Nummer 359 - Mai 2004 | Uruguay

Dehnübungen vor dem Endspurt

Die Frente Amplio bereitet sich auf einen Wahlsieg im Oktober vor

Sechs Monate vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober gilt ein Sieg der linken Frente Amplio als wahrscheinlich. Im Juni werden in einer landesweiten Abstimmung die Kandidaten der drei großen Parteien bestimmt. Während bereits feststeht, dass Tabaré Vázquez zum dritten Mal in Folge die Linke in die Wahlen führen wird, werden Colorados und Blancos aller Voraussicht nach versuchen, mit gemäßigten Kandidaten die Kampagne zu entpolarisieren. Die Linke ist bereits jetzt damit beschäftigt, sich auf die Spielregeln der Macht einzustellen.

Matti Steinitz

Über dieses Thema werde ich nicht sprechen“, antwortet der Vorsitzende des linken Parteienbündnisses Frente Amplio (FA) Tabaré Vázquez während eines Aufenthalts in der Provinzhauptstadt Minas Cecilia Manzione, als sie ihn um ein Gespräch über seine Bildungspolitik bittet. Die Lehrerin und langjährige Aktivistin wollte von ihm wissen, ob er nach einem Wahlsieg bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober bereit sei, eine von der FA abgelehnte Bildungsreform der konservativen Vorgängerregierung rückgängig zu machen. Derart abgewiesen, wendet sie sich an Tabarés Begleiter Pepe Mujica. Der war in den 60er Jahren Mitbegründer der uruguayischen Stadtguerrillabewegung Tupamaros, in den 70ern Gefangener der Militärdiktatur und in den 90ern als erster Ex-Guerrillero der FA Abgeordneter im Parlament. Heute ist er Senator, Liebling der Massen und Medienstar. „Die da oben werden schon wissen, was sie tun“, ist Mujicas Antwort. Cecilia Manzione ist enttäuscht. Seit vielen Jahren wählt sie Mujicas Organisation, die Movimiento de Participación Popular (MPP), die einst als Linksaußen der FA galt und inzwischen zum stärksten Sektor innerhalb des breiten Bündnisses avanciert ist. Der Erfolg der MPP beruht vor allem auf der Popularität Mujicas. Denn der genießt den Ruf, keine Rücksicht auf angebliche Sachzwänge der Politik zu nehmen und immer ein offenes Ohr für die Belange der Basis zu haben. Doch selbst bei der ehemaligen Fundamentalopposition sorgt die greifbar nahe erscheinende Regierungsübernahme für neue Töne.

Ein Land wartet auf den Wechsel
Uruguay hat sich bereits seit einiger Zeit auf einen Wechsel eingestellt. Knapp sechs Monate vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober zweifelt niemand mehr ernsthaft daran, dass die Frente Amplio in diesem Jahr die nur durch eine Militärdiktatur (1973-1985) unterbrochene Herrschaft der beiden traditionellen Parteien, Partido Colorado (Colorados, PC) und Partido Nacional (Blancos, PN), beenden wird. Bereits beim letzten Urnengang 1999 hatte die FA mit 40 Prozent die Mehrheit der Stimmen im ersten Wahlgang auf sich vereinen können. Durch eine kurz zuvor beschlossene Verfassungsreform war jedoch ein Stichwahlsystem eingeführt worden, welches es Colorados und Blancos ermöglichte, in der zweiten Runde einen Sieg der Linken zu verhindern, indem sie gemeinsam den Präsidentschaftskandidaten Jorge Batlle (PC) unterstützten. Heute gilt ein Sieg der FA in der ersten Runde der Wahlen nicht mehr als ausgeschlossen: in den Umfragen liegt die Partei zwischen 50 und 60 Prozent. Die Regierung von Batlle ist weitestgehend diskreditiert. Die vergangenen vier Jahre an der Macht waren durch eine verheerende Bankenkrise im Jahr 2002, interne Streitigkeiten, Korruptionsskandale, verschiedene peinliche Auftritte des alternden Präsidenten und zunehmende Isolierung im von Lula und Kirchner dominierten Mercosur geprägt. Auch die Blancos konnten sich troz ihres Ausstiegs aus der Regierungskoalition im Jahr 2002 nicht von ihrem Image als Repräsentanten des alten Systems befreien.
Im Juni stehen in Uruguay die so genannten internas an, in denen alle Parteien in einer offenen landesweiten Abstimmung ihre Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen bestimmen. Bereits jetzt stehen zwei der drei wesentlichen Konkurrenten für die diesjährigen Wahlen so gut wie fest. Nachdem Danilo Astori von der Asamblea Uruguay – dem reformistischsten Sektor innerhalb des breiten politischen Spektrums, das die FA unter ihrem Dach vereint – angekündigt hat, dass er angesichts der zu erwartenden Niederlage nicht antreten wird, steht einer erneuten Kandidatur von Tabaré Vázquez nichts mehr im Wege.

