Literatur | Nummer 299 - Mai 1999

Der diskrete Charme des großen A.B.C.

Nachruf auf den letzten Aristokraten der argentinischen Literatur

Am 8. März starb im Alter von 84 Jahren Adolfo Bioy Casares, der, neben Übervater Jorge Luis Borges (sogar bisweilen in dessen Schatten stehend), zu einem der originellsten Literaturschaffenden Argentiniens wurde. Ein Gentleman, der seine Figuren, allesamt „kleine Leute“, zwar sich selbst überließ, dabei aber nicht vergaß, ihnen geneigt zuzuzwinkern.

Rike Bolte

Bioy Casares kann als einer der profiliertesten Portraitisten der Stadt Buenos Aires und ihrer Bewohner gelten. Diesen geht es, wenn sie die Instanz seiner literarischen Adaptation passiert haben, nur solange gut, wie sie ihr Zimmer und am besten auch ihr Bett erst gar nicht verlassen – „Weil die Menschen nicht zu Hause bleiben, stolpern sie ins Unglück“, heißt es im Diario de la guerra del cerdo (Tagebuch des Schweinekriegs) von 1969. Er genoß eine frankophile Erziehung wie sie für die argentinische Elite der ersten zwei Dekaden des 20. Jahrhunderts typisch war und wurde früh an die „große“ Literatur herangeführt. Aus der intensiven vielsprachigen Lektüre der großen Klassiker und Modernen schälte sich eine große Hingabe an den angelsächsischen Kriminalroman und schließlich 1928 eine erste eigene Kriminalgeschichte phantastischer Ausprägung (Vanidad o una aventura terrorífica) heraus. Dennoch und trotz alles Elitären schuf Bioy Casares im Grunde eine literarische Welt der kleinen Leute, die seine „Helden“ wurden.

Die Tücke desselben Atemzugs

Ein Name ist mit Bioy Casares beinahe untrennbar verbunden: Jorge Luis Borges. Kein Text über Ersteren, in dem nicht Letzterer Erwähnung finden würde. 1932 lernt A.B.C. Borges, damals Vertreter der aufsehenerregenden Avantgardegruppe Florida, kennen, beginnt mit ihm die Zeitschrift Destiempo herauszugeben und findet in ihm einerseits einen Kumpanen, mit dem er die Lektüre der Welt als ein mit Rätseln gespicktes Universum teilen kann, andererseits aber auch einen Konkurrenten, von dem er sich Zeit seines Lebens immer wieder emanzipieren muß. Dies ist eine Konstellation, die er durch seine häufige Co-Autorenschaft mit Borges zwar aktiv mitgestaltet, die sich aber auch verselbständigt, je mehr Borges zum (Universal-)Literaturpapst avanciert. Wohl können beide, Bioy Casares wie auch Borges, als Autoren gelesen werden, die mit ihrer Würdigung der englischen Literatur ein gemeinsames Ziel verfolgen; da sind sie fast verwandt. Doch wird Adolfo Bioy Casares von einigen Literaturkritikern schon seit den fünfziger Jahren als selbständiger Romancier international zur Kenntnis genommen, insbesondere in der französischen Literaturkritik.
Hier wären etwa die begeisterte Aufnahme von Morels Erfindung (deutsch 1965) in der Zeitschrift Critique (Nr. 69, 1953) oder die Einschätzung durch Blanchot in Le livre à venir zu erwähnen. Die Publikation des Tagebuch des Schweinekriegs machte ihn vor allem bei der Leserschaft in Buenos Aires sehr populär. Tatsächlich hat es auch Stimmen gegeben, die behaupteten, Bioy Casares sei „besser“ als Borges, da „vollständiger“ und weniger weltfremd… Schließlich ist neben der vielkritisierten politischen Haltung von Borges das Schreiben von Bioy Casares ein gesellschaftskritisches par excellence.
Auch muß noch bewiesen werden, ob Borges nur Bioy Casares’ Vorbild ist, oder ob nicht auch der umgekehrte Fall zutrifft: daß in den koproduzierten Werken eher Bioy Casares’ Handschrift zu erkennen ist als die von Borges.
Kurz nach Beginn der Zusammenarbeit mit Borges ereignete sich eine andere, für seine sentimentale, aber auch seine schriftstellerische Zukunft existentielle Begegnung: 1940 heiratet er die Schriftstellerin Silvina Ocampo. Neben erfolgreichen Publikationen unter seinem eigenen Namen veröffentlicht Bioy Casares lange vor der postmodernistischen Denunziation des individuellen Autors mit beiden zusammen: mit Borges unter den Pseudonymen H. Bustos Domecq und Suárez Lynch (nach einer ersten Koproduktion in Gestalt einer Broschüre über geronnene Milch!) die Krimiparodien Seis problemas para Don Isidro Parodi (1942; dt. Übersetzung 1969: Sechs Aufgaben für Don Isidori Parodi) und viele andere; mit Silvina Ocampo zusammen den Kriminalroman Los que aman, odian (1946).

