Literatur | Nummer 394 - April 2007

Der General im Reich der Wörter

Gabriel García Márquez ist wahrscheinlich achtzig Jahre alt geworden

In unzähligen Klappentexten von García-Márquez-Büchern steht, er sei 1928 geboren. Erst 1978 erzählte García Márquez’ Vater, dass sein Sohn beim großen Bananenarbeiterstreik von 1928 schon über ein Jahr alt gewesen sei. García Márquez selbst kann sich nicht genau erinnern, und sein 60. Geburtstag wurde noch 1988 gefeiert statt 1987. Auch die LN standen nicht an seiner Wiege. Statt sich also den vertrauensseligen Gratulantinnen und Gratulanten anzuschließen, wagen wir einen ganz subjektiven Blick in ein paar seiner Bücher. Was nicht nur deswegen zu empfehlen ist, weil man dann für die Feier des 80. Geburtstags am 6. März 2008 schon mal gerüstet wäre.

Valentin Schönherr

Im spanischsprachigen Literaturbetrieb gibt es seit nicht allzu langer Zeit eine Jahrestagsmanie. Auch wenn man den Rummel mühelos noch steigern könnte – er hat bereits jetzt ein Maß erreicht, das nur schwer zu ertragen ist. Dass der runden Geburts- und Sterbetage gedacht wird, ist in Ordnung. Neu ist, dass auch andere Jahrestage abgefeiert werden, Nobelpreisverleihungen etwa (die chilenische Lyrikerin Gabriela Mistral wurde 1945 prämiert, folglich war 2005 Mistral-Jahr), oder die Ersterscheinungsjahre wichtiger Bücher. 2003 kam Juan Rulfos „Pedro Páramo“ dran (50 Jahre), 2005 wurde mit irrwitzigem Aufwand das Erscheinen des ersten Bandes des „Don Quijote“ (1605) bejubelt. Und nun Gabriel García Márquez mit dem Vierfachjubiläum: 80. Geburtstag, 60. Jahrestag der ersten Publikation (!), 40. Jahrestag von „Hundert Jahre Einsamkeit“, 25 Jahre Nobelpreis. Die spanische „Staatliche Gesellschaft für kulturelle Erinnerungsfeiern“ (es gibt sie wirklich) organisierte am Vorabend von García Márquez’ Geburtstag eine öffentliche Lesung von „Hundert Jahre Einsamkeit“, erste Leserin: die Vizeregierungschefin. In 16 Stunden wollte man es geschafft haben. Zwar hat sich die lesende Prominenz alle fünfzehn Minuten abgewechselt; ob im Publikum irgendjemand wirklich drei oder vier Stunden ohne Brummschädel durchgehalten hat, ist zu bezweifeln.
Aber man geht ja freiwillig hin. Was also ist falsch an solchen Aktionen? Nichts. Denn angesichts schwindender Leserzahlen und buchhandelsfreier Regionen (in Peru oder Mexiko gibt es außerhalb der großen Städte kaum noch ernstzunehmende Buchgeschäfte) sollte man alles dafür tun, um zum Lesen zu animieren. Und bei den gefeierten Stars geht es einmal nicht um Formel-1-Fahrer oder Glamourschauspielerinnen, sondern um (meist) wirklich gute Literatur aus einem Subkontinent, der immer noch vergleichsweise wenig wertgeschätzt wird. Dass García Márquez bei Neuerscheinungen sofort mit Millionenauflagen startet, schaffen die allermeisten Autorinnen und Autoren der Industrieländer nicht. Schießen wir also nicht den eigenen Leuten in den Rücken, freuen wir uns über ihren Erfolg.
Und sorgen wir dafür, dass wir über aller literarischen Eventkultur nicht das eigentliche Lesen vergessen. Es ist immer noch die individuelle Leseerfahrung, es ist das im eigenen Kopf neu entstehende Buch, es ist der veränderte Blick auf die Welt, es ist die unmittelbare, unplanbare Begeisterung für Geschichten, die Lust an klingender Sprache, die Befriedigung verschaffende Anstrengung beim Herausschälen eines Gedankens – es ist all dies, was den Kern des eigentlichen Lesens ausmacht. Events können bestenfalls näher an diesen Kern heranführen, können anregen, Appetit machen. Aber zu welchem Zeitpunkt mich ein Buch anspricht, und ob und warum es mich anspricht, ist nicht voraussehbar. Es ist völlig unabhängig davon, ob jemand 80 Jahre alt wird oder ob das, sagen wir, mexikanische Kulturministerium die Lektüre eines Buches für wichtig hält.
Von manchen Pressebeiträgen zu García Márquez’ Geburtstag angeregt, von anderen abgestoßen, habe ich mir zwei seiner Texte herangenommen. Ich habe zur selben Zeit nichts von Julio Cortázar gelesen (25. Todestag 2009), nichts von Juan Carlos Onetti (100. Geburtstag 2009), keinen Borges (25. Todestag 2011), und bei keinem von denen möchte ich bis zum Jahrestag warten. Nun aber, sei’s drum, García Márquez.

