Nicaragua | Nummer 337/338 - Juli/August 2002

Der Nicaragua-Kanal

Eines Tages könnte der Panama-Kanal zu eng werden – was dann?

In seinem Arbeitszimmer in Managua beherbergt Manuel Coronel Kautz einen historischen Wälzer: Den Bericht der US-nicaraguanischen Untersuchungskommission von 1885 über die Machbarkeit eines interozeanischen Kanals durch Nicaragua. Der schwere Band enthält akribisch genaue Pläne der zu bauenden Schleusen und exakte Daten über die geologischen und topografischen Gegebenheiten. Als das Projekt im Jahre 1901 dem Kongress in Washington vorgelegt wurde, entschieden die Abgeordneten bekanntlich gegen Nicaragua und für Panama. Hundert Jahre später tauchen in Nicaragua nicht nur die alten Pläne mit wiedergewonnener Aktualität auf. Ein halbes Dutzend unterschiedlicher Kanalprojekte beschäftigt heute Investoren und Politiker.

Ralf Leonhard

Der Nicaraguasee ist mit seiner Oberfläche von 8.200 Quadratkilometern das größte Süßwasserreservoir Mittelamerikas. Bei San Carlos, am südöstlichen Ende entspringt der Río San Juan, der Fluss, der gemeinsam mit dem See die großen Ozeane fast verbindet und seit Menschengedenken kühne Pläne einer schiffbaren Verbindung angeregt hat. Von Philipp II von Spanien bis zu den Sandinisten haben die Machthaber mit Kanalprojekten geliebäugelt.
Der Panama-Kanal ist für viele Ozeanriesen zu eng geworden. Und in geschätzten 15 Jahren wird er den Warenverkehr zwischen Pazifik und Atlantik schlicht nicht mehr bewältigen. Deswegen wird vom mexikanischen Isthmus von Tehuantepec bis zum Río Atrato im kolumbianischen Urabá an unzähligen Entwürfen getüftelt. In keinem Land gibt es aber so viele verschiedene Pläne wie in Nicaragua, dem Land mit der längsten Kanalgeschichte Amerikas.

Besessener Kautz

Als Manuel Coronel Kautz während der sandinistischen Regierung Vizeminister für Agrarreform war, bekam er 1984 ein streng geheimes Dokument in die Hand: Brasilien, das jährlich 70 Millionen Tonnen Eisenerz nach Japan exportiert, wollte die Machbarkeit eines interozeanischen Kanals prüfen lassen. Den Brasilianern war die Sache schließlich zu heikel. Nicaragua befand sich de facto im Kriegszustand mit den USA, die das Revolutionsregime mit Wirtschaftsembargo, Sabotageakten und rechtsgerichteten Freischärlern, den Contras, stürzen wollten. Das war auch der Grund warum wenige Jahre später japanische Investoren ihr Interesse begruben. Aber Manuel Coronel Kautz ist seither besessen von der Idee, den Bau der Wasserstraße nach Plänen aus dem 19. Jahrhundert zu verwirklichen. Er verspricht sich davon die Lösung aller ökonomischen Probleme des ärmsten Landes von Iberoamerika. Nach seinen Berechnungen würde sich das Bruttoinlandsprodukt von derzeit 2,5 Milliarden US-Dollar in zehn Jahren auf 13,2 Milliarden mehr als verfünffachen: “Man müsste nur die Großprojekte, die ich vorschlage, verwirklichen: Bewässerung, Tourismus, Elektrifizierung und als Kernstück den Kanal.”
Ähnliche Ideen wälzte Arnoldo Alemán, Nicaraguas notorisch korrupter Präsident (1997-2002). Er richtete 1999 im Präsidentenpalast ein eigenes Büro für das Kanalprojekt ein: El Gran Canal. Im Unterschied zum klassischen Kanalverlauf wollte er allerdings nicht den Grenzfluss Río San Juan als Wasserstraße benutzen, sondern weiter nördlich über das System von Río Escondido und Río Rama die rund 200 Kilometer lange Strecke von der Karibikküste bis zum Nicaraguasee überwinden. Der Grund für diese teure Variante, die durch zwei ökologisch sensible Naturreservate führen würde, ist einfach: man wollte das benachbarte Costa Rica umgehen, dem das Südufer des Río San Juan gehört.
Für Salvador Montenegro, den Direktor des Hydrografischen Instituts an der Autonomen Universität von Nicaragua,ist jede Einbeziehung des Nicaragua-Sees in ein Kanalprojekt Wahnsinn: “Die Unfallgefahr ist zu groß. Ein lecker Öltanker würde das Ende des Sees als Trinkwasserreserve bedeuten. Man stelle sich vor, ein Schiff mit giftigen Chemikalien würde kentern.”

