Mexiko | Nummer 435/436 - Sept./Okt. 2010

Demokratischer Frühling in Oaxaca

Die Niederlage der PRI bei den Gouverneurswahlen weckt große Erwartungen, trotz der Heterogenität der neuen Regierung

Mit den Bundesstaatswahlen im Juli hat die PRI ihre jahrzehntelange Regierungsmacht in Oaxaca verloren. Eine Allianz von Parteien aller Couleur wird nun den südmexikanischen Bundesstaat anführen. Das Machtvakuum bis zum Amtsantritt des neuen Gouverneurs geht bislang mit einer Zuspitzung sozialer und politischer Konflikte wie in der indigenen Triqui-Region einher. Die sozialen Bewegungen sehen eher optimistisch in die Zukunft.

Philipp Gerber

„Und, wie verlaufen die Wahlen?“, fragt der stets grinsende Gouverneur Ulises Ruiz Ortíz am Nachmittag des 4. Juli, dem Tag der Bundesstaatswahlen, bei einem Rundgang im Zentrum von Oaxaca Stadt einen befreundeten Abgeordneten. „Wir gehen unter und es kommen weiter viele Leute an die Wahlurnen“, antwortet dieser, worauf Ulises Ruiz das Lächeln im Gesicht gefriert. „Wie das? Mir wurde gesagt, dass die Wahlbeteiligung runtergeht… Ruf das Wahlinstitut an, damit wir wissen, was passiert“.
Dieses Gespräch, das José Gil Olmos und Pedro Matías für die Zeitschrift Proceso dokumentierten, zeigt die Ungläubigkeit der sich stets siegessicher gebenden Revolutionären Institutionellen Partei (PRI), als das Undenkbare doch eintraf: Nach 82 Jahren verliert die PRI die Regierungsmacht in dem südostmexikanischen Bundesstaat. Schon bei der Schließung der Wahllokale stimmten Gruppen von PRI-GegnerInnen den Schlachtruf an, den das Protestbündnis Volksversammlung der Völker Oaxacas (APPO) bei dem Aufstand im Jahr 2006 (siehe LN 390) etabliert hatte: „Ya cayó, ya cayó, Ulises ya cayó!” („Ulises ist schon gestürzt!“).
Starken Widerhall fand die PRI-Schlappe auch Ende Juli auf dem Fest „Guelaguetza Popular“, das die APPO und die LehrerInnengewerkschaft Sektion 22, die stärkste außerparlamentarische Kraft Oaxacas, bereits zum fünften Mal in Folge organisierten. Zehntausende feierten hier ausgelassen das Ende der PRI-Regierung. Die spontanen Straßenpartys am Wahltag sowie die Stimmung auf dem Volksfest verweisen darauf, dass in erster Linie nicht die Opposition gewählt, sondern die PRI abgewählt wurde. Mit sagenhaften 10 Prozent Vorsprung hat die bunt zusammengewürfelte Oppositionsallianz die alte Macht abgehängt. Da blieb kein Spielraum mehr für technischen Wahlbetrug, zu klar war die Mehrheit dank der historisch hohen Wahlbeteiligung von 56 Prozent. Auch der von der Opposition vielfach beklagte Einsatz öffentlicher Mittel für die PRI-Kampagne konnte die PRI nicht retten. Der Volksaufstand von 2006 und dessen Nachwehen, mit seinen langen Monaten des Barrikadenkampfes, den vielen Toten und Verletzten im Widerstand gegen das alte autoritäre Regime der PRI, fand doch noch ein Echo an der Urne. Mit dem 44-jährigen Ökonomen Gabino Cué Monteagudo von der Mitte-Links-Partei Convergencia wird ab dem 1. Dezember erstmals seit 1928 ein Gouverneur sein Amt antreten, der nicht aus der PRI stammt.
Die PRI hingegen muss sich an die ihr unbekannte Oppositionsrolle gewöhnen. Obwohl sie im Parlament mit 16 Sitzen die stärkste Partei bleibt, hat sie gegen die Allianz klar die Mehrheit verloren. Die Karten werden neu gemischt, und es ist höchste Zeit dafür, betrachtet man die katastrophalen Folgen der PRI-Regierung. So ist der Bundesstaat Oaxaca in den letzten Jahren bei fast allen sozioökonomischen Indikatoren immer mehr zum Schlusslicht der Nation geworden. Zuletzt hatte die Administration des Gouverneurs Ulises Ruiz nur noch mit Repression einen unfähigen und tauben Staatsapparat aufrechterhalten können. Unzählige ungelöste Konflikte werden vor der Amtsübergabe weiterhin vor allem in der Hauptstadt ausgetragen. Unter den Organisationen, die ihrem Unmut Luft machen, befinden sich durchaus auch solche der eigenen PRI-Klientel, wie die Bauernorganisation Antorcha Campesina oder die von PRI-LehrerInnen gegründete Sektion 59. Demonstrationen und Blockaden führen tagtäglich zu einem Verkehrskollaps, den der Großteil der Bevölkerung stoisch erträgt.
