Chile | Nummer 389 - November 2006

Der „soziale Block“ auf Chiles Straßen

SchülerInnen misstrauen den VVeränderungen des Bildungssystems – ein chilenischer Frühling voller Streiks

Nach den großen Schülerprotesten der vergangenen Monate wurde in Chile eigens ein „Qualitätsrat“ eingerichtet, der Veränderungsvorschläge für das Bildungssystem erarbeiten soll. Doch deren Zwischenbericht konnte die strittigen Punkte nicht klären – die SchülerInnen stellen die weitere Teilnahme an der Kommission in Frage. Und sie sind nicht die einzigen, die den chilenischen Frühling nutzen, um für ihre Anliegen zu demonstrieren: Im September gingen SchülerInnen, StudentInnen, LehrerInnen, BeamtInnen des öffentlichen Dienstes und ArbeiterInnen des Gesundheitsbereichs zusammen auf die Straße, um ihren Forderungen Gehör zu verschaffen.

Rebecca Aschenberg

Ich glaube, dass die Notwendigkeit besteht, das Recht auf Bildung für jeden in das Recht auf Bildung mit Qualität umzuwandeln. Und dies war die große Herausforderung, die die Arbeit der Mitglieder des Rats ausgemacht hat.“ – mit diesen Worten empfing Präsidentin Michelle Bachelet den Zwischenbericht des „Rats für die Qualität der Bildung“ (Consejo Asesor Presidencial para la Calidad de la Educación) am 29. September. Vier Monate nach den massiven Schülerprotesten, die den Glauben an ein gut funktionierendes und gerechtes Bildungssystem in Chile endgültig zerstört hatten, war das Thema „Bildung“ wieder in aller Munde (Vgl. LN 385/386). Der „Qualitätsrat“ reichte ein 107-seitiges Dokument ein, in welchem die Reflexionen der 81 Ratsmitglieder festgehalten wurden. ExpertInnen, ProfessorInnen, LehrerInnen, StudentInnen und SchülerInnen hatten wochenlang über die Probleme des Bildungssystems diskutiert und schrieben die vorläufigen Ergebnisse nieder.

Frei oder gerecht?

In den Kommissionen „Regulierender Rahmen“, „Institutionalisierung der Bildung“ und „Qualität der Bildung“ hatten sie die verschiedenen Probleme des Bildungssektors diskutiert. Dabei verfingen sie sich immer wieder auf der Suche nach einer Lösung für das angespannte Verhältnis zwischen der so genannten „Freiheit der Bildung“ und dem „Recht auf Bildung“. Durch das aus Pinochets Zeiten stammende Gesetz LOCE war nämlich endgültig besiegelt worden, dass in Chile die „Freiheit“ wichtiger ist als das „Recht“ auf Bildung. Eine Freiheit, die die Einrichtung von Schulen zur lukrativen Geschäftemacherei werden ließ und die diejenigen, die kein Geld für eine teure Privatschule haben, schon vom Grundschulalter an zur Benachteiligung verdammt.
Auch wenn die „Freiheit der Bildung“ zweifelsfrei auch künftig bestehen bleiben wird, ist doch von einer Alternative zum LOCE die Rede. Weitere Veränderungsvorschläge bestehen u.a. darin, eine Instanz zur Überwachung und Kontrolle der diversen Bildungseinrichtungen zu schaffen und den Staat zu verpflichten, eine kostenlose und qualitativ hochwertige Bildung zu gewährleisten. Das Wort „Qualität“ gibt den Ton an, und alle sind sich einig, dass das Recht auf Bildung elementar ist. Allerdings besteht große Uneinigkeit über den Weg dorthin. Immer wieder wurden Stimmen von SchülerInnen und StudentInnen laut, die in dem Zwischenbericht ihre Meinungen nicht ausreichend vertreten sehen.

Weiter rebellisch

StudentInnen und LehrerInnen haben zwar beschlossen, vorerst an der Arbeit des Rats weiter teilzunehmen – die SchülerInnen lassen allerdings mit ihrer Entscheidung noch auf sich warten. Erst nach ausgiebiger Diskussion des Zwischenberichtes in allen Regionen Chiles wollen sie sich in einer nationalen Versammlung gemeinsam zum Austritt oder zur weiteren Teilnahme entschließen. „Einige der SchülervertreterInnen wollen in dem Rat bleiben. Aber die Masse der SchülerInnen nicht. Wir werden wieder auf die Straße gehen!“, meint der Sekundarschüler Pablo, als er auf der Straße Flugblätter der „Schülerrebellion“ verteilt, die sich nicht mit den Beschlüssen des Rats und den Verhandlungen mit der Regierung zufrieden geben will.
Allen ist bewusst, dass die Arbeit des Rats durch die heterogene Zusammensetzung manchmal einem hoffnungslosen Seilziehen gleicht und dass viele Interessen auf der Strecke bleiben. „Die wichtigste Frage ist, wie die soziale Welt es schaffen kann, ihre Forderungen gegenüber den konservativsten Mitgliedern des Rats durchzusetzen“, kommentierte Mario Medina, studentischer Vertreter der Universidad de Chile, die zu bewältigenden Schwierigkeiten. Darüber hinaus bleibt abzuwarten, inwiefern die Ideen des für den 11. Dezember vorgesehenen Abschlussberichts dann im kommenden Jahr umgesetzt werden.

