Brasilien | Drogenhandel | Nummer 333 - März 2002

„Der nackte König“

Drogenhandel und gesellschaftlicher Sittenverfall in Brasilien

Seit Mitte der 1980er Jahre gilt Brasilien als klassisches Transitland für andines Kokain. Kriminelle Netzwerke, die in den Drogenhandel verstrickt sind und tief in die politische Klasse und das legale wirtschaftliche Leben hineinreichen, sind ausgemacht worden; billigere Produkte, wie Crack und pasta base werden in jeder brasilianischen Kleinstadt verkauft und konsumiert. Die Schwächung traditioneller Reproduktions- und Organisationsformen durch die offizielle Entwicklungsstrategie und die widerrechtliche Inbesitznahme staatlicher Institutionen durch klientelistische Netzwerke begünstigen den Drogenhandel und werden gleichzeitig durch ihn beeinflusst.

Regine Schönenberg

Seit Mitte der 1970er Jahre entwickelt sich der südamerikanische Kokainhandel zu einer Wachstumsbranche. Er prägt die Volkswirtschaften Kolumbiens, Boliviens, Perus und beeinflusst entscheidend die Formen, gesellschaftliche Konflikte auszutragen. Im ungleich größeren Brasilien zeichnet sich zu dieser Zeit das Ende der Modernisierungseuphorie ab: Das Land ist hoch verschuldet, mit Inflation und zahlreichen anderen Problemen belastet, so dass die Legitimität der Militärdiktatur rapide abnimmt. In dieser Zeit der Wirtschaftskrise konstituierten sich die heutigen kriminellen Netzwerke, die seit den 1990er Jahren den Kokainhandel unter sich aufteilen. Ihre Basis bildeten legale, informelle Aktivitäten wie Tierwetten, Edelholzhandel und illegale Tätigkeiten wie Goldschürfen, Schmuggel, Subventionsbetrug oder Geldwäsche.

Vorläuferaktivitäten

Drei Vorläuferaktivitäten des Drogenhandels sind hierbei besonders hervorzuheben: Erstens die traditionellen Tierwetten, die in Rio de Janeiro klientelistische Macht- und Umverteilungsstrukturen in den Slums förderten und im Laufe der 1990er Jahre fast vollständig von äußerst militanten Kokainbanden übernommen wurden. Zweitens die grenzüberschreitenden Netzwerke des Schmuggels mit Chemikalien für die Kokainherstellung von Brasilien nach Bolivien, Peru und Kolumbien, über die heute der Handel mit Kokain und pasta base abgewickelt wird. Und schließlich die Pilotennetzwerke, die sich in den 1980er Jahren rund um die zahlreichen informellen Goldfelder gebildet haben und den häufig wechselnden Handelsstrukturen und Routen eine stabile Grundlage bieten. Die Piloten haben den besten Überblick über eine Region der Größe Europas mit zahllosen inoffiziellen Privatpisten und agieren mit Leichtigkeit grenzüberschreitend.

Die Drogenhändler

Zu den Drogenhändlern zählen Menschen, die nichts zu befürchten, und Menschen, die nichts zu verlieren haben. Einer parlamentarischen Untersuchungskommission zufolge werden über 800 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mit dem Drogenhandel in Verbindung gebracht: angesehene Unternehmer und Politiker, die hohe Gewinnspannen einfahren und ein niedriges Risiko eingehen. Auf der anderen Seite stehen arme Migranten, Slumbewohner oder entwurzelte Mittelschichtsangehörige, denen niedrige Gewinnspannen und ein hohes Risiko bleiben. Die einen verfügen über ausgezeichnete Kontakte zu Polizeichefs, Richtern und Politikern, die anderen werden verhaftet oder erschossen. Gelegentlich tauchen Ausländer in den Gerichtsakten auf, jedoch als Akteure unter anderen und nicht als Chefs: Der Drogenhandel in und durch Brasilien ist fest in brasilianischer Hand.

