Brasilien | Nummer 481/482 - Juli/August 2014

Der Tod kommt auf Schienen

Açailândia, eine Stadt an der Eisenstraße von Carajás

In der größten Eisenerzmine der Welt, Carajás im nordbrasilianischen Bundesstaat Pará, soll in den kommenden Jahren die Produktion verdoppelt werden. Dafür soll auch die Zugstrecke, auf der das Erz zum Atlantikhafen von São Luis transportiert wird, verdoppelt werden. Schon seit vielen Jahren bekommen die Anwohner_innen zu spüren, was es heißt, entlang der Bahnlinie des „längsten Zugs der Welt“ zu wohnen.

Lisa Carstensen

„Der längste Zug der Welt nimmt mein Land mit nach Deutschland, nimmt mein Land mit nach Kanada, nimmt mein Land mit nach Japan“. Die Theatergruppe Cordão rezitiert in ihrem Stück „O Buraco“ das Gedicht von Carlos Drummond de Andrade im Chor. Während einer Aufführung auf den Gängen der Universität von São Luis sind unter anderem Bewohner_innen des kleinen Städtchens Açailândia anwesend. Der Schauspieler und Aktivist Xico Cruz ironisiert, dass „die Luftverschmutzung in den letzten Jahren viel zu gering war und es sind auch nur wenige Leute vom Zug überfahren worden, seit zwei Monaten kein einziger Toter!“ Ein Zwischenruf aus dem Publikum korrigiert: „Nein, gerade erst letzte Woche ist jemand in Açailândia überfahren worden“. Stille. Einen Moment lang bleibt den Schauspielern und dem Publikum das Lachen im Hals stecken. Das Theater wird von der Realität eingeholt.
Der Zug – das ist die Eisenstraße von Carajás, die in den nordbrasilianischen Bundesstaaten Pará und Maranhão die Eisenzerzminen nahe Paraupebas mit dem Hafenkomplex von São Luis verbindet. Hier wird das beste Erz der Welt gefördert, sagt der die Minen betreibende Konzern, der Bergbaumulti Vale (siehe LN 431). Von hier aus wird das Eisenerz in andere Teile der Welt verschifft, unter anderem nach Deutschland. Deutschland deckt 52,6 Prozent seines Eisenerzbedarfs durch Importe aus Brasilien. Nach Unternehmensangaben transportiert der Zug jährlich 120 Millionen Tonnen Eisenerz entlang der 892 Kilometer langen Strecke. Dabei passieren 35 Züge am Tag mit jeweils 330 Waggons ungefähr 100 unterschiedlichste urbane und ländliche Ortschaften, Siedlungen, Camps, Dörfer und Städte. Die 330 Waggons sind drei Kilometer lang. Oft steht der Zug still. Kinder auf dem Weg zur Schule, Bauern und Bäuerinnen auf dem Weg zum Feld oder Anwohner_innen auf dem Weg ins Krankenhaus müssen dann lange Umwege in Kauf nehmen – oder unter dem Zug durchkrabbeln. „Vale spaltet uns“, sagt Francisco Martins de Sousa, Aktivist der lokalen Landarbeitergewerkschaft. Der Zug durchschneidet die Landschaft – und trennt die Gemeinden voneinander ab. Und der Zug kann töten. Denn unvermittelt setzt sich der Zug dann wieder in Bewegung. Wer gerade unter dem Zug hindurch kriecht, weil das Warten ob des Stillstands zu lange wurde, wird zerquetscht. Der lokalen Nichtregierungsorganisation Justiça nos Trilhos, frei übersetzt „Gerechtigkeit auf den Gleisen“, zufolge stirbt im Durchschnitt ein Mensch pro Monat auf den Gleisen.
Im Theaterstück fängt Xico Cruz die verstörende Situation schnell wieder ein und ruft: „Ach was, zwei Tote sind doch immer noch wenig, die Produktion muss verdoppelt werden, die Schienen erweitert und der Zug verlängert! Wir brauchen mehr Verschmutzung und mehr Tote!“ Das Publikum lacht wieder, doch auch diese Ironie ist real: Die inzwischen privatisierte und zu einem der größten Bergbauunternehmen der Welt avancierte Vale plant derzeit im Rahmen des Projektes Ferro Carajás S11D die Eröffnung einer zweiten Mine und die Verdoppelung der Eisenerzfördermenge auf 230 Millionen Tonnen bis 2018. Investiert werden nach Angaben des Unternehmens 19,49 Milliarden US-Dollar, davon ein großer Teil in Infrastrukturmaßnahmen wie die Verdopplung der Schienen und der Ausbau des Hafens in São Luis.
Die Landschaft scheint sich dem Auge der im Zug Reisenden entziehen zu wollen. Aus dem Fenster des Personenzuges unterscheiden sich die Ortschaften in der Region Novo Oriente nicht von den meisten anderen Gemeinden: Eine staubige Landstraße entlang der Schienen, Reste von Baustellenzubehör, eine Schule sowie einige einfache Palmhütten, versteckt hinter Obstbäumen, zwischen denen Kinder im Spiel innehalten, wenn ein Zug vorbeifährt. Francisco Martins de Sousa, ist Anwohner einer Siedlung der Landlosenbewegung MST in dieser Region. Er befürchtet, dass die Probleme mit dem Zug durch die Verdopplung der Produktion zunehmen werden. Die nördlich von Açailândia gelegene ländliche Region setzt sich aus verschiedenen Dörfern, Siedlungen sowie einem Camp der Landlosenbewegung MST zusammen. Insgesamt leben hier um die 1.200 Personen. Die Region ist von der Zuglinie durchtrennt und daher direkt von den Maßnahmen zur Verdopplung der Gleise betroffen. Mit Beginn der Bauarbeiten im November 2011 arbeiteten 600 Arbeiter fast zwei Jahre entlang der Gleise, eine Baustelleninfrastruktur inklusive Unterkunft für etwa 100 Arbeiter wurde auf Gemeindeland installiert. Dieses Baustellenleben veränderte die Gemeinde, Unklarheiten und Kommunikationsprobleme mit der Bauherrin sorgten für Unstimmigkeiten unter den Bewohnern_innen: „Vale spaltet uns – um es sich selbst gut gehen zu lassen“, sagt Francisco.
Vielfach wird auch der Verdacht eines Anstiegs der Kinderprostitution geäußert. Das zuständige Jugendamt kann auf Anfrage nicht angeben, wie viele Fälle in der Region angezeigt wurden, sondern teilt lapidar mit, dass in den Jahren 2012 und 2013 in und um Açailândia insgesamt 96 Fälle sexualisierter Gewalt gegen Kinder in dieser Behörde gemeldet wurden. Eine Analyse bleibt aus. Eduardo Hirata, der als Freiwilliger des Menschenrechtszentrums CDVDH im maranhensischen Rat zur Stärkung der Rechte von Kindern und Jugendlichen sitzt, meint aber, dass der Großteil der angezeigten Fälle von den lokalen Behörden nicht angemessen verfolgt werde. Er schätzt, dass im Zusammenhang mit den Bauarbeiten mindestens 20 Fälle von Kinderprostitution und sexuellen Übergriffen auf Kinder allein in Novo Oriente bei unterschiedlichen Stellen angezeigt wurden.
Die Entwicklung der südlich von Novo Oriente gelegenen 104.000 Einwohner starken Stadt Açailândia ist aufs Engste mit der Zugstrecke und der Eisenproduktion verknüpft. Açailândia wurde Ende der 70er Jahre im Rahmen der Bauarbeiten für die Bundesautobahn Belém-Brasilia sowie der rasanten Entwaldung der Region gegründet. Ende der 80er Jahre wurden entlang der Gleise des Eisenzuges 14 Hochöfen zur Produktion von Roheisen installiert. Sie werden von Vale mit Eisenerz beliefert und stehen aufgrund der Luftverschmutzung in der Kritik. Und wegen der Produktionsbedingungen der für die Reduktion bei der Eisenverhüttung benötigten Holzkohle. Es handelt sich um kleine, meist illegale Köhlereien, welche die restlichen Waldbestände verfeuern und bereits mehrfach aufgrund unmenschlicher Arbeitsbedingungen und Kinderarbeit angeklagt wurden. Allein im Jahr 2013 wurden 21 dieser Köhlereien wegen Menschenrechtsverletzungen gegenüber 162 Arbeiter_innen auf der „Schmutzige Liste der Sklavenarbeit“ des Bundesministeriums für Arbeit verzeichnet. Das so gewonnene Roheisen ist fast ausschließlich für den Export bestimmt.
In Piquiá de Baixo leben etwa 1.100 Menschen, der Stadtteil liegt an der Bundesautobahn 222 in Richtung São Luis und wird auf der einen Seite von den Gleisen, auf der anderen Seite von den derzeit drei aktiven Eisenwerken, einem gasbetriebenem Kraftwerk und einer Zementfabrik begrenzt. Heute Nachmittag treffen sich Teile der Nachbarschaft in den Räumen der Anwohner_innenvereinigung. Es geht um die Fortschritte in einem von mehreren laufenden Berufungsprozessen. Triumphierend erzählen die Menschen hier, dass sie neuerdings eine Plakette mit dem Gründungsjahr der örtlichen Grundschule entdeckt haben. „Die Schule hatte 1974 schon vier Klassenzimmer, das heißt doch, dass hier schon Menschen gewohnt haben!“ sagt Franscisca Sousa Silva, stellvertretende Vorsitzende der Anwohner_innenorganisation. Die Existenz der Schule gilt als Beweis dafür, dass der Ort bereits vor der Installation der Hochöfen da war. Die Unternehmen behaupten gerne das Gegenteil, wollen sie doch nicht für die gesundheitlichen Folgen der Luftverschmutzung und die durch Industriemüll verursachten Unfälle verantworlich gemacht werden.
Einige Straßen weiter sitzt Antonia Rodriguez Sousa auf der Veranda vor ihrem Haus. Sie schaut zum Himmel und sagt, dieser ziehe sich oft zu: „Es sieht dann aus, als würde es regnen. Aber es ist nur der Dreck.“ Es sind Wolken aus Rauch, Eisenstaub und Gas – letzteres entweicht aus dem nahegelegenen Kraftwerk. Staub und Ruß bestimmen das Leben von Antonias Familie. Nachts, wenn es windstill sei, so erzählt sie, würden die Bewohner_innen der einfachen Holzhäuser oft verzweifelt um Luft ringen und um ihre Gesundheit fürchten. „Jetzt im Mai beginnt die trockene Jahreszeit, das ist die Zeit, in der die Leute sterben“, sagt auch Ivan Gonçalves dos Santos, Lehrer in Piquiá de Baixo.
Justiça nos Trilhos hat im Zusammenhang mit der Luftverschmutzung in den letzten 14 Monaten fünf Todesfälle im Ort registriert. Auch eine Studie der internationalen Menschenrechtsorganisation FIDH befragte die Anwohner_innen nach ihrem Gesundheitszustand und kam zu dem Ergebnis, dass in 38 Prozent der Haushalte mindestens eine Person unter chronischen Gesundheitsbeschwerden litt. Nach akuten Problemen gefragt, gaben 81,5 Prozent der Befragten an, Halsschmerzen und Schluckbeschwerden zu fühlen, jeweils 79 Prozent litten unter Hustenkrämpfen und Kopfschmerzen.
Maria Aldenir da Silva ist verzweifelt, denn sie weiß nicht, wie sie ihre Familie vor diesen gesundheitlichen Schäden schützen soll. Das geringe Einkommen der Familie reiche nicht aus, um die Miete an einem anderen Ort zu zahlen, wie es viele ihrer früheren Nachbar_innen notgedrungen bereits tun. „Unsere Kinder sind alle gelb, unterentwickelt und husten“, sagt sie. Ein Arzt bestätigte ihr kürzlich, dass sie in einem Risikogebiet lebe, doch das wusste Maria Aldenir bereits. Sowohl ihre Schwester als auch Bruder und Schwägerin sind an Lungenkrankheiten verstorben. Als sei dies nicht genug, zeigt sie die Bilder der Lungentomographie ihres 26-jährigen Sohnes, der aufgrund einer schweren Lungenerkrankung arbeitsunfähig wurde, nachdem er ein Jahr an den Hochöfen der ansässigen Eisenwerke gearbeitet hatte.
Stadteinwärts, ungefähr acht Kilometer von Piquiá de Baixo entfernt, ragt bereits eine Plakette mit der Aufschrift „Dies ist das Gelände der Neuansiedlung von Piquiá de Baixo“ aus einer Wiese. Auf vielen der einfachen Holzhäuser des Stadtteiles pranken weiterhin grüne Aufkleber mit der Aufschrift Reassentamento Já, was soviel heißt wie „Umsiedlung jetzt“. Nach fast einem Jahrzehnt organisierter Mobilisierungen und mithilfe lokaler und internationaler Solidaritätskampagnen sind die Bewohner_innen von Piquiá de Baixo in ihrem Kampf um das Recht auf eine schadstofffreie Umgebung einen Schritt weiter gekommen. Bereits 2011 waren die Bedingungen der geplanten Entschädigung und Umsiedlung in einem Abkommen zwischen dem Industrieverband SIFEMA, der Anwohner_innenorganisation und der lokalen Regierung festgelegt worden. Antonio Aragujo, der auch in Piquiá de Baixo lebt, erzählt aber, dass so richtig Bewegung erst in die Sache gekommen sei, als Bewohner_innen am 6. März 2014 für über dreißig Stunden die Werktore der Unternehmen blockierten. Erst dann kam etwas ins Rollen. Zwei Monate später wurde die Zahlung für den Erwerb des Grundstücks durch den Industrieverband geleistet. Franscisca Sousa berichtet, dass die Pläne und Modelle für das urbane Bauvorhaben schon lange fertig sind und die Organisation derzeit ungeduldig auf die Autorisierung durch die Bürgermeisterin wartet, um noch in diesem Jahr mit dem Bau ihres neuen Stadtteils beginnen zu können. „Ich denke die ganze Zeit: Was wird nur aus uns in diesem Sommer! Doch dann erinnere ich mich, dass wir vielleicht schon dieses Jahr hier weg können und hoffe einfach sehr, dass es klappt“, sagt Maria Aldenir.
Auch in Novo Oriente haben die Anwohner_innen aufgrund der entstandenen Probleme und mit der Forderung nach Ausgleichsleistungen Initiative gezeigt. 2012 besetzten sie einen Teil der Baustelle und drohten, auch die Schienen zu blockieren. Die Blockade hat eine Reihe von Investitionen durch das Unternehmen in die Gemeinde bewirkt, die ramponierte Straße wurde ausgebessert, der Bau eines Mobilfunkmasts ist in Planung. Aber sechs Aktivist_innen, darunter auch Francisco Martins, stehen aufgrund der Schienenblockade derzeit vor Gericht. Dabei haben sie die nicht durchgeführt, sondern nur angedroht. Ein Akt der Einschüchterung sei dies, meint Francisco. „Aber wir lassen uns nicht einschüchtern. Was Vale betrifft, können wir nicht einfach mit verschränkten Armen hier sitzen und abwarten“. Die Bauarbeiten in seinem Wohnort, der MST-Siedlung Franscisco Romão, wurden vorerst ausgesetzt. Er schätzt, dass derzeit erst 60 Prozent der Schienenarbeiten entlang der Eisenstraße durchgeführt sind, viele Konflikte stehen daher noch aus.
Piquiá de Baixo und Novo Oriente sind nur zwei Beispiele dafür, wie Eisenerz das Leben in der Region verändert. „Dort fährt der längste Zug der Welt, schlängelt sich, verschwindet. Und eines Tages, das weiß ich, wird er nicht wiederkommen, denn dann gibt es weder Erde noch Herzen mehr“, schrieb Drummond de Andrade 1984. Es gibt aber auch Hoffnung. Denn 30 Jahre später ist deutlich, dass nicht nur die Zerstörung, sondern auch die Lebendigkeit der Bewegungen die Region prägt.

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