Frühlingsmobilisierung

Nicht nur über die Bildung wird heftig diskutiert. Der chilenische Frühling bringt Streiks und Demonstrationen in diversen Bereichen mit sich. So rief die Vereinigung der LehrerInnen, Colegio de Profesores, zum „sozialen Streik“ am 26. September auf. Die ProtagonistInnen des paro social waren die LehrerInnen, StudentInnen und SchülerInnen des „sozialen Blocks der Bildung“, der sich parallel zum „Rat für die Qualität der Bildung“ gegründet hatte. Doch auch Angestellte des öffentlichen Dienstes und des Gesundheitsbereichs schlossen sich dem Aufruf an. In ganz Chile waren Streikende auf der Straße, um ihren Unmut über das hoffnungslose Warten auf Veränderungen zu manifestieren. Die eigenständige Organisation und die Mobilisierung der SchülerInnen hat andere Bereiche beeindruckt und dazu beigetragen, dass in einem „sozialen Block“ VertreterInnen unterschiedlicher Gruppierungen gemeinsam mit ihren Forderungen an die Öffentlichkeit treten. Es existiert ein Bewusstsein darüber, dass sich die Bedürfnisse der einzelnen Bereiche in gewissen Punkten überschneiden. Die Vereinigungen haben ihren Blick nun über den eigenen Tellerrand hinaus auch auf andere soziale Bereiche gerichtet. Trotz der Solidarisierung vergaßen die Streikenden am 26. September nicht, dass sie mit unterschiedlichen Vorgeschichten und mit jeweils spezifischen Anliegen zum Protestieren erschienen. So befanden sich die ArbeiterInnen des Gesundheitssektors schon seit fast drei Wochen im Streik für höhere Löhne. Die BeamtInnen des öffentlichen Bereichs gingen für „Gehaltserhöhungen, mehr Transparenz und Sachlichkeit in der beruflichen Laufbahn“ auf die Straße, „und außerdem für eine Lösung für den voraussehbaren Schaden, der dadurch entsteht, dass ein Rentner des öffentlichen Bereichs nur ein Drittel seines Gehalts bekommt“, wie Raúl de la Puente, Präsident des Nationalen Zusammenschlusses der Finanzangestellten (Asociación Nacional de Empleados Fiscales, ANEF), zusammenfasste.

Eine Kostenfrage

Nicht alle Forderungen der verschiedenen TeilnehmerInnen des „sozialen Blocks“ sind neu. Schon seit Jahren wurden von Seiten der Regierung immer wieder Versprechungen gemacht und dann nicht eingehalten. Doch LehrerInnen, BeamtInnen und ArbeiterInnen haben genug von miserablen Löhnen und noch miserableren Renten und fordern Veränderungen ein. In Anbetracht der wirtschaftlichen Hochphase, die dem chilenischen Staatshaushalt große Einnahmen durch den hohen Marktwert des Kupfers und durch den Export anderer Güter beschert, sind die Rufe der Protestierenden lauter denn je. Tatsächlich kündigte Finanzminister Andrés Velasco am 3. Oktober in einer Fernsehansprache für das Jahr 2007 große Investitionen für die Bereiche Bildung, Gesundheit und Wohnen an. Die Gesamtausgaben sollen um 8,9 Prozent und die Sozialausgaben um 11,2 Prozent steigen. Die Bildung soll von einem Wirtschaftswachstum von 10,6 Prozent profitieren. Aber derartige Ankündigungen vermögen nicht, die Entschlossenheit, mit der die sozialen Akteure für ihre Anliegen kämpfen, zu ersticken. So hat die Nationalversammlung der LehrerInnen beschlossen, der Regierung ein Ultimatum zu setzen. Bis zum 16. Oktober erwarten sie eine definitive Antwort auf eine im Juni eingereichte Petition, die Veränderungen der Gehaltsregelungen ersuchte. Sollte eine Antwort ausbleiben, heißt es wieder einmal „Nationaler Streik auf unbegrenzte Zeit“.

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