Literatur | Nummer 295 - Januar 1999

Der Schatz der Grenzwelt

Mit seinem neuesten Roman schreibt Carlos Fuentes gegen das Vergessen an

„Ist noch Zeit, damit wir uns sehen und uns annehmen können, wie wir wirklich sind, Gringos und Mexikaner, deren Bestimmung es ist, gemeinsam an der Grenze des Flusses zu leben, bis die Welt müde wird und die Augen schließt und sich eine Kugel durch den Kopf jagt, weil sie Tod und Schlaf verwechselt?“

Ann-Catherine Geuder

Südlich der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze beginnt Lateinamerika. Für Carlos Fuentes ist dies die große Last, aber auch das große Glück Mexikos: Hier wird das Verhältnis zwischen den Kulturen ständig neu verhandelt, werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten der zwei Amerikas deutlich. Welcher Raum könnte Fuentes besser zur literarischen Aufbereitung dieses Konfliktes dienen, als die nordmexikanische Grenze?

Kind ungleicher Eltern

Der Roman Die gläserne Grenze erzählt in neun Geschichten auf jeweils ganz verschiedene Weise von dem Leben in der Region, die Fuentes 1987 Mexamérica, „Land der Begegnung“ nannte. In diesem Aufeinandertreffen der Kulturen geht es um Austausch, aber immer auch um Selbstbestätigung, Suche nach der eigenen Identität. Dies ist keine friedliche Multi-Kulti-Landschaft, hier wird scharf geschossen. Aus Vorurteilen entstehen Stacheldrahtzäune, über die man sich nur selten hinwegsetzt. Denn wichtiger noch als die geographische Grenze ist die innere, „über die wir nur bei Nacht zu gehen wagen […], die Grenze unserer Verschiedenheit von den anderen, unsere Kämpfe mit uns selbst.“ Während Fuentes in Der alte Gringo (1985) die Nordamerikanerin am Schluß sagen läßt, sie wolle Mexiko nicht retten, sondern lernen, mit ihm zu leben, beschreibt er in seinem neuen Roman gerade dieses Zusammenleben der so unterschiedlichen Nachbarn. Sie sind wie ein altes Ehepaar, das von den Familien dazu verdammt wurde, auf ewig zusammenzuleben, „so fern von Gott, so nahe beieinander“. Fuentes beobachtet die Hölle der erzwungenen Gemeinschaft mit dem liebevollen, manchmal auch etwas boshaften Blick, der nur den engsten Verwandten erlaubt ist.
Tatsächlich ist ihm die Grenze wohlvertraut. Er hat nicht nur einige Jahre in der Grenzregion gelebt, sondern sich auch in den kulturellen borderlands eingerichtet: Als Kind ging er nur über die Sommermonate in Mexiko-Stadt zur Schule, den Rest des Jahres verbrachte er in Washington D.C. Heute lebt er die eine Hälfte des Jahres in London und pendelt in der anderen Zeit hauptsächlich zwischen Mexiko und den USA hin und her. Wie der Chicano José Francisco im vorliegenden Roman schreibt er „die Teile auf spanisch, die ihm aus der mexikanischen Seele“ kommen, „und auf englisch die Teile, die sich ihm in einem Yankee-Rhythmus“ aufdrängen.
Doch trotz aller Vertrautheit mit den verschiedenen Kulturen bleibt offenkundig, für welche sein Herz schlägt. Wie damals, als der elfjährige Fuentes während eines Kinobesuchs in Washington D.C. bei einer Szene, in der die Sezession Texas’ verkündet wird, aufspringt und ruft: „Viva México! Tod den Gringos!“ Es nimmt nicht allzusehr wunder, daß Die gläserne Grenze in den USA sehr kritisch aufgenommen wurde, sich empörte Stimmen regten. Man warf Fuentes die Anhäufung von Klischees vor und verstand plötzlich keinen Spaß mehr. Es ist wahrscheinlich ein bißchen so, als würde man vor einem dieser Jahrmarktsspiegel stehen, in denen das eigene Gesicht verzerrt und lächerlich wirkt. Und tatsächlich treffen einige Seitenhiebe unter die Gürtellinie, insbesondere, da aktuelle Bezüge jeden Fluchtversuch in die fiktionale Distanz vereiteln. Zwar gibt es auch Versöhnliches wie die Erkenntnis Dionisios, dem modernen Gott der kulinarischen Genüsse, daß sich „hinter den Gemeinplätzen über die einförmige, seelenlose Gesellschaft ohne kulinarische Persönlichkeit […] eine lebendige, vielgestaltige, exzentrische Welt“ verbirgt. Doch im Großen und Ganzen wird der große Bruder durch den Satire-Kakao gezogen, während die Eigenarten der Mexikaner ironisch aber liebevoll belächelt werden.

