Chile | Colonia Dignidad | Nummer 287 - Mai 1998

Der Fall Boris Weisfeiler und die Colonia Dignidad

Rätselhaftes Verschwinden im Auftrag des israelischen Sicherheitsdienstes?

Seit dem 5. Januar 1985 weiß niemand mehr von dem Verbleiben des US-amerikanischen Boris Weisfeiler. Eine Kette aus merkwürdigen Begebenheiten – bis heute ungeklärt – begleiten sein Verschwinden nahe der Colonia Dignidad.

Dieter Maier

Boris Weisfeiler, ein 1941 in Moskau geborener russischer Jude war begeisterter Wanderer und floh 1975 zu Fuß über Sibirien aus der UdSSR. Er wurde US-amerikanischer Staatsbürger und erhielt eine Professur für Mathematik an der Harvard-Universität. Seine Kollegen schildern ihn als „wirklichen Athleten“ und „streng konservativen“ Antikommunisten.
Am 25. Dezember 1984 flog Weisfeiler nach Chile. Im südchilenischen Antuco begann er eine seiner einsamen Wanderungen. Weisfeiler konnte kaum Spanisch. Während der mühsamen Unterhaltung mit einem Schafhirten deutete Weisfeiler auf seiner Landkarte auf sein Reiseziel San Fabian de Alico. „Aber San Fabian de Alico ist zufällig auch der Südzugang des unzugänglichen Eigentums der Colonia Dignidad“, heißt es später in einem vertraulichen US-Bericht. Nach einigen Kilometern Marsch wurde Weisfeiler von dem Bruder des Schafhirten gesehen, der dies den Carabinieros (bewaffnete Militärpolizei) meldete. Alle Fremden sollten dort gemeldet werden, hatte man ihm gesagt. Die Carabinieros veranlaßten, daß eine Armeepatrouille ausgeschickt wurde, die aus vier Soldaten bestand.
Am 5. Januar 1985 wurde Weisfeiler zum letzten Mal gesehen. Die Carabinieros schlossen aus Fußspuren und dem durchnäßten Rucksack, der am Ufer eines Flusses lag, daß er beim Versuch, diesen Fluß zu überqueren, ertrunken sei. Die Fundstelle ist etwa zehn Kilometer von der Colonia Dignidad entfernt.
Die US-Botschaft schickte daraufhin zwei „Konsularbeamte“, einen Mann und eine Frau in die Region. Die Frau war nach einem Zeitungsbericht Mitarbeiterin des CIA. Die US-Beamten konnten Weisfeilers Schicksal zwar nicht aufklären, stießen aber auf eine Reihe von Widersprüchen. So heißt es in ihrem Bericht – der nach der Freedom of Information Act freigegeben wurde, an vielen Stellen aus Geheimhaltungsgründen allerdings unleserlich gemacht wurde – daß ein Bauer, der ausgesagt hatte, in der Nähe des gefundenen Rucksacks Fußspuren gesehen zu haben, später einräumte, er habe diese Aussage unter Druck gemacht.

Berichte unleserlich gemacht

Aus einer verläßlichen Quelle erfuhren die US-Beamten, daß Weisfeiler versucht hatte, den Fluß an einer Stelle, wo es eine primitive Kabelfähre gab, zu überqueren, daß aber eine Gruppe Soldaten ihn daran hinderte. Der Fährmann hatte hingegen ausgesagt, er habe niemanden gesehen. Die US-Beamten bemerkten, daß die Carabinieros „äußerst besorgt darüber waren, daß politische Extremisten über die argentinische Grenze kommen könnten, um nach San Fabian oder San Carlos zu gelangen“.
Im April 1985 wurden drei und wenig später ein weiterer der fünf Carabinieros, aus der die Garnison in der abgelegenen Gegend bestand, versetzt; der fünfte wurde im August zwangsweise in den Ruhestand versetzt.
Der Besitzer des Hotels, in dem Weisfeiler zuletzt übernachtet hatte, sagte laut den US-Dokumenten, Weisfeiler habe seine Rechnung mit einer Visa-Card beglichen. Der Betrag wurde jedoch nie von Weisfeilers Konto abgebucht. Mitte 1985 hielt sich eine Gruppe von Agenten des CNI, der Nachfolgeorganisation der DINA, in der Gegend auf. Die chilenische Mathematikergesellschaft, die von Weisfeilers Kollegen um Hilfe gebeten worden war, antwortete mit einem wenig diplomatischen Schreiben: „Die Möglichkeit, daß Dr. Weisfeiler in die Colonia Dignidad gegangen ist, kann ausgeschlossen werden, denn diese ist mehr als 100 Kilometer von der Stelle entfernt, wo er zuletzt gesehen wurde“– eine offenkundige Fehlinformation.
In einem Telegramm der US-Botschaft in Santiago vom Oktober 1985 heißt es, der „Fall Weisfeiler nimmt eine sehr ernste Wendung“. Da das Dokument an vielen Stellen unleserlich gemacht wurde, wird nicht klar, worin diese Wendung besteht. Auf die Frage, ob Weisfeiler in der Colonia Dignidad verschwunden sein könnte, gab die US-Botschaft die Antwort, darüber wisse sie nichts. Im Januar 1988 sandte sie in Santiago ein vertrauliches Telegramm an das US-Außenministerium, in dem berichtet wird, daß ein Konsularbeamter am 8. Januar 1988 einzeln mit vier der Carabinieros gesprochen hatte, die zur Zeit des Verschwindens Weisfeilers in der Gegend stationiert waren. Offenbar waren diese auf das Gespräch vorbereitet worden. Sie machten keinen Hehl daraus, daß Weisfeiler „mehr als nur ein Tourist“ gewesen sei. Die Carabinieros widersprachen sich in einigen Punkten. Die vier Armeesoldaten, die Weisfeiler gesucht hatten, waren nie vernommen worden.
In seinem neuesten Buch „Colonia Dignidad – ein Reporter auf den Spuren eines deutschen Skandals“ (Frankfurt am Main, 1998) erwähnt Gero Gemballa ein internes Funkgespräch zwischen Sicherheitsleuten der Colonia Dignidad. Aus diesem Gespräch geht nach Gemballa hervor, daß die Colonia Dignidad Weisfeiler „unter die Kartoffeln“ und „auf den Friedhof“ gebracht hat (Seite 106). Ein ehemaliger chilenischer Heeressoldat, der angibt, innerhalb der Colonia Dignidad Dienst getan zu haben, teilte der US-Botschaft Ende 1997 in einem anonymen Brief seine Version des spurlosen „Verschwindens“ von Boris Weisfeiler mit. Nach dieser Version wollte Weisfeiler 1984/85 im Auftrag des israelischen Geheimdienstes Mossad den KZ-Arzt Josef Mengele aus der Colonia Dignidad herausholen. Eine chilenische Militärpatrouille habe ihn verhaftetet und einem Kommando der Colonia Dignidad übergeben. Paul Schäfer habe ihn „wild verhört“ und danach durch einen Genickschuß ermordet. Die US-Regierung nimmt den anonymen Hinweis ernst und hat eine gerichtliche Untersuchung verlangt. Dieser Prozeß wurde eröffnet. Der anonyme Brief ist Teil des Schriftsatzes der US-Botschaft.

Quelle: La segunda, 9.2.98, Ercilla 23.2.98 und die erwähnten, vom US-Außenministerium teilweise freigegebenen Dokumente.

KASTEN:
Leserbrief:

In Pinochets Sommerresidenz „veschwanden“ politische Gefangene
Pinochet ist nicht nur als Ex-Diktator und Oberbefehlshaber für das spurlose „Verschwinden“ politischer Gefangener verantwortlich, sondern auch als Hausherr. Dies berichtet ein ehemaliger chilenischer Offizier in mehreren unveröffentlichten Interviews, die eine Fülle überprüfbarer Einzelheiten enthalten und auf Band festgehalten sind. Nach diesem Bericht war Pinochets Sommerresidenz, ein Küstenort namens Bucalemu, in den Jahren 1974/75 einer der Orte, zu denen Gefangene gebracht wurden, die dann „verschwanden“. Sie wurden am Hubschrauberplatz dieser Residenz in Leinensäcke verpackt, in Hubschrauber (die französischen Pumas) verladen und von diesen aus ins Meer geworfen. Viele dieser Gefangenen kamen aus dem Lager innerhalb des nahegelegenen Militärstützpunktes Tejas Verdes, dessen Kommandant damals Geheimdienstchef Manuel Contreras war. Contreras war einige Zeit lang fast täglich in Bucalemu. Die Wachsoldaten von Tejas Verdes übergaben die Gefangenen in einer Garage rechts von der Einfahrt zur Residenz an eine Vernichtungseinheit des Geheimdienstes DINA. Der interviewte Ex-Offizier hat persönlich Gefangene dort abgeliefert. Es wurde auch gefoltert. Danach entschied die DINA, ob sie am Leben gelassen oder ermordet wurden. Einer der Offiziere, die mit diesem „Verschwindenlassen“ zu tun hatten, hieß Vitalua. Ein Offizier der Leibwache Pinochets, Javier Miguel Toro, war in dieser Zeit in Bucalemu stationiert und weiß ebenfalls über das „Verschwinden“ der Gefangenen. Auch der Militärarzt Dr. Orieto war häufig dort. Zu den Contreras unterstellten Offizieren in Tejas Verdes gehörte Juan Morales Salgado, der später Offizier des Geheimdienstes DINA wurde und die Leibwache Contreras’ befehligte. Morales hatte in den Wochen nach dem Putsch in Linares und anderen Orten Südchiles politische Gefangene „verschwinden“ lassen und war Verbindungsmann zur Colonia Dignidad.
F.P. Heller

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