Bolivien | Nummer 325/326 - Juli/August 2001

Der Mann des 20. Jahrhunderts

Zum Tod von Victor Paz Estenssoro

Mit 93 Jahren starb am 7. Juni 2001 der große alte Mann der bolivianischen Politik, der wie kein anderer die Geschicke des Landes in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bestimmt hat. Und dies nicht nur durch seine viermalige Präsidentschaft. Victor Paz Estenssoro hatte immer die Vision eines modernen Bolivien und führte mit seinen Vorstellungen mehr als einmal historische Änderungsprozesse an.

Moira Zuazo

Als Victor Paz 1908 das Licht der Welt erblickte, war der Bevölkerungsmehrheit das Betreten des Hauptplatzes von La Paz verboten, einzig und allein weil sie Indígenas waren. Schulen gab es für sie auf dem Land nicht, so waren sie weder des Schreibens noch des Lesens mächtig. Arbeiten musste die indigene Landbevölkerung ohne Entlohnung für die kleine Elite der mestizischen „Herren“, die Besitzer von fast allem nutzbaren Land waren. Schizophrenerweise träumte diese Oberschicht von einer „weißen Herrschaft“ und versuchte sowohl die eigene Abstammung als auch die Realität des Landes auszublenden.
Die Wirtschaft des Landes drehte sich um den Export von Zinn, der in den Minen des Hochlands gewonnen wurde. Im Tiefland Boliviens, das zwei Drittel der Landesfläche ausmacht, war der Staat ewig abwesend. So blieb in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die Mehrheit der Bevölkerung vom politischen und sozialen Leben ausgeschlossen.

Die Revolution von 1952

Neben Perón in Argentinien, Vargas in Brasilien und Haya de la Torre in Peru war Paz Estenssoro in den 50er Jahren einer der großen populistischen Führer Lateinamerikas, der eine der radikalsten Revolutionen zu jener Zeit anführte. Unter dem Motto „Das Land gehört denen, die es bearbeiten“, wurde den Indígenas nach mehr als 400 Jahren Kolonialherrschaft das Recht auf Landbesitz zurückerteilt.
Die Revolution von 1952 stellte die „Herren-Gesellschaft“ der Großgrundbesitzer in Frage und zerstörte den Staat, der diese stützte. Mittels der Volksmassen und eines subversiven Diskurses etablierte sich die MNR (Movimiento Nacionalista Revolucionario) von Paz Estenssoro damals als erste Volkspartei des Landes. Die Grundstützen bildeten zunächst die Minenarbeiter, die sich nun als Besitzer der verstaatlichten Minen fühlten, und die bewaffnete Landbevölkerung, die ihre neu erworbenen Rechte an ihrem Grund und Boden verteidigte. Diese Arbeiter-und-Bauern-Milizen wurden so zum sichtbarsten Symbol der Revolution. Der neue Staat zeigte sich einerseits kämpferisch und repressiv in seiner Art der Machtausübung, andererseits als Garant einer beginnenden Demokratisierung der Gesellschaft, die mit den tief greifenden strukturellen Umbrüchen eingeleitet wurde.
Inmitten dieses Klimas von Aufruhr und Revolution im Lande – und innerhalb der regierenden MNR zu Beginn ihrer Regierungszeit – zeigte sich Paz Estenssoro immer wieder als kühl berechnender Stratege, dem es in kritischen Momenten oft gelang, einen Ausgleich herzustellen und eine gewisse Ordnung aufrechtzuerhalten. So wurde verhindert, dass die Revolution sich selbst zerstörte. Auch wurden einige radikale Forderungen aufgegeben. Aus heutiger Sicht läßt sich jedoch feststellen, dass Paz Estenssoro immer eine langfristige Vision eines modernen Boliviens verfolgt hat, die sein gesamtes politisches Handeln leitete. So schuf die Revolution von 1952 mit der Agrarreform, der Einführing des allgemeinen Wahlrechts und von „Bauern-Schulen“ auf dem Lande die Grundlagen für einen Staat gleichberechtigter Bürger. Und erst auf dieser Grundlage war ein Prozess der Demokratisierung überhaupt denkbar.