Der Mensch und seine Grenzen

Im Jahr 1948 nimmt seine Karriere immer rasantere Züge an, auch in Form von Verfilmungen und Übersetzungen. Bioy Casares selbst sogar meint, seinen Stil in der Sprache und vor allem im Inhalt gefunden zu haben. Er zeichnet besonders scharf die Diskrepanz zwischen dem, was seine Figuren wissen und beherrschen, und dem, was sich ereignet und was ihnen das Leben abverlangt – den Drahtseilakt der Menschen in ihrem Versuch, Würde und Souveränität zu bewahren. Sie können nicht so viel, wie sie wollen; bisweilen katapultiert Bioy Casares sie in eine groteske Winzigkeit hinein; die literarische Antwort, die er als adäquat betrachtet, ist die Abenteuergeschichte, die die Mißlichkeit der menschlichen Ohnmacht auf das Extremste darzustellen versteht.
Immer auch steht der Mensch in Bioy Casares’ Werk vor einem Rätsel. Das kann die Gestalt eines windigen Hauses annehmen, in das der Protagonist einzudringen sucht (im Gegensatz zu Borges erscheint das Rätsel oftmals auch in Gestalt einer Frau), oder auch die einer Insel, des Autors liebsten Ort, der – etwa in Plan de evasión – den Inbegriff des abgeschlossenen, abgeschiedenen Raumes darstellt. Dort zeichnet sich nicht nur die Limitation menschlicher Beweglichkeit, sondern auch die seiner Wahrnehmung ab – diskret grausam etwa in dem auf Stephen Prendicks Dr. Moreaus Insel basierenden Roman La invención de Morel. Dort wird der Protagonist zum Opfer einer scheinbar halluzinatorischen Wahrnehmung, als er nicht erkennt, daß eine Gruppe von Ferienbesuchern, die sich gelegentlich in Luft auflösen und aus dem Nichts wieder auftauchen, das Produkt eines dreidimensionalen Films sind, der im Rahmen eines wissenschaftlichen Experimentes auf die Insel projiziert wird. Es entstehen Subjekte: ein Fall von „insulärer Irritation“ und eine Parabel auf die menschliche Existenz, in der der Einzelne von seinem „Nächsten“ Inseln weit entfernt lebt, zu einer wirklichen Kommunikation unfähig.
Bioy Casares wollte die Ergebnisse seiner ersten Schaffensperiode zeitlebens vergessen machen, sein Werk begann für ihn erst mit der erfolgreichen Produktion La invención de Morel, deren ästhetisches und inhaltliches Programm er mit Plan de evasión (1945; deutsch: Fluchtplan 1977) und La trama celeste (1948) weiterführt und in El sueño de los héroes (1954) vollendet. Er hat es zudem immer abgelehnt, Reklame für sich selbst zu machen, ließ seinen literarischen Figuren den Vortritt und wußte auch, Kritik zu akzeptieren.
Die autobiographische Dimension stets meidend, publiziert er erst im Jahr 1994 seine Erinnerungen Memorias, die als eine persönliche Version des literarischen Lebensthemas von Rätsel und Enträtselung gelesen werden können. In den Memorias wird seine Neigung evident, jedem Aspekt des menschlichen Lebens auch etwas Vergnügliches zu entlocken. Für Bioy Casares besaß das Leben stets auch eine literarische Seite. Das hieß für ihn, daß alle Menschen – neben dem Mißgeschick, sterben zu müssen – ohne Ausnahme Helden waren.

Rike Bolte

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