Nummer 366 - Dezember 2004 | Uruguay

Der Mann, der im Stehen schläft

Der linke Senator José Mujica ist der Star der uruguayischen Politik

Während der Militärdiktatur kämpfte er im Untergrund. Demnächst wird der ehemalige Tupamaro und Mitbegründer der MLN (Nationale Befreiungsbewegung) für die Regierung rackern: José Mujica steht für eine neue Politik, und die Mehrheit der UruguayerInnen ist überzeugt, dass er sie nicht verraten wird.

Stefan Thimmel

Die Anekdote über den Beginn der Karriere des Abgeordneten José Mujica ist Legende. Nachdem er 1995 ins Parlament gewählt wurde und zur ersten Sitzung mit klapprigem Motorrad und abgewetzten Jeans, wie immer zerknittert und unrasiert, am Parlament ankam, verwies ihn der wachhabende Soldat auf den Hintereingang für Angestellte und fragte: „Wollen Sie lange bleiben?“ „Wenn Sie mich lassen, fünf Jahre“, antwortete „Pepe“, wie der ehemalige Tupamaro von Freund und Feind genannt wird.
Mujica ist der Star der uruguayischen Politik. Vor allem bei den Jugendlichen kommt er an. Diese neue Generation, die nicht mehr den ideologischen Ballast auf den Schultern hat und sich von den traditionellen Mustern lösen konnte, hat sich durch Mujica politisiert. Er ist der Anziehungspunkt, weil die Jugendlichen spüren, dass er sie nicht betrügen wird, er ihre Sprache spricht und sich auch schon mal bei seinen vielen blumigen deutlichen Ausdrücken im Stil vergreift.

Anarchische Authentizität
Mit seiner Biographie steht Mujica für eine anarchische Authentizität und Glaubwürdigkeit wie kein Zweiter. Kein anderer Politiker erreicht eine solche Breitenwirkung. Nur die rote Fahne der Liste 609 des Movimiento Participación Popular (MPP), deren Fundament die nach dem Ende der Militärdiktatur im Jahre 1984 gegründete Partei der ehemaligen Stadtguerilla Movimiento Liberación Nacional-Tupamaros (MLN) ist, findet sich sowohl auf den Mittelklassewagen aus den reichen Vierteln als auch auf den Karren der MüllsammlerInnen. Mujica vereinigt in seinem Stil viele Diskurse: Er spricht Jung und Alt an, StadtbewohnerInnen, marginalisierte Kleinbauern und Kleinbäuerinnen vom Land, Intellektuelle und sozial Ausgegrenzte.
Seine politische Karriere begann der heute 70-jährige Ende der 1950er Jahre in der Nationalpartei bei den Blancos. Schon bald orientierte er sich jedoch nach links und gründete zusammen mit dem legendären Raúl Sendic 1962 die MLN-Tupamaros. 1964 wurde er nach einem bewaffneten Überfall der Tupamaros erstmals verhaftet. Nach seiner Entlassung ging er in den Untergrund, wurde lebensgefährlich angeschossen und überlebte nur durch ein Wunder. Zweimal brach er aus dem bestgeschützten Gefängnis von Montevideo aus. Nach dem Militärputsch 1973 war er einer der neun so genannten „Geiseln des Staates“ (darunter auch Maurico Rosencof, Eleuterio Fernández Huidobro und Raúl Sendic) und musste viele Jahre in Einzelhaft unter unmenschlichen, unvorstellbaren Bedingungen verbringen. 1984 durfte er das Gefängnis verlassen und gründete mit anderen ehemaligen Gefangenen ein Jahr später die MLN neu. 1994 wurde er als Abgeordneter erstmals ins Parlament gewählt, 1999 dann als Senator bestätigt. Bis heute baut er gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Lucía Topolansky (ebenfalls in den 60er und 70er Jahren bei den Tupamaros aktiv) Blumen an, bis vor wenigen Jahren verkauften die beiden ihre Produkte noch mehrmals die Woche auf dem Markt.
Im neuen Parlament, dass am 1. März 2005 seine Arbeit aufnimmt, wird Mujica die unumstrittene Symbolfigur sein: Aus dem Gefängnis in die Regierung, und das ab März womöglich als Minister für Produktion. Als Senator wird er die MPP anführen, die allein sechs der 16 linken Senatoren stellt. Insgesamt wählten über 320.000 UruguayerInnen seine Liste, 100.000 mehr als für die Colorado-Partei stimmten.

Unumstrittene Symbolfigur
José Mujica wurde nach dem Wahlsieg gefragt, ob er sich jetzt ausruhen würde. „Nein, nein, ich ruhe mich nicht aus. Ich schlafe im Stehen. Ich habe viele Jahre im Knast verbracht und zwei Stunden nachdem ich draußen war, habe ich schon wieder gekämpft. Wie jetzt. Ich weiß nicht, was kommen wird, aber es wird ein Sturmwind sein. Ich weiß, dass es viel einfacher ist zu träumen, als etwas zu schaffen. Sicher wird es in Zukunft Frustrationen geben. Aber ich werde mein Volk nicht verraten.“ Vor allem für die Armen will sich Mujica in der Regierung einsetzen. Und obwohl viele Menschen ihre Zweifel daran haben, dass es nach dem Wahlsieg schnell aufwärts gehen wird, sind sie doch von der Ehrlichkeit Pepe Mujicas überzeugt. Die Mehrheit der UruguayerInnen glaubt daran, dass er sie niemals verraten wird.

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