Das Dekret 21060

Ein weiterer Meilenstein der jüngeren bolivianischen Geschichte ist ebenfalls aufs Engste verbunden mit der Person Victor Paz Estenssoros und fällt in dessen vierte Präsidentschaft (1985-89): Durch die Einführung einer strikten Fiskal-Disziplin und des neoliberalen Wirtschaftsmodells gelang es Victor Paz zu Beginn seiner Amtszeit 1985, die Hyperinflation von 26.000 Prozent zu stoppen und das Land damit vor dem völligen Wirtschaftschaos zu retten. Mittels des Dekrets 21060 wurde die freie Marktwirtschaft im Land eingeführt sowie die Privatisierung, insbesondere der Minen, verfügt – paradoxerweise von dem Mann, der drei Jahrzente zuvor die Verstaatlichung der Minen durchgesetzt hatte.
Die Wirtschaftsliberalisierung traf zunächst auf heftigen Widerstand und sozialen Protest, der von Paz Estenssoro bald gebrochen werden konnte. Zum Einen lag dies an der Unfähigkeit der Gewerkschaftsführer und linken Politiker, die im Anschluss an die Diktatur von García Meza seit 1982 das Land regierten und von der Mehrheit der Bevölkerung für die extremen wirtschaftlichen Probleme verantwortlich gemacht wurden. Auf der anderen Seite fanden Paz Estenssoro und die MNR insbesondere bei den Volkssektoren erhebliche Unterstützung. Sie trafen dort auf die Bereitschaft, sich an einen Tisch zu setzen und miteinander in Dialog zu treten. Dies sicherte dem neuen Modell die minimale notwendige Basis und garantierte dessen Funktionieren.

Demokratiem der Vereinbarungen

Gleichzeitig war Paz Estenssoro eine der zentralen Personen des politischen Dialogs mit der herrschenden Klasse. Mittels der so genannten „Demokratie der Vereinbarungen“ gelang es ihm, einen Weg zu finden, die politische Elite in den Demokratisierungsprozess einzubinden und das Einverständnis durchzusetzen, die zentralen Themen des Landes gemeinsam anzugehen. Hiermit wurde letztlich die Grundlage für die demokratische Stabilität der folgenden Jahre geschaffen.
Mit der Wahl von Paz Estenssoro zum Regierungschef am 6. August 1985 vollzog sich zum ersten Mal seit 26 Jahren ein demokratischer Regierungswechsel. Dieser politische Wechsel, der sicherlich der bedeutenste und grundlegenste seit der Revolution von 1952 war, veränderte die traditionelle Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft. 1994 erkannte Bolivien zum ersten Mal seinen Charakter als multiethnische, multikulturelle und vielsprachige Nation an. Durch die Verfassung konnten nun die in Bolivien lebenden Minderheiten der aymaras, quechuas und der guaraníes die bolivianische Staatsbürgerschaft erlangen. Anhand der Umverteilung von 20 Prozent des BIP auf die Gemeinden zeigte sich die Zielstrebigkeit der angestrebten demokratischen Dezentralisierung des Landes. Den Gemeinden übertrug die Regierung die Verantwortung für Gesundheit und Bildung und erkannte ferner die lokalen indigenen Autoritäten an.
Trotzdem hält auch 49 Jahre nach der Revolution von 1952 das Problem der sozialen Ausgrenzung an, einzig die Form hat sich geändert. Die Hausarbeit wird zwar mittlerweile entlohnt, jedoch untersteht sie nicht dem Arbeitsgesetz, welches eine Arbeitszeit von acht Stunden festlegt. Für MigrantInnen ist dies immer noch die hauptsächliche Art und Weise in der Stadt Fuß zu fassen und stellt darüber hinaus den Hauptbeschäftigungszweig für indigene Frauen im ganzen Lande dar. Aufgrund des hierarchischen Prinzips, das immer noch die gesamte bolivianische Gesellschaft durchzieht, ist der Oberschicht ein größerer Zugang zu Bildung, Arbeit und Einkommen gesichert. Diese diskriminierende Ideologie ist eines der zentralen Probleme für eine erfolgreiche Demokratisierung des Landes.
Paz Estenssoro zog sich in den 90er Jahren vollständig aus der Politik zurück und lebte abgeschieden in seinem Heimatdorf Tarija. Er nimmt Abschied von Bolivien in einem erneuten Moment der Krise und in einem Moment der Richtungslosigkeit und internen Zerissenheit innerhalb „seiner“ MNR. Gleichzeitig ist dies ein Abschied ein Jahr vor dem 50. Jahrestag der Revolution von 1952 und vor der Präsidentschaftswahl im Juni 2002.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren