Ecuador | Nummer 294 - Dezember 1998

Der „gewonnene Frieden“

Der Grenzkonflikt könnte nach und nach an Brisanz verlieren

Mit der Unterzeichnung eines Friedensvertrages zwischen Ecuador und Peru am 26. Oktober 1998 ist die Hoffnung auf einen endgültigen Schlußstrich unter den seit der Unabhängigkeit der Staaten schwelenden Grenzkonflikt so berechtigt wie nie zuvor. Allerdings bestätigt der Vertrag das sogenannte Protokoll von Rio de Janeiro, einen Schiedsspruch der vier Garantenstaaten Brasilien, Argentinien, Chile und den USA aus dem Jahre 1942, mit dem bereits damals eine tragfähige Lösung erzielt werden sollte. Ganz im Gegenteil belastete dieser Vertrag „über Frieden, Freundschaft und Grenzen“ die bilateralen Beziehungen in den folgenden Jahrzehnten um so mehr. Und auch das neue Urteil hat seine Feuertaufe noch vor sich.

Elisabeth Schumann

Alles hat seine Zeit.“ Mit diesen feierlichen Worten begann Ecuadors Präsident Jamil Mahuad seine Rede anläßlich der Unterzeichnung des ecuadorianisch-peruanischen Friedensvertrages am 26. Oktober in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia. Daß die Zeit des Friedens allerdings so schnell kommen würde, können viele noch immer nicht so richtig glauben. Nur 77 Tage nach seinem Amtsantritt am 10. August besiegelte Mahuad per Händedruck mit seinem peruanischen Amtskollegen Alberto Fujimori das Ende eines Grenzkonflikts, dessen Ursachen bis in die Kolonialzeit zurückreichen und der die Beziehungen der beiden Andenstaaten in den letzten 168 Jahren dominiert hat.
Sicherlich: Dieser Friedensvertrag ist undenkbar ohne die langfristige Annäherungspolitik der beiden Staaten seit Ende der 80er Jahre, die 1992 den ersten Besuch eines peruanischen Staatsoberhaupts in Ecuador möglich machte. Oder ohne die bilateralen Kommissionsgespräche und konkreten Verhandlungen seit Februar 1995 nach der letzten militärischen Eskalation in der Cordillera del Cóndor. Und auch das diplomatische Engagement der vier Garantenstaaten Argentinien, Brasilien, Chile und den USA hat entscheidenden Anteil an dem Vertragsabschluß; sie brach ten mit ihrer Vermittlung die ins Stocken geratenen Verhandlungen nun doch noch zu einem Abschluß.
Trotzdem hat Mahuad mit dem zügigen Abschluß der Verhandlungen beachtliche politische Durchsetzungsfähigkeit bewiesen – und auch eine gehörige Portion Mut. Denn anders als in Peru, wo die nicht demarkierte Grenze im Amazonastiefland in der öffentlichen Meinung zwar als lästiges, aber relativ unbedeutendes Übel wahrgenommen wird, ist der Grenzkonflikt in Ecuador das Politikum schlechthin: Bezugspunkt aller innen- und außenpolitischen Koordinaten und das heißeste Eisen, um das ecuadorianische Politiker einen Bogen machen – es sei denn, um ihre Kontrahenten des Vaterlandsverrats zu bezichtigen. Beide Seiten hatten sich im voraus dazu verpflichtet, den neuen Schiedsspruch der Garantenstaaten in jedem Fall und ohne Bedingungen anzuerkennen.

Das Recht des Stärkeren

Der Vertrag von Brasilia bestätigt das sogenannte Protokoll von Rio de Janeiro aus dem Jahre 1942, mit dem der Konflikt bereits damals ein- für allemal beendet werden sollte. Eben jenes Rio-Protokoll, das in ecuadorianischen Geschichtsbüchern unter dem „dunkelsten und tragischsten Moment der nationalen Geschichte“ firmiert und die Fronten zwischen den Nachbarstaaten in den darauffolgenden Jahren nur noch verhärtete. Das umstrittene Gebiet im Amazonastiefland wurde darin dem zweifellos militärisch überlegenen Peru zugesprochen, das zudem auch auf diplomatischer und wirtschaftlicher Ebene bedeutend mehr Gewicht in die Waagschale werfen konnte. Als Grenzverlauf legten die Garantenstaaten die Wasserscheide zwischen den Flüssen Río Zamora und Río Santiago fest. Für Ecuador bedeutete dieser Vertrag den Verlust von über 200.000 Quadratkilometern, fast die Hälfte des derzeit beanspruchten nationalen Territoriums, und darüber hinaus den Verlust des Amazonaszugangs. Obwohl der Artikel VI des Rio-Protokolls eine zusätzliche Regelung zu freiem Schiffverkehr und Handel im Amazonasbecken vorsah, existierte diese all die Jahrzehnte nur auf dem Papier.
Nachdem im Jahre 1947 mit dem Río Cenepa ein weiterer Flußlauf zwischen dem Río Zamora und Río Santiago entdeckt wurde, erklärte Ecuador das Protokoll auf einer Länge von 78 km für inejecutable, nicht ausführbar. Peru hingegen forderte die Vertragserfüllung ein und lehnte die Revision des Rio-Protokolls grundsätzlich ab. Nachdem Ecuadors fünffacher populistischer Präsident Velasco Ibarra in den 60er Jahren im Wahlkampf offensiv die These der nulidad, der Ungültigkeit der Rio-Protokolls, vertreten hatte, rückte die Hoffnung auf eine gütliche Einigung in weite Ferne.

Augenmaß in der Politik

Der jetzige Friedensvertrag von Brasilia bestätigt als Grenzziehung in der Cordillera del Cóndor eben diese Wasserscheide, jedoch auch Ecuadors Recht auf den Amazonaszugang. Das Teilabkommen über Handel und Schiffahrt bildet deshalb gewissermaßen das Rückrat des zukünftigen Friedens. Denn außer entscheidendem geostrategischen und ökonomischen Potential gibt der ausgehandelte Kompromiß Ecuador die Möglichkeit, von unrealistischen Forderungen nach Quadratkilometern abzurücken, ohne die vielbeschworene Identität als Amazonasanrainer – „Ecuador ha sido, es y será país amazónico“ – Ecuador war, ist und bleibt ein Amazonasland – aufzugeben.
Von der Umsetzung des Handelsabkommens wird deshalb auch die Tragfähigkeit des Friedensvertrages abhängen. Zunächst einmal muß der Friedensvertrag jedoch von den beiden Kongressen ratifiziert werden. Und da der unerwartete Alleingang der beiden Präsidenten in Sachen Frieden für einigen Unmut in den Reihen der PolitikerInnen gesorgt hat, ist dies mehr als eine reine Formalie. Auch in der peruanischen Bevölkerung ist die Stimmung nicht nur positiv: In der peruanischen Amazonasstadt Iquitos rief die Frente Patriótico de Loreto zu Protesten gegen das Friedensabkommen auf, durch das sie ihre ökonomischen Interessen im Amazonasbecken gefährdet sieht. Im Anschluß an einen Protestmarsch wurden mehrere Häuser geplündert und niedergebrannt, bis die Polizei sich einschaltete und die Menge mit Tränengas auseinandertrieb. Drei Menschen kamen dabei ums Leben, mehrere wurden verletzt. Auch in Lima gehen die Protestkundgebungen weiter.
Noch ein weiteres Zugeständnis der Garantenstaaten an Ecuador sorgt dafür, daß nach ersten Umfragen des peruanischen Privat-Instituts Imasen rund 82 Prozent der Bevölkerung Perus mit den Inhalten des Friedensvertrages nicht ganz einverstanden sind. Ein Quadratkilometer inmitten des peruanischem Urwalds wurde Ecuador als extra-territoriales Privateigentum, nicht aber als staatliches Hoheitsgebiet im eigentlichen Sinne zugesprochen. Diese kurios anmutende Regelung birgt einigen Sprengstoff, handelt es sich doch nicht um irgendeinen Hügel, sondern den ecuadorianischen Militärstützpunkt Tiwintza, der in der kriegerischen Auseinandersetzung Anfang 1995 erfolgreich verteidigt wurde und seitdem in Ecuador als Inbegriff der nationalen Würde, der Dignidad de un Pueblo gilt.

Modell Transitstrecke

Dieser mit höchster Symbolik schwer beladene Quadratkilometer sorgte für einige Irritationen, denn der ecuadorianische Präsident Mahuad und Außenminister José Ayala Lasso wollten und konnten ihn nicht kampflos räumen. Unter anderem war dies der Grund dafür, daß der peruanische Außenminister Eduardo Ferrero und mit ihm eine ganze Reihe namhafter peruanischer Politiker Mitte Oktober ihr Amt niederlegten, um gegen den Alleingang und „Schmusekurs“ ihres Präsidenten Fujimori zu protestieren (vgl. LN 293). Daß der „Japaner“ Fujimori peruanischen Grund und Boden „verschenkt“, ist für seine Gegner in der Tat ein gefundenes Fressen. Auch der Vorschlag der ecuadorianischen Militärs, dort ein Denkmal für die gefallenen Helden zu errichten, macht Tiwintza zu einem neuen möglichen Stein des Anstoßes, der die vorgesehene Regelung einer entmilitarisierten Zone und eines binationalen Naturparks untergraben könnte, zumal der Zugang nur über einen peruanisch kontrollierten Korridor möglich wäre. Die ecuadorianische Journalistin Susanna Klinkicht steht mit ihrer Meinung, Ecuador solle Tiwintza, nun da es ihm ja zugesprochen worden sei, an Peru zurückgeben und damit wahre Würde beweisen, allein auf weiter Flur.

