Mexiko | Nummer 437 - November 2010

„Der Staat wurde durch die Kartelle ersetzt“

Interview mit Jorge Hernández Tinajero vom Kollektiv für eine integrale Drogenpolitik

Beinahe dreißigtausend Tote hat der Drogenkrieg in Mexiko seit dem Amtsantritt von Präsident Felipe Calderón im Jahr 2006 gefordert. Das Gefängnissystem ist völlig überlastet und die Menge der in die USA exportierten Drogen ist, genauso wie die Preise, konstant geblieben. Dennoch hält die mexikanische Regierung an ihrer Politik der Militarisierung des Landes und Verschärfung der Drogengesetzgebung fest. Die LN sprachen mit Jorge Hernández Tinajero, Politologe der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (UNAM) und Präsident des Kollektivs für eine integrale Drogenpolitik (CUPIHD), das sich für die Legalisierung der Drogen einsetzt.

Interview: Börries Nehe

Seit Jahren tobt in Mexiko ein regelrechter Krieg um die Drogen, dabei gibt es hier weder eine nennenswerte Produktion noch einen ausgeprägten Konsum. Woher rührt diese Gewalt?
Die Welle der Gewalt in Mexiko hängt mit der Organisierung von Handelsrouten der Drogen von Süd- nach Nordamerika zusammen. Das ist ein grundlegender Unterschied zu beispielsweise Kolumbien, wo das Drogenproblem eines der Produktion ist. Traditionell werden zwar auch in Mexiko verschiedene Drogen wie Marihuana und Opium hergestellt, aber bis vor Kurzem handelte es sich dabei um mehr oder weniger unabhängige Produktionssysteme, die von keinem Drogenkartell kontrolliert wurden. Zusätzlich gibt es natürlich auch die indigenen, zu religiösen Zwecken verwendeten Drogen wie halluzinogene Pilze und peyote, mescalinhaltigen Kaktus. In Mexiko existiert also, wie in ganz Lateinamerika, eine weit verbreitete Kultur der Nutzung von Drogen, die aber nie die dynamischen Märkte hervorgebracht hat wie in Europa und den USA. Das hat sich in den letzten Jahren grundlegend verändert.
Zum wirklichen Problem wurde das Thema Drogen in Mexiko erst im Laufe der 1980er Jahre. Bis dahin hatte die Revolutionäre Institutionelle Partei PRI den Schwarzmarkt durch Absprachen mit den Händlern zu kontrollieren verstanden. Mit dem Niedergang der politischen Kontrolle des Drogenhandels durch die PRI begannen dann die Auseinandersetzungen zwischen den Kartellen. Die verfehlte Politik der letzten beiden Regierungen tat ein Übriges. Seit Jahren wohnen wir nun einer Art Ent-Institutionalisierung des Landes bei: heutzutage sind es die privaten Akteure, ganz besonders die Drogenkartelle, welche für die Sicherheit der Gemeinden zuständig sind, welche die Straßen bauen und an der Dorffeier teilnehmen. Der Staat wurde durch die Kartelle ersetzt.

Haben diese Veränderungen in den Produktions- und Handelsbeziehungen einen Einfluss auf den Drogenkonsum in Mexiko?
Man muss zwischen den etablierten und den aufstrebenden Drogenmärkten unterscheiden. Marihuana beispielsweise existiert schon lange in Mexiko und obwohl der Konsum infolge des großen Angebots ein wenig gestiegen ist, handelt es sich um einen sehr stabilen Markt, ohne große Variationen. Aber wenn wir uns die Entwicklung des Konsums von Kokain und Methamphetaminen anschauen, haben wir ein sehr ernsthaftes Problem. Der Konsum dieser Drogen ist allein in den letzten fünf Jahren um das Sechsfache gestiegen. Diese Entwicklung ist zum einen dem enorm großen Angebot dieser Drogen in Mexiko geschuldet. Zum anderen hat der Anstieg des Konsums aber auch mit kulturellen Veränderungen zu tun, mit dem Aufkommen bestimmter Jugendkulturen und einer Aufweichung der Familienstruktur und den traditionell konservativen Moralvorstellungen. Ich denke, in Mexiko sind wir in pädagogischer, ökonomischer und institutioneller Hinsicht völlig unvorbereitet auf diese Entwicklung, denn es besteht ein komplettes Unverständnis der Problematik. Niemand begreift das Thema Drogen jenseits des Diskurses der öffentlichen Sicherheit.