Auf der Seite der Gewinner steht die Allianz aus der rechtsgerichteten Partei der Nationalen Aktion (PAN, jetzt mit 11 Sitzen im Parlament), der sozialdemokratischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD, 9 Sitze), der Mitte-Links-Partei Convergencia (3) und der linken Partei der Arbeit (PT, 2). Der frisch gewählte Gouverneur Gabino Cué von der Convergencia kann auf eine Amtszeit als Bürgermeister von Oaxaca Stadt sowie eine Legislaturperiode als Senator des Bundesstaates zurückblicken. Laut Umfragen hat er beide Ämter vergleichsweise gut geführt.
Doch außer der Gegnerschaft zur PRI hat das Links-Mitte-Rechts-Bündnis nur wenige Gemeinsamkeiten, so dass ein kohärentes Regierungsprogramm schwierig sein dürfte. Gabino Cué wird entweder einen politischen Spagat vollbringen müssen oder sich über die diversen Parteiinteressen hinwegsetzen und nach eigenem Gutdünken regieren.
Cué scheint bislang eher Zweiterem zugeneigt: „Die Leute haben Gabino gewählt, nicht die Machtgruppen“, ist seine Antwort auf die Frage, ob er sowohl Andrés Manuel López Obrador als auch Felipe Calderón gerecht werden könne. Sowohl der populäre linke Ex-Präsidentschaftskandidat López Obrador als auch der mexikanische Präsident Calderón von der PAN hatten Cué im Wahlkampf massiv unterstützt. Die ideologische Breite der Allianz wirft in Oaxaca ihre Schatten voraus: Gewisse Themen, so erklärt die eben gegründete Regierungs-Plattform „Für einen effizienten, transparenten und gerechten Pluralismus“ sollen im Parlament explizit nicht angegangen werden; zum Beispiel die Frage nach der Kriminalisierung von Abtreibung, da sich BefürworterInnen als auch GegnerInnen in der Koalition befinden.
Der Nachbarstaat Chiapas, in dem eine ähnliche politische Konstellation herrscht, bietet Anschauungsunterricht, wohin ein auf Personenkult setzender Regierungsstil führen kann. Dort haben die Gouverneure Salazar und Sabines der Alle-gegen-die-PRI-Allianz in den letzten zehn Jahren eine Vetternwirtschaft betrieben, die letztlich der der PRI in nichts nachsteht. Als Resultat hat das Parteiensystem jegliche Legitimität verloren.
Erst einmal gilt es in Oaxaca jedoch die letzten Monate der PRI-Herrschaft zu überstehen.Die lange Übergangsfrist zwischen Wahlen und Amtsübergabe ist eine mexikanische Spezialität. In diesen langen fünf Monaten bis Ende November sind Zersetzungsprozesse der politischen Macht im Gange, ohne dass die neue Administration schon Verantwortung tragen kann. PRI-Kadern wird nachgesagt, sie plünderten Staatseigentum und öffentliche Kassen. Auch gibt es Versuche, der Administration Ruiz Straflosigkeit für ihre Verbrechen zu garantieren. So fand im Juli ein in Mexiko bisher noch nie praktizierter „politischer Prozess“ statt: Die noch von der PRI dominierte Abgeordnetenkammer Oaxacas „untersuchte“ die Verantwortlichkeit von Ulises Ruiz für die schweren Menschenrechtsverletzungen von 2006. Innerhalb von nur zwei Wochen kam sie zu dem Urteil, dass er von alle Vorwürfen freigesprochen werden müsse. Dabei hatte der Oberste Gerichtshof Mexikos noch im Oktober letzten Jahres Ruiz als verantwortlich für eben jene Menschenrechtsverletzungen bezeichnet, die Umsetzung des Urteils aber den Institutionen in Oaxaca überlassen.
Neben diesem Theater, das einmal mehr beweist, wie die Legislative der Regierung im bisherigen autoritären System Oaxacas unterworfen ist, sind interne Abrechnungen im PRI-Apparat im Gange. Beispielsweise wurde ein der PRI nahe stehender Gewerkschafter erschossen. Der Strippenzieher der Repression von 2006, der damalige Innenminister Jorge Franco alias „El Chucky“, ist seit Wochen untergetaucht. Wie sich Machtgruppierungen wie UnternehmerInnenzirkel und lokale Kaziken bis hin zu den in Oaxaca operierenden Drogenkartellen mit dem neuen Regime arrangieren werden, ist noch völlig offen. Klar ist, dass sich die politische Kultur der Gewalt und Korruption, die von der PRI über 80 Jahre geprägt wurde, nicht kurzfristig entwurzeln lässt.
Inzwischen verschärft sich das Unsicherheitsgefühl breiter Bevölkerungskreise. Die Selbstjustiz nimmt zu. Mehrere, teilweise minderjährige „Kriminelle“ wurden in der ersten Jahreshälfte gelyncht, wöchentlich werden neue Lynchversuche bekannt. Auch ungelöste Landkonflikte schwelen weiter vor sich hin und fordern immer wieder Todesopfer. Der Soziologe Eduardo Bautista von der Universität Benito Juárez beschreibt die gefährliche Situation zwischen Wahltag und Machtwechsel als „schwarzes Loch der Unregierbarkeit und der Abrechnung zwischen Machtgruppierungen“.
Exemplarisch für diese explosive Mischung ist San Juan Copala. Die Triqui-Indigenen, welche versuchen, einen autonomen Bezirk nach Vorbild der Zapatistas zu organisieren, befinden sich seit Ende 2009 in einer blutigen Auseinandersetzung mit ihren Nachbarn, welche offen oder indirekt mit der PRI zusammenarbeiten (s. LN 432). Ende Juli eskalierte die Situation einmal mehr: Anastasio Juárez Hernández, der Chef der paramilitärischen UBISORT in San Juan Copala, kam in der Nacht auf den 29. Juli unter unklaren Umständen ums Leben. Am 30. Juli drangen mehrere hundert Polizisten in Begleitung von bewaffneten UBISORT-Anhängern in das Dorf ein, um die Leiche von Juárez’ zu bergen. Dabei besetzte die UBISORT das Regierungsgebäude von San Juan Copala. Laut den Sprechern des autonomen Bezirks sei Juárez’ Leiche aber erst bei der Polizeioperation nach San Juan Copala gebracht worden. In Wahrheit sei der Paramilitär in der Bezirkshauptstadt Juxtlahuaca bei einer Streitigkeit um Taxi-Lizenzen zwischen PRI-Leuten erschossen worden. Der Mord an Juárez „wurde geplant, um den autonomen Bezirk zum Verschwinden zu bringen“, so Ramiro Martínez von der zapatistischen Anderen Kampagne. Er sieht die Aktion in Verbindung mit dem Versuch, eine parteiunabhängige indigene Autonomie zu ersticken, bevor die neue Regierung ihr Amt antritt.
Mitglieder der Gruppe Frauen des Widerstands des Autonomen Bezirks San Juan Copala versuchten mit einer Menschenkette, die Besetzung des Regierungsgebäudes zu verhindern. Es fielen Schüsse. Zwei Frauen wurden verletzt, die 14-jährige Adela Ramírez López so schwer, dass sie wohl ihr Leben lang gelähmt bleiben wird. Auch wenn die Hintergründe um den Tod des UBISORT-Chefs vorerst ungeklärt bleiben, beweist die Aktion von Polizei und Paramilitärs, dass die offiziell behauptete Neutralität der Staatsmacht in dem Konflikt nicht zutreffend ist. Im August gab es weitere Überfälle in Copala, die drei Tote und mehrere Verletzte forderten. Dabei ist die ausufernde Gewalt in der Triqui-Region nur eines der zahlreichen ungelösten Probleme, bei denen die sozialen Bewegungen Oaxacas die neue Administration in die Pflicht nehmen müssen.
Eine der wohl entscheidenden Weichenstellungen für eine Verbesserung der Situation in Oaxaca wäre eine Aufarbeitung der traumatischen Jahre der Repression unter Ulises Ruiz. Dafür will sich insbesondere der ehemalige APPO-Sprecher und politische Gefangene Flavio Sosa einsetzen, der für die PT ins Parlament gewählt wurde. Er will neben juristischen Schritten gegen Ruiz auch eine Wahrheitskommission zu den Ereignissen von 2006 ins Leben rufen. Wie auch immer sich diese Initiativen dann gestalten werden, klar ist: Erst mit dem Durchbrechen der Spirale der Straflosigkeit wäre ein Neuanfang möglich. Genau dies ist auf nationaler Ebene mit den PAN-Regierungen nicht gelungen. Und spätestens bei den ökonomischen Interessen der InvestorInnen und UnternehmerInnen wird sich weisen, welche Spielräume sich die sozialen Bewegungen werden erkämpfen können. Denn Gabino Cué hat bereits eine bessere Zusammenarbeit mit der neoliberalen Regierung Calderón angekündigt, um die „Entwicklung“ Oaxacas zu fördern. Zudem haben spanische InvestorInnengruppen für 2011 einen massiven Ausbau der Windenergie-Parks in der Isthmus-Region angekündigt, gegen die zahlreiche lokale Basisgruppen seit langem protestieren.
Diese Signale sind für Teile der sozialen Bewegung wie die städtischen Libertären Basis für ihre Annahme, dass mit Cué kein wirklicher Wandel zu erwarten sei. „Mit dem Wahlsieg Gabinos gewinnt der Staat, der es schafft, das Volk zu demobilisieren, es gewinnt die kapitalistische Oligarchie, die nur ihre Marionette auswechselt“, meint Ruben Valencia vom Kollektiv VOCAL. Bis dato scheint bezüglich der demobilisierenden Wirkung allerdings eher das Gegenteil der Fall zu sein: die Demonstrationen und Vernetzungen der sozialen Bewegungen haben einen zweiten Atem erhalten. Der überwiegende Teil der Basisgruppen sieht mit kämpferischem Optimismus in die Zukunft. Carlos Beas, Mitgründer der indigenen Organisation UCIZONI, fasst die Stimmung zusammen: „Wir bleiben wachsam in diesem unruhigen, jetzt aber fröhlichen Oaxaca.“

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren