Guatemala | Nummer 287 - Mai 1998

Der Krieg aus der Sicht der Opfer

Die „alternative Wahrheitskommission“ REMHI fordert ein Schuldeingeständnis der Täter

„Die Wahrheit ist, es sind so viele unschuldige Kinder gestorben. Sie wußten nicht einmal, wieso dies alles mit ihnen geschah. Wirklich, wenn man an einem dieser Orte vorbeikam, sah man überall Tote, sie hinterließen sie verstümmelt, dort ein Arm und da ein Bein. So war es.“ Der „Fall Nr. 3024“ passierte 1981 in dem kleinen Dorf Panacal, im Departement Baja Verapaz. Er ist Teil des Berichts Recuperación de la Memoria Historica („Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses“; REMHI), der am 24. April in Guatemala vorgestellt wurde.

Michael Krämer

Drei Jahre haben die MitarbeiterInnen von REMHI gearbeitet, um die schwersten Menschenrechtsverletzungen des Bürgerkrieges in Guatemala zu dokumentieren. 600 eigens für dieses Projekt der Katholischen Kirche ausgebildete InterviewerInnen haben dazu mehr als 5.000 Zeugenaussagen gesammelt. „Das wichtigste Ziel unserer Arbeit war, die Geschichte des Krieges aus der Sicht der Opfer darzustellen“, erklärt der für das Projekt verantwortliche Bischof Juan Gerardi, der selbst von der Repression des Militärs betroffen war: 1981 mußte er mit seiner gesamten Diözese die Region des Quiché verlassen. Erst Mitte der achtziger Jahre konnte er aus dem Exil zurückkehren.
Mehr als 150.000 Tote forderte der Bürgerkrieg in Guatemala, der nach 36 Jahren Dauer am Ende des Jahres 1996 durch ein Friedensabkommen zwischen der guatemaltekischen Regierung und der Guerillabewegung URNG beendet wurde. Am schlimmsten war die Repression zu Beginn der achtziger Jahre, als das Militär im Kampf gegen die erstarkende Guerilla eine „Strategie der verbrannten Erde“ anwendete, in deren Verlauf hunderte Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, zehntausende Zivilisten ermordet und hunderttausende Menschen vertrieben wurden. Die Täter genießen bis heute Straffreiheit. Seit Verabschiedung eines „Versöhnungsgesetzes“ Ende 1996 sind alle Menschenrechtsverletzungen, die im Rahmen des Krieges begangen wurden, amnestiert.

Keiner Schuld bewußt

Auch Ex-General Efraín Rios Montt, in dessen Amtszeit als Präsident einer Militärregierung 1982/83 unzählige Massaker an der Zivilbevölkerung begangen wurden, muß kaum fürchten, daß ihm für seine Verbrechen jemals der Prozeß gemacht wird. Heute steht er an der Spitze der „Republikanischen Front Guatemalas“ (FRG) und macht sich Hoffnungen, erneut Präsident des Landes zu werden. Die Kandidatur wurde dem Massenmörder bislang verwehrt, da laut Verfassung niemand zum Präsidenten gewählt werden darf, der zuvor durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen war. Doch dies kann sich noch ändern, auch die derzeitige Regierungspartei PAN möchte einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ziehen. Oscar Berger, vermutlich der nächste Präsidentschaftskandidat der PAN, sprach sich kürzlich dafür aus, Rios Montt zur nächsten Wahl zuzulassen.
Verdrängen und Vergessen lautet die Devise, die Beschäftigung mit der Vergangenheit liegt nicht im Interesse der Regierung. Auch die offizielle „Wahrheitskommission“, die im Rahmen der Friedensabkommen beschlossen wurde und im Juli ihren Abschlußbericht vorlegen wird, ist für die Regierung von Präsident Arzú nur eine lästige Pflicht.
Diesem Verdrängen soll mit dem REMHI-Bericht entgegengearbeitet werden. Denn für die Opfer und Überlebenden des Krieges ist es enorm wichtig, sich Gehör zu verschaffen. Jahrelang waren sie zum Schweigen verurteilt – es war zu gefährlich, über die Massaker des Militärs auch nur zu sprechen. Weil die InterviewerInnen von REMHI meist selbst aus den betroffenen Gemeinden kamen, konnten sie den Menschen ihre Angst nehmen und sie dazu bewegen, über ihre Erfahrungen zu sprechen.
Die Wunden des Krieges sitzen tief, das Sprechen über die Vergangenheit war aber immerhin ein erster Schritt zur Verarbeitung des Erlebten. Die Tabuisierung der Repression hat die so wichtige Trauerarbeit in den vom Krieg betroffenen Gemeinden lange verhindert: „Oft konnten die Überlebenden nicht einmal die für sie so wichtige Totenwache für ihre ermordeten Angehörigen abhalten. Sie mußten befürchten, daß das Militär in diesem Moment neue Morde begeht“, erzählt der deutsche Anwalt Michael Moerth, der seit 1995 bei REMHI tätig ist.

Das Trauma der Überlebenden

Der Terror gegen wehrlose Männer, Frauen und Kinder hatte System. In rund der Hälfte der mehr als 400 untersuchten Massaker wurden gezielt Kinder ermordet, manche von ihnen noch Säuglinge. Diese Grausamkeit sollte die Überlebenden traumatisieren und den Zusammenhalt der Indígena-Gemeinden zerstören, um die verbleibende Bevölkerung in paramilitärisch organisierten sogenannten „Selbstverteidigungspatrouillen“ dem Willen der Militärs zu unterwerfen. Diese Patrouillen waren ein wichtiges Instrument zur Bespitzelung und Verfolgung der Bevölkerung.
REMHI will die Menschen auch weiterhin begleiten: Sei es durch Projekte zur psychosozialen Betreuung in den Gemeinden, Hilfestellung bei der Exhumierung von Massengräbern oder durch ein Mahnmal an der Kathedrale von Guatemala-Stadt, an dessen Eingang die Namen der mehr als 16.000 Opfer, die im Bericht erwähnt werden, auf Marmorplatten eingraviert werden. „Den Menschen ihre Würde zurückzugeben und das im Krieg zerstörte Netz sozialer Beziehungen neu zu knüpfen“, formuliert Bischof Gerardi als zentrale Herausforderungen für die zukünftige Arbeit von REMHI in den von der Repression betroffenen Gemeinden.
Doch auch Regierung und Staat sollen nicht aus der Verantwortung entlassen werden. Zuallererst, so eine der Forderungen des Berichts, müsse „der Staat öffentlich die Geschehnisse und seine Verantwortung für die massive und systematische Verletzung der Menschenrechte der guatemaltekischen Bevölkerung anerkennen.“ Gleiches wird von der Ex-Guerilla URNG verlangt, die während des Krieges ebenfalls Menschenrechtsverletzungen begangen hat und für mehrere Massaker an der Zivilbevölkerung verantwortlich ist. Das Anerkennen der Schuld seitens der Täter sei die Basis für eine Versöhnung, zu der viele Opfer durchaus bereit seien.
Darüber hinaus solle die Regierung die Opfer materiell entschädigen, schließlich haben die Menschen durch die Zerstörung ihrer Dörfer und die anschließende Flucht oft ihre gesamte Habe verloren. Dazu gehöre auch eine gerechtere Landverteilung, denn auf den großen Fincas, den Landgütern, auf denen die landarme oder landlose Bevölkerung zu arbeiten gezwungen ist, sind Menschenrechtsverletzungen auch heute noch alltäglich.
Es ist nicht zu erwarten, daß die Regierung dem REMHI-Bericht allzu große Aufmerksamkeit schenken wird. Die Empfehlungen des Berichts stehen der neoliberalen Regierungspolitik diametral entgegen und der Schutz der Menschenrechte hat für Präsident Arzú keine Priorität.

Medico International und das INKOTA-netzwerk (zu INKOTA siehe auch den Artikel auf den Seiten 41-44 dieser Ausgabe) haben die Veröffentlichung des REMHI-Berichts mitfinanziert. Für die Weiterarbeit von REMHI in den Gemeinden wird dringend Unterstützung benötigt. INKOTA bittet dafür um Spenden auf das Konto Nr. 155 500 0010 bei der Bank für Kirche und Diakonie (BLZ: 350 601 90). Stichwort: REMHI.

KASTEN:
Fall 2173, Buena Vista, Huehuetenango, 1981:

„Ich betete zu Gott, daß sie mich wenigstens zuerst töten würden, ich wollte nicht ansehen müssen, was sie mit meinen Kindern machen, denn sie machten es immer so: zuerst bringen sie die Kinder um, es war eine Art, die Leute zu foltern, die Eltern, und ich dachte all dies. Aber Gott sei Dank kam es nicht dazu.
Da gab es einen, der mit dem Leben davon kam. Seiner Frau haben sie das Kind rausgeholt, die war noch am Leben, und sie holten ihr das Kind raus, das sie erwartete – vor dem Ehemann und ihren Kindern, und die Frau starb und auch die Kinder. Sie haben sie getötet. Der einzige der überlebte, war der Mann, er entkam.“

Fall 8586, Aldea Ixcahin Nuevo Progreso, San Marcos, 1973:

„Als sie meinen Vater verhafteten, war ich zwölf Jahre alt, ich war das älteste Kind. Wir haben uns nicht getraut, etwas zu sagen, wir waren im Haus und weinten, als sie ihn herausholten. Kurz danach kam mein Vater zurück und sagte: Schau Mario, du mußt nicht weinen, ich komme gleich zurück; es war ungefähr zehn oder elf Uhr nachts, zu dieser Zeit ging ich in die 4. Klasse der Grundschule; am nächsten Tag ging ich in die Schule und sagte der Lehrerin, daß sie meinen Vater entführt haben und daß ich nicht mehr in die Schule ginge, weil es niemanden mehr gäbe, der mir Hefte kauft. Meine Stiefmutter ging nach Pajapita, um Arbeit zu suchen, und so blieb ich allein mit meinem kleinen Bruder. Eine Tante von mir, die Lorenza heißt, hat uns zu essen gegeben und auch die Nachbarn.
Kurze Zeit nach der Entführung meines Vaters, haben sie unser Haus niedergebrannt: in dieser Nacht waren wir zum Haus meiner Tante gegangen, um dort zu essen, und wir spielten mit einem Ball, meiner kleiner Bruder war schon vorausgegangen und als er am Haus ankam, wartete eine Gruppe Männer auf uns, sie hielten ihn am Nacken fest und fragten ihn: Bis Du Mario? Nein? Wir werden auf ihn warten. Ich war noch weiter weg. Sie begannen Benzin auf das Haus zu gießen. Ismael dachte, sie würden uns beide töten und dann dachte er sich, besser sie bringen nur mich um, ich werde laufen. Also stand er auf und sagte ihnen, er ginge pinkeln. Und sie sagten ihm: Bleib hier, pinkle hier vor uns! Und sie faßten ihn, aber er riß sich los, und sie schossen zweimal auf ihn, damit er nicht wegliefe, aber ihm war es egal, ob sie ihn töteten, um mir das Leben zu retten. Und das hat er gut gemacht, denn ich kam schon den Weg entlang. Ich hatte die Schüsse gehört und fragte mich, was da los sei. Da kam er weinend angelaufen, sie hatten ihn nicht getroffen! Ich lief ihm hinterher und fragte ihn: Hey, was ist los? Mario, sagte er, stell Dir vor, da wollen einige Männer mit Dir sprechen, aber sie wollen uns töten. Ich fing an zu zittern, wir waren unschuldig. Wir kehrten zum Haus der Tante zurück; als wir dort ankamen, sahen wir die Flammen, sie brennen unser Haus nieder! Unser Leben als Kind war voller Leid, sie haben uns nichts gelassen.“

Fall 5339, Plan de Sánchez, Baja Verapaz, 1982:

„An diesem Tag kam die Armee. Sie kamen aus dem Militärquartier von Rabinal. Im Morgengrauen gingen sie nach Plan de Sánchez hoch. Als sie die Gemeinde erreichten, sperrten sie die Wege auf beiden Seiten des Dorfes ab. Mitglieder der Zivilpatrouillen gingen jeweils zu zweit von Haus zu Haus und holten die Familien aus ihren Häusern. Als sie in allen Häusern waren, brachten sie die Familien in das Haus von Rosa Manuel, wo sie sie gefesselt haben: Männer, Frauen und Kinder. Alle Personen, die zum Markt gekommen waren: Leute aus Concul, Ixchel, Balanché, Raxjut, Joyá de Ramos, sie hatten ihre Waren dabei und dort blieben sie, tot. Ungefähr 180 Menschen sind an diesem Tag gestorben.
So begangen sie das Massaker: sie trieben alle Personen zusammen, Männer, Frauen, Alte, Kinder, Mädchen. Und da nicht alle in das Haus von Rosa Manuel paßten, holten sie die Mädchen zwischen 12 und 14 Jahren und brachten sie in ein anderes Haus, um sie zu vergewaltigen. Sie vergewaltigten 14 Mädchen, die 14 Jahre alt waren. Der Anführer der Zivilpatrouille war der Kommandant Díaz, der in Chol lebte. Die Kadetten baten beim Kommandanten um Erlaubnis, alle Leute, die sie versammelt hatten, durchsuchen zu dürfen. Sie nahmen ihnen ihr Geld weg, den Frauen alte Halsketten und Ringe, sie packten alles in einen Sack und nahmen es mit. Als sie ihnen alles weggenommen hatten, durchsuchten sie alle Häuser, sie begannen herumzuschießen, warfen eine Granate mitten in die Familien und schossen Maschinengewehrsalven auf sie. Das dauerte ungefähr drei Stunden, danach gossen sie Benzin auf das Haus, und sie zündeten die armen Seelen an.
Wir waren in der Nähe und sahen alles, was sie taten. Wir wurden zwei Jahre lang nach dem Tod unserer Familie verfolgt, und drei Jahre lang hatten wir kein Haus, wir lebten unter Bäumen. Aber hier sind wir. Sie haben unsere Häuser zerstört, unseren Besitz geraubt, die Tiere mitgenommen, das Maisfeld zerstört, sie haben uns Tag und Nacht verfolgt.“

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