Artenvielfalt ist Luxus

Mit dem Abgang von Arnoldo Alemán zu Jahresbeginn und der Aufnahme gerichtlicher Untersuchungen seines Korruptionsnetzwerks dürfte der Große Kanal vorerst ad acta gelegt sein. Präsident Enrique Bolaños soll zwar auch diesem Megaprojekt zuneigen, doch ist es schon wegen der enormen Kosten kein Punkt auf seiner Regierungsagenda. Das gibt Manuel Coronel Kautz wieder Hoffnungen, dass sein Projekt irgendwann die notwendigen Sponsoren findet. Dass es ökologisch nicht unproblematisch ist, beirrt ihn wenig: “Den Luxus, die Artenvielfalt und das ökologische Gleichgewicht nicht zu zerstören, können sich vielleicht die entwickelten Länder leisten, in den unterentwickelten Ländern heißt es Biodiversität oder Mensch.”
Dass es auch anders geht, beweist das mit 400 Millionen US-Dollar geradezu lachhaft billige Projekt Ecocanal. Eco steht für ecológico und económico, also sowohl ökologisch als auch wirtschaftlich sinnvoll. Die Fürsprecher des ökologischen Kanals planen keinen Durchstich und nur minimale Korrekturen im Flussbett des Río San Juan. Ihr Vorhaben ist auch nicht auf den Welthandel ausgerichtet, sondern in erster Linie auf die Verbilligung des nicaraguanischen Außenhandels. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung Nicaraguas leben auf der Pazifikseite des Landes, der Handel wird vor allem über den Atlantik abgewickelt: mit der Ostküste der USA und Europa. Derzeit müssen die Waren über Häfen in Honduras oder Costa Rica exportiert werden. Das bedeutet Straßentransporte von rund 500 Kilometern. Geschätzte 100 Millionen US-Dollar könnten jährlich eingespart werden. Gabriel Pasos, der aktivste Vertreter des Vorhabens, gleichzeitig Chef der Industriellenkammer, erklärt, wie das gehen soll: “Wir sprechen von einem Barkassenkanal, also für Lastkähne mit geringem Tiefgang, so ähnlich wie für die Schifffahrt auf dem Rhein oder auf dem Mississippi. Das belastet die Umwelt kaum und dient dem Transport von Containern.”
Der Umweltexperte Salvador Montenegro ist jedoch auch gegenüber diesem Projekt skeptisch. Denn zwei Stromschnellen und die zu flache Mündung müssten korrigiert werden: “Jede Art von Wasserweg, mit Schleusen oder mit geringem Tiefgang, durch den Río San Juan oder andere Flüsse sind Initiativen mit gewaltigen Auswirkungen auf die Umwelt.“ Montenegro meint, dass ein so genannter Trockenkanal weniger schädlich wäre.

Statt Wasserstraße ein Trockenkanal

Von derartigen Projekten gibt es gleich zwei, SIT-Global und CINN. Sie stehen in erbitterter Konkurrenz zueinander und ihre Betreiber beschuldigen einander, nicaraguanische Abgeordnete bestochen zu haben, um deren Stimme für ihr jeweiliges Projekt zu gewinnen. Derartige Offerten dürfte es tatsächlich gegeben haben. Dass die Bestechungsgelder auch ausgezahlt wurden, ist nicht bewiesen. Eine mit viel Publizität gegen SIT-Global eingebrachte Klage vor einem Gericht in den USA verlief jedenfalls im Sande. SIT-Global genießt die Unterstützung des einflussreichen Unternehmerverbandes COSEP.
JJuan Carlos Rivas preist sein Vorhaben als patriotische Initiative. Erstmals hätten nicaraguanische Staatsbürger die Initiative übernommen: “Wir wollen das Land entwickeln und dabei die ökologischen Gegebenheiten nicht außer Acht lassen. Die ausländischen Unternehmen, meistens aus den USA, kommen in der Regel mit der Absicht, möglichst viel herauszuholen, also unsere Naturschätze zu plündern, ihre Gewinne außer Landes zu schaffen und keinerlei Verantwortung für die Entwicklung des Landes und die Erhaltung der Umwelt zu übernehmen.“
Statt einer Wasserstraße soll eine Hochleistungsbahn zwischen den Ozeanen gebaut werden. Vom Konzept her ist es ganz einfach. Es gibt zwei Häfen, die durch eine Eisenbahnlinie verbunden werden. Wer die Kosten von geschätzten 1,3 Milliarden US-Dollar tragen soll, ist noch nicht ganz klar. Die Weltbank hat Interesse signalisiert, sich mit zehn Prozent zu beteiligen, und auch die Deutsche Bank soll den Befürwortern Hoffnungen gemacht haben. Rentabel wäre ein derartiges Unternehmen nur, wenn mindestens 90 Prozent der Fracht von außen käme. Wenn der Welthandel wie erwartet zunimmt, könnte sich dieser Trockenkanal in 25 Jahren amortisieren.
Obwohl die Umweltschäden durch eine Eisenbahnverbindung als vergleichsweise gering eingestuft werden, muss auch dieses Projekt mit Widerstand rechnen. Denn der kleine Karibikhafen Monkey Point, wo ein gigantischer Tiefseehafen entstehen soll, ist Heimat des vom Aussterben bedrohten indianischen Volkes der Rama. Ein Immobilienspekulant aus den USA hat bereits indianisches Land an der Atlantikküste mit fragwürdigen Titeln aufgekauft und bietet es jetzt über Internet um ein Vielfaches zum Verkauf an.

Konkurrent Panama

Auch sonst machen rund um die Kanalprojekte einige Leute gute Geschäfte. Sie leben nicht schlecht von ihren Gehältern und reisen auf Spesen um die Welt, obwohl nicht abzusehen ist, dass die veranschlagten Riesensummen demnächst ins Land fließen. Die Bahnverbindung von Ozean zu Ozean hat wenig Aussicht, Investoren zu finden, denn in Panama, wo die Landbrücke weit schmäler ist, wird an einem viel günstigeren Projekt gearbeitet. Und die Wasserstraße ist dermaßen teuer – Experten gehen vom Doppelten der veranschlagten 12 bis 15 Milliarden US-Dollar aus – dass an eine Amortisierung in weniger als 30 Jahren nicht zu denken ist. Bisher ist nicht einmal klar, wer die Machbarkeitsstudie und die Umweltverträglichkeitsstudie finanzieren soll. So ist damit zu rechnen, dass der Nicaraguakanal auch weiterhin bleibt, was er die letzten fünf Jahrhunderte gewesen ist: eine Illusion.

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