Brasilien | Nummer 418 - April 2009

Den Betonelefanten im Blick

Eine Koordinatorin der Bewegung der Obdachlosen aus São Paulo berichtete in Berlin über den Kampf um menschenwürdiges Wohnen in Brasilien

Die Bewegung der Obdachlosen des Zentrums MSTC kämpft für menschenwürdigen Wohnraum im Zentrum São Paulos, der für die arme Bevölkerung bezahlbar ist. Internationale Solidarität ist dabei sehr hilfreich, wie der Fall des ehemals höchsten besetzten Hauses Lateinamerikas in der Avenida Prestes Maia zeigt.

Thilo F. Papacek

Es steht wieder leer, das Hochhaus an der Avenida Prestes Maia, Hausnummer 911, ganz in der Nähe der alten Eisenbahnstation Luz, im Zentrum von São Paulo. Bis 2008 war es das höchste besetzte Haus Lateinamerikas. 493 Familien, die vorher in heruntergekommenen und überteuerten Mietskasernen, den so genannten cortiços, oder gar auf der Straße gelebt haben, fanden dort ein zu Hause (siehe LN 389).
Nun gehört das ehemalige Bürogebäude wieder zu den 450.000 leer stehenden Häusern der Metropole. „Das Gebäude in der Prestes Maia ist nun ein großer Betonelefant im Zentrum, der keine soziale Funktion hat“, sagt Ivanete de Araújo dazu den Lateinamerika Nachrichten. Sie ist in der Generalkoordination der Bewegung der Obdachlosen des Zentrums (MSTC) aktiv. Ungefähr 15 bis 20.000 Menschen leben in São Paulo auf der Straße. Für ihre Rechte setzt sich die MSTC ein. Die Bewegung besteht vor allem aus Personen, die selbst auf der Straße wohnen oder von Zwangsräumungen bedroht sind. In der MSTC waren einige hundert Familien organisiert, die das Gebäude 2002 besetzt hatten.
Dass das Haus wieder leer steht, ist natürlich nicht im Sinne Ivanete de Araújos. Schließlich geht es ihrer Organisation darum, bezahlbaren und menschenwürdigen Wohnraum für die armen Bevölkerungsschichten im Zentrum der Stadt zu erkämpfen. „Wenn die Leute an der Peripherie der Stadt wohnen, sind sie auf sich gestellt. Es gibt keine Infrastruktur, es ist schwierig, Jobs zu bekommen, die Kinder auf die Schule zu schicken. Deshalb wollen wir, dass die leeren Häuser ihre soziale Funktion erfüllen, denn hier im Zentrum können die Leute arbeiten, ihre Kinder zur Schule schicken, es gibt Krankenhäuser in der Nähe“, erklärt Ivanete das Anliegen ihrer Gruppe.
Die Besetzung in Prestes Maia war ein wichtiges Symbol für die MSTC, auch wenn es nicht das einzige besetzte Haus der Bewegung war. Es befindet sich in der Region um den alten Bahnhof Luz, früher einmal das kommerzielle Zentrum der Stadt, das nun reformiert werden soll. Das Viertel soll nach dem Willen der Stadtregierung an den alten Glanz anknüpfen. „Aber wir wollen keine Gentrifizierung. Die Reichen sollen da ruhig wohnen, aber auch wir Armen haben das Recht, in dieser Region zu leben!“ erzählt Ivanete. Doch die Bauprojekte der Regierung sehen kaum Sozialwohnungen vor, dafür aber viele Eigentumswohnungen und Shoppingcenter für die obere Mittelklasse.
Die Besitzer von Prestes Maia 911, Paulo Hamuche und Eduardo Amorim, schulden der Stadt Steuern in Millionenhöhe. „Die Stadt sollte das Gebäude enteignen und Sozialwohnungen daraus machen“, findet deshalb Ivanete. Auch wenn der Verlust der Besetzung ein Rückschlag für die MSTC war, konnten immerhin die meisten Familien im Zentrum in Sozialwohnungen unterkommen. Doch das war das Resultat langer Kämpfe der MSTC.
„Prestes Maia sollte mehrfach geräumt werden. Juristisch heißt das ‚Reintegration des Besitzes‘. 2006 bis 2007 war das turbulenteste Jahr für die Familien, die in dem Gebäude lebten. Wir wurden von der Polizei unter Druck gesetzt. Die Regierung erklärte uns, dass sie nicht verantwortlich für die fast 500 Familien sei, die in Prestes Maia lebten und die obdachlos geworden wären, hätten sie einfach geräumt“, erzählt Ivanete. Aus diesem Grund kampierten Mitglieder der MSTC ab dem 6. Februar 2007 für 16 Tage vor dem Rathaus. Eine Delegation fuhr sogar bis nach Brasília, um gegen die anstehende Räumung zu demonstrieren oder um zu erreichen, dass die Regierung Geld für die Familien bereitstellt, damit diese in Sozialwohnungen im Zentrum unterkommen können.