Trotzdem wurde vor etwa einem Jahr eine Gesetzesreform vorgenommen, die von vielen als erster Schritt Richtung Legalisierung der Drogen gedeutet wurde. Was ist davon zu halten?
Im August letzten Jahres wurde das so genannte Gesetz gegen den Drogenkleinhandel erlassen und hat für viel Wirbel gesorgt. Entgegen der Einschätzung in Mexiko und in der Welt sieht das Gesetz aber keinesfalls eine Entkriminalisierung der Drogen vor. Im Gegenteil, es geht eigentlich um eine Verschärfung der Strafen für die Kleinhändler. Die neue Gesetzgebung zielt gegen die Armen in den Städten, die sich auf niedrigster Ebene in den gefährlichen Kreislauf des Drogenmarktes begeben, da unsere Gesellschaft ihnen ansonsten keine Überlebensmöglichkeiten anzubieten hat. Dass das Gesetz trotzdem als eine Art Legalisierung verstanden wurde, ist das Resultat von einem Widerspruch im mexikanischen Recht: Das Strafgesetzbuch verbietet zwar den Kauf und Besitz von Drogen, den Konsum aber nicht. Deswegen musste eine rechtliche Unterscheidung zwischen Händler und Konsument getroffen werden, und das passiert über das Modell des Kleinstmengenbesitzes. Laut dem nun geltenden Recht ist der Drogenbesitz weiterhin ein Vergehen, wer aber mit weniger als einer bestimmten Menge festgenommen wird, gilt als Drogennutzer oder als Abhängiger. Im ersten Fall gibt es keinerlei Sanktionen, doch nach der dritten Festnahme gilt man als abhängig und wird zu einer Therapie gezwungen.
Eigentlich hat Felipe Calderón das Gesetz im Rahmen der Verschärfung seines „Drogenkrieges“ eingebracht, aber was als Anziehen der Schraube auf der einen Seite und notgedrungenes Lockern auf der anderen Seite gedacht war, wurde plötzlich als Beginn der Legalisierung gedeutet. Und das bei einem Gesetz von der Rechten, mit dem die Armen dran gekriegt werden sollten! Es wurde also nichts legalisiert, aber es ist sehr aufschlussreich, dass das Gesetz so gedeutet wird.

Diesbezüglich ist das Referendum über die Legalisierung von Marihuana von Interesse, welches Anfang November im US-Bundesstaat Kalifornien stattfindet. Welchen Einfluss hätte eine Annahme des Vorschlags auf den Drogenmarkt und die Drogenpolitik in Mexiko?
In Hinsicht auf den Markt wird die eventuelle Legalisierung keinen Einfluss auf Mexiko haben, denn die Produktion von Marihuana ist in Kalifornien sehr viel weiter fortgeschritten als hier, und das nicht erst seit der vor Jahren erfolgten Legalisierung zu medizinischen Zwecken. Der Effekt einer Legalisierung in Kalifornien wäre viel eher politischer Art. Wie genau dieser aussehen könnte, ist sehr schwer abzuschätzen. Auf jeden Fall bedeutete sie für Mexikos politische Klasse, dass das Thema Legalisierung nun offener angesprochen werden könnte. Auch Obama hat ja Signale ausgesendet, die darauf hindeuten, dass er eventuell auf den Gebrauch informeller Druckmittel zur Steuerung der mexikanischen Drogenpolitik verzichtet. Das Problem ist jedoch, dass sich kaum ein mexikanischer Politiker mit dem Thema auskennt. Es wird noch eine Weile dauern, bis es hier zu einer tiefgreifenden und konstruktiven Debatte kommt, denn das Thema Drogen wurde zu lange vernachlässigt.

