinen Dorf wird die Solidarität gelebt, die von den Sandinist_innen seit jeher gepredigt wurde. Dennoch hat auch das Engagement von Lehrer_innen wie Daisy ihre Grenzen, nämlich da, wo sie merken, dass sie sich aufopfern, während die Regierung die Bildung auf der Tagesordnung längst nach hinten verschoben hat. Es bleibt zu hoffen, dass Ortega eines Tages aufwacht und die Bildungsideale der Revolution, für die er einst kämpfte, nicht mehr nur bejubelt, sondern in die Tat umsetzt – fünf Jahre hat er dazu noch.

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