Bolivien | Nummer 395 - Mai 2007

Der Staat erwacht aus seinem Koma

Vom Bettler zur Lokomotive – Die Verstaatlichung in Bolivien zeigt erste Erfolge

In Bolivien gibt die „Nationalisierung“ dem Staat verlorene Handlungsfähigkeit zurück. Die Regierung unter Präsident Evo Morales treibt die Enteignung von ausländischen Unternehmen und die Umverteilung der Einnahmen voran. Bereits jetzt ist zu sehen, dass der Staat gestärkt und mit verbesserten Finanzen an die Umgestaltung der bolivianischen Wirtschaft geht.

Benjamin Beutler

Nach 15 Monaten Regierungszeit erlaubte sich der bolivianische Vizepräsident Alvaro García Linera jüngst eine viel versprechende Prognose: Die Verstaatlichungspolitik der Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) würde letzten Endes dazu führen, dass der bolivianische Staat bis nächstes Jahr zumindest 30 Prozent des nationalen Bruttosozialproduktes kontrollieren werde. Der Staat würde nicht mehr wie zuvor ein Bettler sein, er würde die „einzige Lokomotive des Landes werden, um Reichtum zu schaffen und ihn gerecht zu verteilen.“ In den kommenden 50 Jahren würde der Staat zum treibenden Motor der heimischen Volkswirtschaft werden und den größten Anteil des im Lande generierten Reichtums erarbeiteten. Unter Klein- und Transportunternehmen, HändlerInnen, Bauern, Bäuerinnen und Indígenas werde dieser ökonomische Gewinn gerecht verteilt werden, verspricht Línera. Und seine Vorstellungen sind nicht aus der Luft gegriffen, denn die bisherigen Zahlen sprechen für ihn. Kontrollierte der Staat vor einem Jahr nur 6 Prozent des BIP, so verdreifachte sich der Wert unter der MAS-Regierung auf insgesamt 16 Prozent.
Ein entscheidender Faktor für die gestärkte Rolle des Staates im Wirtschaftsleben des vorindustriellen Boliviens ist zweifelsohne die Verstaatlichung der enormen Gas- und Ölvorkommen und deren verbesserte Förderung. Wanderte vor vier Jahren von jedem Petrodollar, der in Bolivien durch die Energiemultis erwirtschaftet wurde, noch über 75 Cent ins Ausland, so hat sich dieses Verhältnis mittlerweile umgekehrt, dank der Neuaushandlung der Förderverträge und aller Unkenrufe zum Trotz. Doch nicht nur auf diesem Wirtschaftssektor versucht der Staat seinen durch die folgenreichen Privatisierungen der 80er Jahre verlorenen Handlungsspielraum zurück zu gewinnen. So wurde im Februar dieses Jahres eine Gießerei des schweizerischen Unternehmens Glencore verstaatlicht. Zudem wird zurzeit über die Rückverstaatlichung des Nationalen Telekommunikationsunternehmens ENTEL verhandelt, das sich noch im Besitz des Konzerns Telecom Italia befindet.