Bei diesen Kämpfen war internationale Solidarität sehr wichtig, erzählt Ivanete. „Wir wurden sehr gut von amnesty international unterstützt. Sie organisierten eine Eilaktion“ Von überall aus der Welt schickten Menschen Postkarten an die Stadtregierung, um gegen deren Vorgehen zu protestieren. „Danach sahen die uns mit anderen Augen. Vorher hätten sie uns einfach auf die Straße gesetzt, sie hätten angenommen, dass das keiner mitbekommt. Aber so waren sie vorsichtiger, die Stadtregierung gab uns plötzlich Geld.“
So bekam die MSTC am 20. Mai 2007 22 Millionen Reais (etwa sieben Millionen Euro) vom Nationalen Fonds für Wohnungen mit sozialem Interesse (FNHIS). „Viele Buchstaben für wenige Resultate“ ist Ivanetes Kommentar zu diesem Namen. Jede Familie bekam 27.000 Reias. Damit sollten die Familien in Prestes Maia sich eine vernünftige Wohnung kaufen können. Derzeit wird die Miete der ehemaligen BewohnerInnen von der Regierung aus einem Sozialfonds bezahlt. Aber 153 von den 495 Familien wollten ihre Wohnung sofort. Die bekamen sie auch, aber an der Peripherie. Eigentlich geht es der MSTC um Wohnraum im Zentrum, doch die Bewegung hielt die Familien nicht zurück. „Wir können schlecht den Familien sagen: ‚Nein, ihr müsst jetzt im Zentrum bleiben‘“, erklärt Ivanete. „Mit dem Geld, das wir bekamen, wollen wir Immobilien im Zentrum kaufen, um darin Wohnungen für Menschen mit geringen Einkommen einzurichten.“
Heute ist Ivanete de Araújo gewählte Beirätin für Wohnungsfragen beim Stadtrat. Der Sekretär für Wohnungsfragen bespricht sich mit ihr. Dabei ist sie aber immer parteiunabhängig. „Wir gehen zu ihnen, um unsere Forderungen zu stellen, egal ob mit Kassab jetzt ein rechter Bürgermeister regiert oder wie früher Marta Suplicy eine linke Bürgermeisterin“, sagt Ivanete. „Die Regierung akzeptiert nun, dass wir einen großen Teil der Bevölkerung São Paulos repräsentieren und dass sie uns nicht mehr ignorieren können.“
Doch das war nicht immer so. „Der frühere Sekretär für Wohnungsfragen verstand leider überhaupt nichts von der Wohnungssituation der Personen mit geringem Einkommen. Ihn interessierten nur Wohnungsprojekte für die Ober- und Mittelklasse“, erzählt Ivanete. Am Anfang der Regierung Kassab wurde Ivanete mehrere Male nicht in das Sekretariat für Wohnungsfragen hinein gelassen. Wenn sie in das Gebäude kam, wurde sie von Sicherheitskräften oder der Polizei eskortiert. Die Regierung interessierte sich nicht für die Belange der Obdachlosen, sie galten als ein Problem, das beseitigt werden muss. „Einmal sagte mir der Sekretär ins Gesicht: ‚Eure Probleme kann ich mit einer Kugel lösen!‘ Er ist nämlich ein Champion im Sportschießen. Dass muss man sich mal vorstellen! Das war sehr erniedrigend. Manchmal kam ich aus dem Gebäude raus und musste einfach weinen. Sie behandeln einen nicht wie Menschen, sondern wie Dreck“, berichtet Ivanete weiter.
Doch als sie zur Beirätin gewählt wurde, änderte sich das. „Als ich das erste Mal als Beraterin in das Gebäude kam, wollten mich erneut Sicherheitsleute eskortieren, doch deren Chef sagte, dass das nun nicht mehr nötig sei. Das war ein großer Sieg für mich, auch wenn ich nur meine normalen Rechte erreicht habe“, erzählt sie stolz.
Und wie geht es weiter mit der MSTC? „Wir werden weiter im Zentrum von São Paulo besetzen. Es geht um das Leben und die Würde der Familien, die in den besetzten Häusern leben. Und auch wenn es ein schwieriger Weg ist, werden wir ihn weiter gehen“, sagt Ivanete entschlossen. Der Kampf um menschenwürdiges Wohnen der Armen in São Paulo ist lange nicht vorbei. Währenddessen steht das Haus in der Prestes Maia 911 weiter leer. „Das beobachten wir. Wenn nicht bald etwas mit dem leeren Gebäude passiert, werden wir vielleicht wieder aktiv werden…“

// Thilo F. Papacek

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