Als Kollektiv tretet ihr für die Legalisierung der illegalisierten Drogen ein. Es gibt ja gewisse Erfahrungen mit alternativen Drogenpolitiken in Ländern wie den Niederlanden. Aber Mexiko ist ein Transitland mit einem enormen Gewaltproblem. Was kann man hier von einer Legalisierung des Drogenkonsums erhoffen?
In letzter Instanz wollen wir die Legalisierung und spezifische Regulierung aller Drogen erreichen. So wie zum Beispiel Tabak, Alkohol oder Opiate nach verschieden Kriterien behandelt werden, sollte es auch für andere Drogen spezifische Schemata geben. Klar, die dahingehenden Erfahrungen in den Niederlanden oder in Portugal beziehen sich auf die Welt des Konsums. Dort haben die Entkriminalisierung und Kontrolle der Drogen zu einer Senkung der Kriminalität geführt, was natürlich fantastisch ist. Das zeugt von einer gut durchdachten Drogenpolitik, in der die Probleme des Konsums die Mehrheitsgesellschaft nicht negativ beeinträchtigen. Die Situation in den Hersteller- und Transitländern ist aber eine völlig andere, denn die Gewalt resultiert aus den Interessen an den enormen Geldmengen, die der Drogenhandel bewegt.
Wir haben damit zu kämpfen, dass die Drogenproblematik in Mexiko nicht als Problem der öffentlichen Gesundheit oder unter dem Gesichtspunkt der Verbraucherrechte behandelt wird, sondern allein aus der Perspektive der öffentlichen Sicherheit. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Entkriminalisierung des Konsums auf einer gewissen Ebene helfen würde, vor allem auf der gesundheitlichen. Aber das hätte keinen direkten Einfluss auf die Entwicklung der organisierten Kriminalität und der Gewalt in Mexiko.

Eine Legalisierung lediglich des Konsums würde das Problem der Gewalt also kaum lösen. Müssten dazu nicht auch der Handel und die Produktion legalisiert werden?
Das kommt darauf an. Der Markt des Marihuana beispielsweise kann in einen sehr demokratischen Markt transformiert werden. Das ist zum Teil in den Niederlanden der Fall. Die Coffee-Shops sind natürlich gewinnbringend, und es gibt große Mafias, die sie beliefern. Aber ich kenne auch viele Menschen in den Niederlanden, die in ihrem eigenen Garten Marihuana anbauen und dies dann an die Coffee-Shops verkaufen. Du kannst die Pflanzen auf deiner Dachterrasse züchten, ohne dass gleich ein narco ankommt und dir in den Kopf schießt, weil du mit ihm in Konkurrenz stehst. Es koexistieren also zwei Arten von Produktion von Marihuana, und zudem bauen die KonsumentInnen noch selber an. Aber das ist mit dem Kokain nicht möglich. Kokain wird in den Anden produziert und in Mexiko weiter gehandelt, und es gibt keine Möglichkeit, diesen Markt zu demokratisieren. Entweder legalisiert man das Kokain und regelt den Markt, oder man versucht weiter zu verhindern, dass es hierher gelangt.

Würde eine solche grundsätzliche Legalisierung und Kontrolle der Drogenmärkte nicht das Ende der großen kriminellen Organisationen bedeuten?
Ich werde immer gefragt, ob ich die Drogenbosse nun in die Legalität führen will. Natürlich nicht! Alle, die schwere Delikte begangen haben, müssen vor Gericht gestellt werden. Aber ich bin mir sicher, dass sie oder ihre Kinder die technischen Voraussetzungen hätten, sehr gute Wettbewerber auf einem regulierten Markt zu werden. Eine Legalisierung würde natürlich dem Anreiz der enorm hohen Gewinne aus dem Drogengeschäft einen Riegel vorschieben, aber das bedeutet nicht, dass die Mafias nicht zum Beispiel die Prostitution kontrollieren würden. Eine Ent-Kriminalisierung der Drogen würde es dem Staat ermöglichen, Ressourcen für die Bekämpfung wirklich krimineller Aktivitäten einzusetzen, anstatt Müttern den Prozess zu machen, die zwei Kilo Marihuana von A nach B befördern, um ein wenig Geld für ihre Familie zu verdienen. Solche Delikte zu verfolgen kostet den Staat Unmengen Geld, zerstört Familienstrukturen, überlastet das Gefängnissystem und nutzt niemandem. Eine Legalisierung von Drogen würde den Mafias nicht nur Macht nehmen, sondern es auch ermöglichen, effizienter gegen sie vorzugehen. Wenn wir über die Legalisierung eines der fundamentalen Motive der Gewalt zerstören können, nämlich die enormen Gewinnerwartungen aus dem illegalen Drogenmarkt, dann wäre das ohne Frage ein riesiger Fortschritt.

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