Wer traut sich gegen Tabaré?
Für die Colorados wird nicht wie erwartet der ehemalige Präsident Julio María Sanguinetti (1985-1990 und 1995-2000) antreten. Ende vergangenen Jahres hatte er sich vor einem Referendum über die Zukunft des staatlichen Brennstoffunternehmens ANCAP für dessen Privatisierung stark gemacht, die mit großer Mehrheit abgelehnt wurde. Der Ausgang des Referendums wurde nicht nur als richtungsweisender Triumph der FA, die als einzige der großen Parteien gegen eine Privatisierung war, sondern auch als persönliche Niederlage Sanguinettis gewertet. Die Parteistrategen haben wohl registriert, dass sein polemisierender antikommunistischer Diskurs, der in altbewährter Manier das Schreckgespenst eines drohenden totalitären Regimes bei einer Machtübernahme der FA bedient, nicht mehr der Stimmung in der Bevölkerung entspricht. Aus diesen Gründen wird der Kandidat der Colorados aller Voraussicht nach der jetzige Innenminister Guillermo Stirling sein. Der ist weitaus gemäßigter und integrativer als der Ex-Präsident. Bis jetzt hat kein weiterer Colorado-Politiker Ansprüche angemeldet, die undankbare Aufgabe zu übernehmen.
Bei den Blancos ist das Rennen noch nicht entschieden. Auch in dieser Partei könnte es zu einer Überraschung kommen. Das Vorhaben des Partei-Patriarchen Luis Alberto Lacalle, der zwischen 1990 und 1995 Präsident war, erneut für seine Partei zu kandidieren, ist in Gefahr. Der jüngere, vorteilhafterweise an keiner vorherigen Regierung beteiligte Senator Jorge Larrañaga wird von einem großen Teil der Parteiprominenz unterstützt und hat gute Chancen, die internas für sich zu entscheiden. Larrañaga produziert sich als Erneuerer und pflegt eine oppositionelle Rhetorik, die die Mitverantwortung der Blancos für die gegenwärtige Krise vergessen machen soll. In Bezug auf die Sozialpolitik und die Stärkung der nationalen Produktion ähneln seine Positionen teilweise denen der Linken.
Sollten sich also nach den Colorados auch die Blancos an Stelle eines ehemaligen Präsidenten für einen Kandidaten der Mitte entscheiden, so wird der FA ihre Wahlkampfstrategie ändern müssen, die darauf ausgerichtet war, Tabaré Vázquez als linken Hoffnungsträger zwei verbrauchten Figuren der uruguayischen Rechten gegenüberzustellen. Der Sieg von Tabaré ist jedoch selbst unter diesen Bedingungen nicht wirklich in Gefahr.