Faszination und Rausch

Die Erzählung „Ein sehr alter Herr mit riesengroßen Flügeln“ war einer der ersten Texte, durch die ich mich auf Spanisch hindurchgekämpft habe. Mit Anstrengung und Lust habe ich jedes dritte Wort nachgeschlagen, und ich war zutiefst fasziniert von jenem schlammverschmierten alten Engel-Mann, der vom Himmel gefallen ist und nun auf einem überschwemmten Hof liegt, sich von den herbeigeeilten Gaffern stumm beglotzen lässt und am Ende grußlos davonfliegt, „ein imaginärer Punkt am Horizont des Meeres“. Jetzt fällt mir auf, wir sehr auch ich damals beim Lesen auf den Engel „geschaut“ habe und wie wenig mich das Paar interessiert hat, auf dessen Hof er gelandet ist. Ihre Hilflosigkeit, sich auf so etwas Ungewöhnliches einzulassen wie einen wirklichen Engel, ihre unumstößliche Verankerung in der Abwehr des Fremden (sie lassen ihn draußen im Hühnergatter kampieren) und im Kommerz (sie verdienen am Schaugeschäft ganz ordentlich) sprechen mich diesmal viel stärker an.
Und dann lese ich zum ersten Mal den Roman „Der Herbst des Patriarchen“. Gabriel García Márquez schrieb ihn 1975, der große Erfolg von „Hundert Jahre Einsamkeit“ hatte ihn einige Jahre zuvor weltberühmt gemacht und ihm den Ruf eines „wunderbaren“ Fabulierers eingebracht. Man glaubte ihm nur zu gerne, wenn er die unglaubwürdigsten Dinge mit der größten Natürlichkeit erzählt und dazu behauptet, so sei das im Hause seiner Großeltern einst wirklich gewesen. „Der Herbst des Patriarchen“ nun erzählt ebenfalls von märchenhaften Dingen, aber in einem ungeheuerlichen, ganz und gar nicht gefälligen Duktus. Der Patriarch, ein uralt gewordener Diktator, herrscht unumschränkt, vor allem aber herrscht der Text diktatorisch über den Leser. In ganze sechs unnummerierte, unbetitelte Abschnitte ist das 270-Seiten-Buch unterteilt, absatz- und haltlos folgt Seite auf Seite, und die Sätze sind Monster von meist mehreren Seiten Länge, unabsehbar, unüberschaubar. Was bei anderen Büchern selbstverständlich ist: es sinken zu lassen, eine Pause zu machen, einen Abschnitt noch einmal zu lesen, all das geht hier nicht, denn man verliert unweigerlich den Faden. Man muss das Buch hintereinander weg lesen, muss es erleiden, muss damit zurechtkommen, dass viele Details wie ein Rausch an einem vorbeifliegen (wobei dann, wenn man sich die Mühe macht, eine Passage genau zu untersuchen, alles bis in den Nebensatz vierten, fünften Grades stimmt). Nicht einmal die Personen, die hier „ich“ sagen, sind miteinander identisch, auch die Zeitebenen verfliessen ineinander: Der Autor zwingt uns ins Labyrinth, er schwingt sich zum General auf, spielt Diktator, hat uns in der Hand.
Einziger Ausweg: man liest es gar nicht erst. Aber das wäre verteufelt schade um aufregende Stunden. Danke also, General.
P.S.: Der Patriarch im Roman erreicht ein „unbestimmtes Alter zwischen einhundertsieben und zweihundertundzweiunddreißig Jahren“. Da er bestimmen konnte, welche Uhrzeit es gerade war, war es ihm sicher auch ein Leichtes zu dekretieren, wann er Geburtstag hat. Schlussfolgerung eins: Wir haben dann zu gratulieren, wann García Márquez es anordnet. Schlussfolgerung zwei: Uns steht in den kommenden Jahren noch einiges bevor. Und sei es Lektüre.

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