Kokain als Puffer gegen Konjunkturschwankungen

Schätzungen zufolge existierten 1994 in Brasilien etwa 1.000 Crimegroups mit rund 250.000 Mitgliedern. Damit sind jedoch nur die registrierten Fälle organisierter Kriminalität erfasst, nicht dagegen die in vielen Regionen allgemein bekannte Integration von Kokain in die Produktpalette als Puffer gegen Konjunkturschwankungen. Auf Grund der hohen Gewinnspannen und der hohen Flexibilität der Handelsstrukturen eignet sich Kokain nämlich ausgezeichnet dafür, Krisen auszugleichen, die durch strengere Umweltkontrollen beim Edelholzhandel oder sinkende Kaffeepreise ausgelöst werden. Die geradezu traditionelle Straflosigkeit für oberen Klassen und die Möglichkeit, Strafen im Ernstfall auf „niedere Glieder“ des eigenen Netzwerkes abzuwälzen, sind sehr verführerisch und lassen das Geschäft als risikoarm erscheinen.

Orte des Drogenhandels

Bevorzugte Orte des Drogenhandels sind rechtsfreie Räume, in denen die Steuerungskapazität staatlicher Institutionen gering ist. In den verschiedenen Bundesstaaten wird je nach interner Aufteilung der Macht und des Verflechtungsgrads staatlicher Organe mit klientelistischen bis kriminellen Netzwerken in unterschiedlicher Intensität und Form mit Drogen gehandelt. Wichtige Knotenpunkte, wo die Routen geplant und die internationalen Kooperationen koordiniert werden, befinden sich vorzugsweise an Orten wie Maraba im Bundesstaat Pará, wo der Staat so weitgehend von kriminellen Netzwerken penetriert ist, dass keine Störungen mehr zu erwarten sind. In Rondonia ist einer der wichtigsten Wirtschaftssektoren, der Kaffeeanbau, ohne die Geldwäschelogik subventionierter Aufkaufspreise nicht rentabel, und in den entlegenen Regionen Amazoniens überlebt der Holzhandel nur mit Hilfe des Kokain-Zubrots. Doch auch schwächere Bevölkerungsgruppen wie Fischer an den Küsten Parás und Ex-Kautschukzapfer an der Grenze zu Bolivien, die vom Knappwerden natürlicher Ressourcen betroffen sind, betätigen sich zumindest übergangsweise als Kokainhändler.
Haupteingang der „Amazonasroute“ ist der gleichnamige Bundesstaat. Von dort gelangt das Kokain aus Bolivien, Peru und Kolumbien in den östlich gelegenen Bundesstaat Pará, von wo es häufig über Surinam nach Europa gelangt. Amazonas verfügt über ausgedehnte grüne Grenzen mit Kolumbien und Peru, Pará über geschäftige Häfen und Bundesstraßen. Beide Staaten haben hunderte geheime Urwaldflugpisten und sind insgesamt unkontrollierbar.
Im Süden des Landes ist der lokale Markt der großen Metropolen dominanter als die Logik des internationalen Drogenhandels. Größere Mengen werden gelegentlich in Containern in den Häfen entdeckt, kleinere Mengen verlassen täglich in den Körpern von so genannten mulas (Mulis), in der Regel TouristInnen aus Europa, per Flugzeug das Land. Mit Ausnahme der Slums in Rio de Janeiro ist das Drogengeschäft in Brasilien anders als in den Andenländern kein dominanter krimineller Sektor, sondern ein zusätzlicher.

Formen des Drogenhandels

Kokain wird als Beiladung und im Austausch zu allen erdenklichen legalen, geschmuggelten oder gestohlenen Produkten durch Brasilien und über die Grenzen transportiert: in Holz- und Fischcontainern, Lastwagen, in Autoverkleidungen, auf Fischerbooten, in Kleinflugzeugen oder einfach auf dem Rücken, in Schuhen, Früchten, Kühen und Windeln, und häufig auch in Menschen. Auch die Reichweite der Kontrolle über die Routenabschnitte variiert beträchtlich: Es gibt Netzwerke, die von Kolumbien nach Spanien reichen und sämtliche Serviceleistungen nebst Geldwäsche selbst übernehmen, Hehlerbanden, die Kokain als Währung benutzen, und schließlich Kleinunternehmer wie Fischer oder Taxifahrer, die einen kurzen Streckenabschnitt an ihrem Wohnort übernehmen. Eine Kartellbildung oder die exklusive Beschäftigung mit Drogenhandel wie sie vor allem in Kolumbien zu beobachten sind, gibt es in Brasilien abgesehen von den Slums in Rio de Janeiro nicht.