Kröten schlucken oder untergehen
Innerhalb der Linken ist aus der Hoffnung, 33 Jahre nach der Gründung der Frente Amplio endlich den Machtwechsel herbeizuführen, bereits eine Gewissheit geworden. Die internen Auseinandersetzungen um Posten und Prinzipien sind bereits in vollem Gange. Selbst Mujica und seine MPP, die in der Vergangenheit als vehementeste Gegner von Zugeständnissen an die herrschende Gesellschaftsordnung galten, ordnen mittlerweile ihre Programmatik dem strategischen Ziel des Regierungswechsels unter. Die Nachfolgeorganisation der Movimiento de Liberación Nacional/Tupamaros (MLN/T) passt sich diesem Trend nicht nur an, sondern übernimmt durch ihre ideologische Öffnung eine Vorreiterrolle, die alte Genossen schlucken lässt. Mujica erklärte kürzlich in einem Interview mit der Wochenzeitung Brecha die neue Strategie seiner Organisation: „Wir haben ein klares Motiv: Wir wollen im Oktober die Wahlen gewinnen. Wenn wir sie verlieren, bricht die Linke auseinander. Deswegen können wir nicht auf unseren revolutionären Positionen beharren und das Bürgertum verschrecken. Wir müssen alle Sektoren der Gesellschaft mit einbeziehen, auch wenn wir dabei die eine oder andere Kröte zu schlucken haben.“ Dieser neuen Orientierung entsprechend hat die MPP zu Beginn des Jahres den so genannten Espacio 609 gegründet – ein ideologisch offenes Auffangbecken für unabhängige Linke und enttäuschte Colorados und Blancos. Diese Organisation erschließt mit zunehmendem Erfolg neue Wählerschichten für die FA.

Der sozialistische Baum
Leicht fällt es den Basismitgliedern der MPP nicht, dem von ihrer Ikone eingeschlagenen Weg in die Mitte und an die Macht zu folgen. Doch die Mehrheit steht weiter hinter Mujica.
Hebert Clavijo, in den 60er und 70er Jahren Führungsmitglied der Tupamaros in Minas und lange Jahre politischer Gefangener, ist heute im Basiskomitee der MPP aktiv. Er wird nachdenklich bei der Frage, ob seine Organisation ihre revolutionäre Identität dem übergeordneten Ziel des Wahlsiegs geopfert habe.
Doch dann greift er zu Papier und Stift und skizziert einen Baum. Die Wurzeln sollen die MLN/T symbolisieren, die Baumkrone steht für den neu gegründeten Espacio 609. Sie besteht aus vielen Blättern, den neu gewonnenen Verbündeten von Colorados und Blancos. Den Baumstamm als verbindendes Element zwischen den beiden Ebenen soll die MPP darstellen.
Clavijo erläutert: „Der gemeinsame Ausgangspunkt ist für alle Teile des Baumes das Ziel der nationalen Befreiung von Ausbeutung und ausländischer Dominaz. Dort holen wir die neu gewonnenen Mitstreiter ab, denen wir in der Zusammenarbeit unser marxistisches Denken nahe bringen. Dann beschreiten wir gemeinsam den Weg zum Sozialismus. Um dieses Projekt zu verwirklichen, müssen wir die Wahlen gewinnen.“ So einfach ist der Weg zu einer Gesellschaft ohne Ausbeuter und Ausgebeutete.
Doch auch Clavijo merkt man sein Unwohlsein über den atemberaubenden Wandel der MPP an, die in Abkehr von basisdemokratischen Prinzipien den Verlautbarungen ihres Vorsitzenden Mujica hinterher galoppiert. Bereits sechs Monate vor der Wahl plagen die Frente Amplio die Probleme aller emanzipatorischen Bewegungen, die innerhalb des vorgegebenen institutionellen Rahmens die herrschenden Verhältnisse grundlegend verändern wollen.
Pepe Mujica und die MPP, Tabaré Vázquez und die FA machen sich schon jetzt daran, den von Lula vorgeführten Spagat zwischen ökonomischen Sachzwängen und ideologischen Überzeugungen einzustudieren. Das Vorbild im Norden zeigt, wie schmerzhaft eine solche Dehnübung werden kann.

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