Nummer 360 - Juni 2004 | Sachbuch

Den Terror bezwingen

Ariel Dorfmans brillanter Essay über die Verhaftung Augusto Pinochets

Einst war er Berater der sozialistischen Regierung unter Allende. Seit dem Militärputsch von 1973 lebt Ariel Dorfman als Autor im Exil. In seinem Essay „Den Terror bezwingen“ berichtet er detailliert über die juristischen Aspekte im „Fall Pinochet“.

Michael Krämer

Esto tiene que ser un sueño. Das muss ein Traum sein.“ Zunächst kann Ariel Dorfman die Nachricht kaum glauben. Was sich zehntausende Opfer der Militärdiktatur kaum mehr zu erträumen gewagt hatten, war Wirklichkeit geworden. Auf Antrag des spanischen Untersuchungsrichters Baltasar Garzón verhaftet Scotland Yard am 16. Oktober 1998 den chilenischen Ex-Diktator Augusto Pinochet in der London Clinic, wo er sich einer Rückenoperation unterzogen hatte. Siebzehn spannende Monate folgen, in denen um Pinochets Auslieferung nach Spanien verhandelt wird.
Die lange Anklageliste umfasst hunderte Fälle von Mord, Folter und das Verschwindenlassen politischer Gegner. Doch nachdem die Rechtmäßigkeit des Auslieferungsersuchens endgültig festgestellt wird, erlaubt der britische Innenminister Straw dem „Englischen Patienten“ aus gesundheitlichen Gründen die Rückkehr nach Chile. Was zuvor ausgeschlossen schien, wird nun aber auch in Chile möglich. Der mutige Richter Juan Guzmán erhebt Anklage gegen Pinochet. Der Traum eines Gerichtsverfahrens erfüllt sich letztendlich nicht – der greise Ex-Diktator kann sich mit einem umstrittenen Gutachten, das ihm Altersdemenz bescheinigt, vor einem Verfahren retten.
Augusto Pinochet wird für die zahlreichen Verbrechen, die er begangen und zu verantworten hat, nicht verurteilt. Doch das juristische Tauziehen um den Ex-General, zuerst in England und dann in Chile, bleibt keineswegs folgenlos. Immer mehr Menschen in Chile fordern die Gerechtigkeit ein, die ihnen und anderen so lange Jahre verwehrt wurde. Vor allem aber verlieren sie ihre Angst. Viele sprechen erst jetzt, nach jahrzehntelangem Schweigen, erstmals darüber, was sie während der Militärdiktatur erlitten haben, und berichten über ihre Haft und die Folter, die sie erleiden mussten.

Die Demontage des Mythos Pinochet
Der Autor Ariel Dorfman, einst Berater der sozialistischen Regierung unter Allende und seit dem Militärputsch von 1973 im Exil, berichtet detailliert über die juristischen Aspekte im „Fall Pinochet“. Vor allem aber lässt er den Leser daran teilhaben, wie der Mythos Pinochet, der Ruf seiner Unangreifbarkeit demontiert wird und die Menschen in Chile sich nach und nach aus der Geiselhaft des Ex-Diktators befreien. Auch Dorfman selbst muss sich vom „langen Schatten General Pinochets“, so der Untertitel seines Buches, lösen. Das Schreiben ist ebenso wie das Erinnern Teil dieser Therapie.
Weltweit bekannt wurde Dorfman durch sein von Roman Polanski verfilmtes Theaterstück „Der Tod und das Mädchen“. Darin glaubt Paulina, eine ehemals politisch Verfolgte, ihren Folterer und Vergewaltiger wiederzuerkennen. Die Militärs haben abgedankt, doch die neue Regierung lässt die Täter von einst in Ruhe. Paulina beschließt, selbst zur Richterin zu werden.
Dorfmans Drama weist deutliche Parallelen zur Entwicklung in seinem Heimatland Chile auf. Dies zeigt auch sein neues Buch: Vehement kritisiert er die „selektive Amnesie“ der Regierung, wenn es um die Verbrechen der Militärs geht. Einige sozialistische Mitglieder der Regierung wurden selbst von den Generälen verfolgt. Trotzdem stehen sie einer Aufklärung dieser Verbrechen ablehnend gegenüber, da diese die nationale Versöhnung behindern würde. „Im Fall Chiles“, so Ariel Dorfman, „erkannte die neu gewählte demokratische Regierung nicht, dass dieses mythische Zusammenwachsen einer gespaltenen Nation möglicherweise nicht durch das Verdrängen des Leids der Vergangenheit erreicht werden kann. Sie erkannte nicht, dass die völlige Straffreiheit, die dem ehemaligen Diktator zuteil und seinen Gefolgsleuten gewährt wurde, zur Aushöhlung des Rechts führte und zu einer Hypothek auf unsere Zukunft.“
Nicht die demokratische Regierung Chiles war es also, welche die Hy
Pinochet anging, sondern ein spanischer Untersuchungsrichter. Ein Manko in der weiteren Auseinandersetzung um die Erinnerung in Chile selbst. Für deren Ausgang bedeutet die vorübergehende Verhaftung des Generals einen wichtigen Etappensieg, doch ist damit noch nicht entschieden, welches Bild des Diktators später einmal bestimmend sein wird. Dorfman ist optimistisch genug, um zu prophezeien, dass Pinochet „die Schlacht um die Erinnerung an ihn, wie er nach seinem Tod im Gedächtnis der Menschen haften bleibt“, nicht mehr gewinnen kann. Dem Schriftsteller bleibt die Hoffnung, „dass ‘Pinochet’ ein Schimpfwort für kommende Generationen sein würde“. Ausführlich streut Dorfman in das Buch Erinnerungen an die zahlreichen Opfer des Diktators. Männer und Frauen, die gefoltert und ermordet wurden, und häufig zu den Freunden Dorfmans zählten. Gleich einem Versprechen entreißt der Autor ihre Geschichten dem Vergessen, und führt so seinen Kampf gegen Pinochet weiter.
Neben den juristischen Aspekten und dem Ringen um die Erinnerung widmet sich Dorfmann noch einem dritten Thema: In der Verhaftung Pinochets sieht er einen enormen Erfolg für die Weiterentwicklung des Internationalen Rechts und die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte. In Zukunft könnten die Tyrannen dieser Welt nicht mehr so leicht auf Straffreiheit hoffen.

Der Druck auf die Tyrannen wächst
Dabei ist er sich durchaus bewusst, dass die Durchsetzung des Rechts stets auch von der Stärke eines Landes abhänge. Als Negativbeispiele führt Dorfman China und die USA an. Das Massaker auf dem Tiananmen-Platz blieb genauso ungestraft wie die Verminung von Häfen in Nicaragua durch die CIA einige Jahre zuvor. Die USA haben bis heute nicht einmal den Internationalen Strafgerichtshof anerkannt. Doch es sei „ermutigend, dass die Verfolgung Pinochets zu einem Modell und zum Ansporn für andere geworden ist.“ Und kleine Erfolge gäbe es bereits, auch hinsichtlich des Putsches gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Allende. Dorfman führt das Beispiel von Ex-US-Außenminister Kissinger an, der eine Reise nach Brasilien abgesagt hatte, weil Richter Garzón ihm wegen dessen Rolle bei der Errichtung der Diktatur 1973 in Chile mit Verhaftung droht.

Ariel Dorfman: Den Terror bezwingen. Der lange Schatten General Pinochets. Aus dem Englischen von Ulrike Borchardt. Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2003, 191 Seiten, 15 Euro.

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