Mal so, mal so – immer schwierig

Denn auch in Ecuador, wo die Erleichterung über den Friedensvertrag in der öffentlichen Meinung eindeutig überwiegt, reißen die Protestkundgebungen vor allem an der Küste nicht ab. Heftige Attacken seitens des populistischen Rechtsaußen und jetzigen Bürgermeisters von Guayaquil, León Febres-Cordero, hatte man ja eigentlich fast erwartet, war seine Präsidentschaft von 1984-1988 doch ein neuer Höhepunkt der ecuadorianisch-peruanischen Konfrontation. Aber daß auch der sozialdemokratische Ex-Präsident Rodrígo Borja, unter dessen Regierung 1988-1992 die Weichen für das heute mögliche Friedensabkommen gestellt wurden, Mahuad so kritisieren würde, zeigt einmal mehr, in welchem Maße das Thema Grenzkonflikt im politischen Diskurs Ecuadors an Realitätsbezug verloren hat und zum Selbstzweck geworden ist.

Über 300 km von der Realität entfernt

In der Tat verliert Ecuador durch den Friedensvertrag mit Peru die entscheidende Achse nationaler oder zumindest als national konstruierter Interessen. Zwar sind die Zeiten lange vorbei, in denen das Feindbild Peru in Form einer knochigen Klaue Schulhefte zierte, die aus dem Süden nach dem wehrlosen Vaterland grabscht, und „Peruaner“ ein gängiges Schimpfwort war. Doch die tiefe Überzeugung vom „hinterlistigen Verrat des vermeintlichen Bruderstaats“ wurde im nationalen Diskurs all die Jahrzehnte erfolgreich am Leben gehalten. Die überaus komplexe Geschichte des Konfliktes, in der auch innenpolitische und militärische Schwächen Ecuadors von Bedeutung sind, wurde auf wenige Mythen reduziert.
Deutlichstes Indiz für diesen nationalistischen Diskurs sind die offiziellen Landkarten Ecuadors des Instituto Geográfico Militar (IGM). Das Rio-Protokoll wird auf ihnen über 50 Jahren nach einer völkerrechtlich gültigen und de facto umgesetzten Entscheidung noch immer nicht anerkannt und die Wahrnehmung des „geraubten Landes“ im öffentlichen Bewußtsein somit tagtäglich untermauert. Die Karte, die in ihrer logoisierten Form im täglichen Leben durch Abbildungen an Wänden sehr präsent ist, zeigt die ecuadorianischen Grenzen vor und nach 1942 in ein und derselben Darstellung. Das ecuadorianische Staatsgebiet erstreckt sich deshalb im öffentlichen Bewußtsein bis zur peruanischen Amazonasstadt Iquitos, die mit über dreihundert Kilometern hinter der gemeinsamen Grenze nun wirklich erheblich von der Realität entfernt ist.
Der Friedensvertrag bedeutet für Ecuador deshalb als allererstes auch neue Landkarten, und zwar Darstellungen, die die Realität des „kleinen Landes“ anerkennen, anstatt in einem Atemzug das nationale Trauma der heraufzubeschwören. Ein Schritt, den der ecuadorianische Intellektuelle Benjamín Carrión bereits in den 40er Jahren angemahnt hatte. Stattdessen wurde der „Kastrationskomplex“ der Erben des Rio-Protokolls nach 1942 zur Basis der ecuadorianischen Selbstwahrnehmung.

Kastrationskomplex

Der ecuadorianische Soziologe Pedro Saad Herrería hatte treffend formuliert: „Nach 1942 waren wir ein Volk von Verlierern. Und zwar solche Verlierer, daß wir, wenn wir 1:0 gespielt hatten, uns eigentlich gar nicht so schlecht fanden. Daß wir fanden, wir hätten eigentlich fast gar nicht verloren. Sondern daß wir eigentlich sogar fast unentschieden gespielt hatten.“
Der amtierende ecuadorianische Präsident Jamil Mahuad hat mit seinen transparenten und doch bestimmten Positionen gegenüber Peru großes Gespür für die in diesem Fall innenpolitisch so besonders wichtige symbolische Politik bewiesen, die die Wunden des Rio-Protokolls im kollektiven Gedächtnis endlich verheilen lassen könnte. Denn, wie er in seiner Rede zur Vertragsunterzeichnung deutlich herausstellte: Der Friedensvertrag zwischen Ecuador und Peru ist nicht einfach ein Unentschieden. Er ist ein „gewonnener Frieden“.

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