Umverteilung des Reichtums

Die direkten Auswirkungen der Verstaatlichungspolitik durch die MAS und die daraus resultierenden Entwicklungschancen verdeutlicht das Beispiel des Departamentes Tarija. Von den 2007 erzielten 1,8 Milliarden US-Dollar Einkünften durch den Gasexport nach Brasilien und Argentinien fließen nur 15 Prozent in den nationalen Staatshaushalt nach La Paz. Nach einem bestimmten Schlüssel, der durch die „Direktsteuer auf die fossilen Brennstoffe“ IDH gesetzlich festgelegt ist, berechnet sich die Umverteilung der Einnahmen, wovon die an Bodenschätzen reichen Departamente Santa Cruz und Tarija am meisten profitieren. Die staatlichen Einkünfte aus dem Gasgeschäft setzen sich folglich zusammen aus der IDH und der direkten Exportbesteuerung („regalía“) der am Geschäft beteiligten Unternehmen. 2005 brachte der Gasexport dem bolivianischen Staat 600 Millionen US-Dollar, 2006 stieg die Summe auf 1 Milliarde an. Mit dem unter der MAS-Regierung mit Brasilien ausgehandelten Preisanstieg stieg der Betrag noch mal um weitere 45 Millionen, 200 Millionen US-Dollar zahlt Brasilien für die Vorverarbeitung von natürlichem Erdgas durch Bolivien vor seinem Export.
Der Gewinnanstieg macht sich unmittelbar in den Kassen der Departamente bemerkbar. Mit IDH und „regalías“ verdiente Tarija 2005 137 Millionen, durch die Verstaatlichung 2006 stiegen die Einkünfte auf 218 Millionen an. 2007 werden sie voraussichtlich 237 Millionen US-Dollar erreichen, wobei der Deal mit Brasilien nicht eingerechnet ist. „Das ist nicht durch Magie geschehen, sondern durch die Verstaatlichung der fossilen Brennstoffe“, so Vizepräsident Lineras. Die durch die oppositionellen Präfekten regierten Departamente sind also die eigentlichen Gewinner der Regierungspolitik. Dennoch werfen die RegionalpolitkerInnen der Opposition der Regierung in La Paz in ihrer Forderung nach mehr Selbstbestimmung Zentralismus und Marginalisierung des östlichen Boliviens vor. Und so nimmt Lineras die Führung Tarijas in die politische Verantwortung: „Wenn es Tarija nicht gelingt, seine 250 Millionen Dollar im Jahr für eine Industrialisierung zu verwenden, dann wird es sich um eine gescheiterte Generation handeln.“ Die Errichtung dreier Erdgasverflüssigungsanlagen, zwei im östlichen Chaco und einer in Santa Cruz, sowie die Ausbeutung der Mine Huanuni durch das staatliche Minenunternehmen seien der Beginn einer Industrialisierungspolitik, bei dem der Staat die Führungsrolle übernehmen soll.

Mehrheit für starke Rolle des Staates

Welche Bedeutung dem Staat in Bezug auf wirtschaftliche Belange in der neuen Verfassung zukommen wird, wird derzeit in der erfassungsgebenden Versammlung diskutiert, die von einer mehrwöchigen Rundreise zwecks Einholung von Vorschlägen zurückgekehrt ist. Zwei gegensätzliche Strömungen prallten in den landesweit abgehaltenen Treffen mit den Wahlmännern und -frauen der Verfassunggebenden Versammlung aufeinander: Die erste, die einen demokratisch-repräsentativ liberalen Staat wünscht, der das Privateigentum als vorrangiges Gut verteidigt. Und die zweite und mehrheitliche, die die Idee eines kommunitären und beratenden Staat vertritt, der das staatliche, kooperative Eigentum fördert.
Die Mehrheit aller Vorschläge lief immer wieder darauf hinaus, dass dem Staat seine zentrale Rolle in der Lenkung der Wirtschaft zurück gegeben werden müsse, um so eine Entwicklungsstrategie zu entwerfen und durchzuführen. Die Kontrolle über die natürlichen Ressourcen – erneuerbarer und nicht erneuerbarer – müsste dem Staat überantwortet werden. Bei der Frage nach dem wahren Eigentümer der Rohstoffe gehen die Vorstellungen auseinander. Die einen nennen eben den Staat als einzigen Eigentümer, die anderen sehen ihn in den indigenen Völkern oder dem bolivianischen Volk als ganzem, andere hingegen lehnen jeglichen staatlichen Eingriff ab, und wollen die Bodenschätze in privater Hand sehen.
Fast alle Vorschläge, die den Wahlmännern und -frauen vorgetragen wurden, liefen auf das Konzept einer „gemischten Wirtschaft“ hinaus, angeschoben durch den Staat und dem privaten Unternehmertum. Die nationale Wirtschaft würde sich dann zusammensetzen aus der Industrialisierung der fossilen Brennstoffe, Auslandsinvestitionen, privat-lokaler Investitionen, der familiär geprägten handwerklichen und kleinstunternehmerischen Wirtschaft sowie der kommunitären Wirtschaft. Einigkeit unter allen politischen Strömungen herrschte darin, dass nicht nur moderne Formen des Wirtschaftens Verfassungsrang zugesprochen werden müsse, sondern eben auch den Letztgenannten, welche die bolivianische Wirtschaft zu einem entscheidenden Teil mittragen.

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