An der Linie des Vergessens

Und so stehen denn auch mexikanische Protagonisten im Vordergrund des Romans. Fuentes gelingt es, mit nur wenigen Sätzen Individuen zu zeichnen, ihnen Leben einzuhauchen und sie gleichzeitig in Allegorien des Lebens zwischen beiden Kulturen zu verwandeln. Da ist zum Beispiel Leonardo Barroso, der König der Grenze, der alle Fäden in den Händen hält und mit jedem
Protagonisten verbunden ist: „Sein wirklicher Name ist GESCHÄFTE. Sein Name ist SCHLEICHHANDEL. Sein Name ist WERTPAPIERBÖRSE. Straßen. Montagewerke. Bordelle. Bars. Zeitungen. Fernsehen. Drogendollars. Und ein ungleicher Kampf mit einem armen Bruder.“ Dieser wird in einem atemberaubenden, qualvollen Monolog vorgestellt: Emiliano, der von seinen Kindern an der „Linie des Vergessens“ abgesetzt wurde, weil er für die Rechte seiner Mitmenschen eingetreten ist, anstatt sich um das Wohl der Familie zu kümmern. Die, die er retten wollte, gehen in den Maquilas der Freihandelszone arbeiten und haben schon lange aufgehört, auf größere Veränderungen zu hoffen. Sie wollen nur noch vergessen, um zu überleben. In ihrer reglementierten Welt wird schon das Betreten des Zierrasens vor der Fabrik zum revolutionären Akt: Marina die Maquiladora wagte es einmal, „etwas Ungewöhnliches zu tun, etwas Verbotenes, etwas, das ihnen allen das Gefühl geben würde, zufrieden, anders, frei zu sein“, sie zog ihre Schuhe aus, warf sie weit von sich „und lief barfuß über den Rasen, tanzte lachend auf dem Grün, verspottete die Warnung RASEN NICHT BETRETEN – KEEP OFF THE GRASS“. Ihr Chef Barroso jedoch, der sie gemeinsam mit einem Geschäftspartner von seinem Bürofenster aus beobachtete, benutzte ihren Auftritt als Propaganda für die Firma, „wie lustig und frei diese Mädchen sind, wie sie sich über die erfüllte Pflicht freuen“.
Fuentes soll die einzelnen Erzählungen zu einem Roman zusammengefügt haben, weil sie ihm als Kurzgeschichten entglitten waren. Bei manchen Protagonisten, die nicht direkt mit Barroso verbunden sind, wirkt die Verknüpfung tatsächlich etwas gewollt; ohne damit die Qualität der Erzählungen an sich zu mindern. Doch keine Angst, in einem Labyrinth der Assoziationen verirrt man sich nicht. Die Gläserne Grenze ist einladend klar, humorig und provokant geschrieben. Mit den acht Erzählungen über die Grenzbewohner läßt uns Fuentes wie durch eine gläserne Membran einen Blick auf das widersprüchliche, harte, aber auch faszinierende Leben an der Grenze werfen. Mit einem großen Wurf wird in der letzten Erzählung die schmerzhafte Geschichte der Region mit den Einzelschicksalen ihrer Bewohner verknüpft, fügen sich die Stimmen der Protagonisten zu einem epischen Chor der borderlands zusammen. Fuentes fühlt sich wie José Francisco zum Geschichtensammler berufen: „Das war der Schatz der Grenzwelt, die zahlreichen unverschütteten Geschichten, die sich gegen den Tod wehrten, die wie Gespenster von Kalifornien bis Texas frei umherschweiften und auf den warteten, der sie erzählen, sie aufschreiben würde.“ Und wie dieser verteilt er seine Bücher auf beiden Seiten der Linie des Vergessens, mit einem Triumphschrei, „der für immer das Glas der Grenze zerbrach“.

Carlos Fuentes: Die gläserne Grenze. Aus dem mexikanischen Spanisch von Ulrich Kunzmann, Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1998, 44,90 DM.
(Fischer TB 2000, 9,90 Euro)

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