Der Kampf gegen die Drogen

Die Zuständigkeit für den nationalen Drogenhandel sowie die lokale Verteilung liegt bei der Zivil- und der Militärpolizei. Die Zuständigkeit für die Bekämpfung des internationalen Drogenhandels liegt bei der Bundespolizei.
Der Korruptionsgrad der Zivil- und Militärpolizeien liegt nach Einschätzung eines zuständigen Sicherheitsministers bei 80 Prozent, und die Lage der öffentlichen Haushalte ist katastrophal: ein Ermittler verdient etwa 400 Euro im Monat, ein einfacher Polizist 100 Euro. Das Benzin- und Telefongeld kommt meistens zu spät und ist nach einer Woche verbraucht, es gibt keine Fahrzeuge, kaum Computer oder Fortbildungen. Der Handlungsspielraum und die Ermittlungsziele hängen vollkommen vom lokalen politischen und sozialen Umfeld ab. Da die Polizeichefs in aller Regel Juristen sind, haben sie mit den örtlichen Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten zusammen studiert. Das heißt, der Informationsfluss läuft informell und zuverlässig. Versuche, klientelistische Loyalitäten durch Maßnahmen im Sinne von Gewaltenteilung zu untergraben, schlagen meistens fehl.
Die Bundespolizei steht einerseits in militärischer Tradition: Während der Militärdiktatur unterstand sie dem Oberkommando, und viele leitende Polizisten vertreten bis heute eine militärische Version von Recht und Ordnung. Andererseits haben im Zuge der Demokratisierung und der Unterstellung unter das Justizministerium gezielt Menschenrechtsanwälte die gehobene und relativ gut bezahlte Laufbahn des Bundespolizisten gewählt. Diese Situation führt zu ständigen Grabenkämpfen innerhalb der Institution. Die finanzielle Ausstattung der Landesfilialen der Bundespolizei geht kaum über die Gehälter hinaus, so dass Arbeitsmittel oder Gelder für komplizierte, oft jahrelange Ermittlungen gegen organisiertes Verbrechen „irgendwie organisiert“ werden. Für die Drogenabteilungen kommen die Gelder sowohl von der US-Drogenbehörde DEA als auch von der CIA. Diese Situation ist unter Gesichtspunkten der demokratischen Kontrolle unhaltbar, doch besteht wenig Aussicht auf Besserung: Im Kongress existiert keine Lobby, die die Belange der Bundespolizei vertreten würde – böse Zungen behaupten, dass es in beiden Kammern und aus gutem Grunde keine Mehrheit für eine systematische Verbrechensbekämpfung gibt.
Brasilien hat 1988 die Internationale Drogenkonvention unterschrieben, in der der US-amerikanische war-on-drugs globalisiert wird. Einer systematischen Kooperation mit den USA wird jedoch aus dem Weg gegangen, eher werden die Anforderungen, die im Rahmen einer von den USA erwünschten Beteiligung Brasiliens am Plan Colombia gestellt werden, durch einen explizit nationalistischen Diskurs gekontert: Sicherheitspolitik in den Grenzregionen spielt bereits heute, als Konsequenz der Militarisierung der Drogen- und Aufstandsbekämpfung in Kolumbien durch die USA eine zunehmend wichtige Rolle. Im Diskurs vermischen sich Befürchtungen vor Grenzübergriffen kolombianischer Drogengangs sowie kolumbianischer, aber vor allem US-amerikanischer Militärs.
In Brasilien hat der Plan Colombia zu einer Stärkung des militärischen Sektors geführt, was sich in der Wiederaufnahme stagnierender Projekte wie der Calha Norte, einer Bundesstrasse an den nordwestlichen Grenzen, der Beschleunigung des Satelliten-Überwachungsprogramms SIVAM und der raschen Freigabe von finanziellen Ressourcen für die Operação Cobra im brasilianisch-kolumbianischen Grenzgebiet manifestieren.

Gewicht des Drogenhandels

Obwohl der Drogenhandel in Brasilien bis auf wenige Ausnahmen keinen determinierenden Einfluss hat, verringern seine Charakteristika die Chance, im Verlauf von Transformationsprozessen verzerrte gesellschaftliche Beziehungen wieder auszubalancieren. Der massive Import illegalen Kapitals zur Geldwäsche, lokale (Drogen-) Kriminalität und deren Verbindung mit internationalen kriminellen Netzwerken begünstigen die Verwandlung instabiler informeller Räume in sich rasch stabilisierende, kriminelle Räume. Unterstützt wird diese Tendenz durch einen globalen kulturellen Diskurs in Filmen oder Büchern, der Mafiabosse als die letzten großen Abenteurer und gesetzloses Handeln als Freiheit in einer überregulierten Welt erscheinen lassen.

Drogendealer – der moderne Held

Die Ergebnisse einer von der UNESCO in den Bundesstaaten Rio de Janeiro und São Paulo realisierten und im August 2001 veröffentlichten Studie besagen, dass die Mehrheit der brasilianischen Jugendlichen aus sozial schwachem Milieu die Figur des Drogenhändlers zum modernen Helden erkoren hat und eine entsprechende Karriere die beliebteste Berufsperspektive darstellt.
Dies hat nicht zuletzt mit dem offensichtlichen gesellschaftlichen Sittenverfall zu tun: Eine der wichtigsten öffentlich geführten Debatten Brasiliens ist die Korruptionsdebatte. Es vergeht kein Tag, an dem nicht die Käuflichkeit eines bekannten Volksvertreters die Titelseiten der Tageszeitungen schmückt. Dabei gilt das öffentliche Interesse an den periodisch auftretenden Korruptionsskandalen nicht der entdeckten Vorteilsnahme, die generell als unabänderlich wahrgenommen wird, sondern der Frage, welches Netzwerk den in den Medien ausgefochtenen Machtkampf gewinnen wird. Das Immunitätsprinzip und Bürgerrechte wie das Telefon- und Bankgeheimnis verlieren ihren während der Militärdiktatur erlangten, positiven Gehalt und verkommen zu Schutzmechanismen korrupter und krimineller Politiker. Die Legitimität bestehender demokratischer Institutionen und der Bemühungen um eine weiter gehende Demokratisierung des politischen Systems werden dadurch geschwächt, dass der Staat seine grundlegenden Aufgaben nicht wahrnimmt: die Aufrechterhaltung sozialer Grunddienste und die Gewährleistung von Sicherheit und fairen Chancen für seine Bürger im Kampf um knappe Ressourcen.
Treffend beschreibt der brasilianische Soziologe Manuel Castells diese Krise gesellschaftlicher Bindungsfähigkeit und staatlicher Steuerungskapazität wie folgt: „Am Ende dieses Jahrtausends sind sowohl der König und die Königin, als auch der Staat und die Zivilgesellschaft nackt; ihre Bürger-Kinder streunen herum auf der Suche nach neuen Adoptiveltern.“

Der Artikel beruht auf den bereits veröffentlichten* Feldforschungsergebnissen der Brasilienequipe des UNESCO/MOST** Drogenforschungsnetzwerks, das seit 1997 besteht und in permanentem Austausch weltweit Feldforschung durchführt. Alle arbeiten mit Methoden der qualitativen Feldforschung, d.h. fast ausschließlich mit eigenen Daten und Material.
* Drug Trafficking: Economic and Social Dimensions, ISSJ 169, 9/2001
** Management of Social Transformation: UNESCO-Forschungsprogramm

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren