Nummer 325/326 - Juli/August 2001 | Peru

Der unscheinbare Präsident

Die Aufklärung der Vergangenheit unter der Regierung Paniagua

Das Mandat des Übergangspräsidenten Valentín Paniagua läuft am 28. Juli ab. In den wenigen Monaten seiner Amtszeit organisierte er nicht nur saubere und transparente Wahlen. Seine Regierung steht vor allem für eine andere Moral in der Politik: Die da oben sollen künftig nicht mehr ungestraft machen können, was sie wollen.

Rolf Schröder

Die peruanische Wochenzeitung Caretas vertreibt seit einigen Wochen ein Computerspiel mit dem hübschen Namen Vladigame. Der Held des Spiels ist Niko, ein junger Draufgänger mit Stirnband und Turnschuhen, der sich auf den Weg macht, den großen Mafioso Vladimiro Montesinos und dessen Komplizen Alberto Fujimori zu stellen. „Nie zurückweichen. Sich niemals der Korruption ergeben!“ lautet seine Devise, und entsprechend verfolgt er die Flüchtenden allen Hindernissen und Widrigkeiten zum Trotz. Auf der Jagd nach den Bossen muss er erst einmal korrupte Generäle, Staatsanwälte oder Abgeordnete ausschalten, die seinen Tatendrang zu bremsen versuchen.
Im wirklichen Leben ist der Mafiaboss inzwischen geschnappt worden, es fehlt nur noch sein japanischer Komplize. Der reale Niko, dem die peruanische Bevölkerung das Verdienst anrechnet, Vladimiro Lenin Montesinos Torres und einen großen Teil seiner Helfershelfer zu Fall gebracht zu haben, ist viel unscheinbarer als sein flotter virtueller Kollege. Es ist der Interimspräsident Valentín Paniagua, der im November letzten Jahres vereidigt wurde, als der bisherige Amtsinhaber Fujimori Hals über Kopf nach Japan flüchtete.
Nach der überraschenden Festnahme des Bösewichts Montesinos in Venezuela lag Paniagua in der Beliebtheitsskala peruanischer Politiker mit 64 Prozent deutlich an der Spitze – weit vor seinem Nachfolger Alejandro Toledo, der ihn am 28. Juli beerben wird. Er wird respektiert, gerade weil er unauffällig arbeitet und sich niemals in den Vordergrund drängt. Außerdem hat er seine zunächst wichtigste Aufgabe bravourös gelöst: die Organisation fairer und transparenter Wahlen.

Hundertmal lebenslänglich

Die zweite Aufgabe, die sich die Regierung gestellt hatte, war keineswegs einfacher: die Entscheidungsträger, Kollaborateure und Mitläufer des Montesinos-Fujimori-Regimes zur Rechenschaft zu ziehen und damit den alten Machtapparat zu zerschlagen.
Als Erstes richtete die Regierung eine parlamentarische Untersuchungskommission unter Vorsitz des Abgeordneten David Waisman ein, die sich mit dem Fall Montesinos befassen sollte. Diese sichtete Berge von Beweismaterial, studierte unzählige Videos aus dem Geheimdienstarchiv Montesinos und verhörte Hunderte von Zeugen. Das Ergebnis: Es gibt kaum einen Paragrafen des Strafgesetzbuchs, gegen den der ehemalige Geheimdienstchef und Präsidentenberater nicht verstoßen hat. 40 Anklagen gegen Montesinos sind bereits erhoben, weitere 100 sind in Vorbereitung. Das Material, das die peruanischen Richter, die demnächst über den Fall Montesinos zu befinden haben, von der Waisman-Kommission an die Hand bekommen, reicht mindestens für hundert Mal lebenslänglich.
Auch gegen die Nummer zwei der Mafia, den in Japan ansässigen Alberto Fujimori, liegt inzwischen reichlich Material vor. So wird der Ex-Präsident als Ko-Autor des Massakers von Barrios Altos angeklagt, bei dem die Todesschwadron „Colina“ 1992 fünfzehn Personen ermordet hat. Ganz nebenbei läuft gegen Fujimori eine Ermittlung wegen illegaler Bereicherung und der Beteiligung an den Waffen- und Drogengeschäften seines Partners Montesinos. Sogar Keiko Sofía Fujimori, die noch in Lima weilende Tochter des Ex-Präsidenten, wird mit Drogenhandel in Verbindung gebracht.

Die Vaterlandsverräter

Wie Turnschuhheld Niko ging die Regierung Präsident Paniaguas auch gegen korrupte Offiziere vor. Insgesamt elf Generäle aller Waffengattungen, unter ihnen die drei ehemaligen Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Nicolás de Bari Hermoza, José Villanueva und Walter Chacón, sitzen inzwischen im Gefängnis. Weitere stehen unter Hausarrest, der ehemalige Verteidigungsminister Victor Malca ist geflüchtet. Gegen alle wird wegen Waffen- und Drogenhandel ermittelt. Sie haben außerdem Kommissionen in Millionenhöhe bei der Anschaffung minderwertiger Waffen für die peruanischen Streitkräfte abkassiert. Deswegen können sie in Peru sogar wegen Vaterlandsverrat angeklagt werden. Pikanterweise hat gerade das Fujimori-Regime für diesen Tatbestand die Todesstrafe wieder eingeführt.
Auch die Polizei traf es. Fernando Dianderas, letzter Innenminister Fujimoris und davor Polizeichef, ließ seine Ordnungskräfte wegschauen, als während einer Demonstration gegen den Wahlbetrug im letzten Jahr Agenten des Geheimdiensts SIN ein Bankgebäude in Brand setzten und gewaltsame Auseinandersetzungen provozierten. Die Bilanz: acht Tote und hunderte Verletzte. Damit nicht genug: Mehrere hundert Demonstranten wurden festgenommen und teilweise misshandelt. Nun wird Dianderas zusammen mit anderen verantwortlichen Polizeigenerälen der Prozess gemacht.

Unternehmerische Freiheit

Den Politikern ging es nicht besser: Minister, Bürgermeister und Abgeordnete, die sich filmen ließen, als sie Geld von Montesinos annahmen, stehen unter Hausarrest. Ermittlungen gegen frühere Minister, die sich bei der Privatisierung von Staatsbetrieben bereicherten, stehen leider erst am Anfang. Der Ex-Wirtschaftsminister Jorge Camét und der ehemalige Ministerpräsident Alberto Pandolfi werden verdächtigt, die Fluglinie Aero Perú und die Flughafengesellschaft CORPAC unter Wert verkauft zu haben. Victor Joy Way, langjähriger Wirtschafts- und Industrieminister, kann die Herkunft von Dollarbeträgen in zweistelliger Millionenhöhe auf seinen Schweizer Konten nicht erklären und wird wegen illegaler Bereicherung und Steuerbetrug angeklagt. Außerdem werden gegen alle sechs Ministerpräsidenten des Fujimori-Regimes Klagen vorbereitet: Sie haben rund eine Milliarde Dollar aus Privatisierungsgeldern für zweifelhafte Waffenkäufe ausgegeben, bei denen Provisionen in Millionenhöhe flossen.
Sogar gegen Unternehmer wird vorgegangen: José Francisco Croussillat, ehemals Besitzer des Fernsehkanals 4, wird angeklagt, weil er sich für 1,5 Millionen Dollar monatlich verpflichtete, seinen Sender zum Sprachrohr der Regierung zu machen. Eduardo Calmell, vormals Direktor der Tageszeitung Expreso, der sich seine Dienste für das Regime mit zwei Millionen Dollar auf die Hand entlohnen ließ, konnte gerade noch flüchten. Und schließlich schlossen sich die Gefängnistore für die Gebrüder Winter, die sich des Fernsehkanals 2 bemächtigten, nachdem das Regime dem eigentlichen Besitzer Baruch Ivcher die für den Betrieb von Fernsehstationen notwendige peruanische Staatsangehörigkeit entzogen hatte. Gegen Verleger und verantwortliche Redakteure der Boulevardpresse wird noch ermittelt: Sie erhielten monatlich 180 000 US-Dollar von Montesinos.

Recht und Unrecht

Die eingeleiteten Ermittlungen wären ohne radikale Umbesetzungen im Justizapparat nicht möglich gewesen. Deshalb musste die Regierung Paniagua als Erstes die obersten Staatsanwälte und Richter auswechseln. Inzwischen sitzen die beiden letzten Generalstaatsanwälte des Regimes, Miguel Aljovín und Blanca Nélida Colán, selbst auf der Anklagebank. Sie waren dafür zuständig, alle Ermittlungen und Klagen gegen ihren Gönner Montesinos zu den Akten zu legen. Zahlreiche Richter, die auf Anweisung Montesinos das Recht beugten, sitzen ebenfalls ein. Trotzdem ist die Justiz immer noch mit Erfüllungsgehilfen des alten Regimes durchsetzt. Das zeigte sich einmal mehr im Prozess gegen die US-Bürgerin Lori Berenson. Die Sympathisantin des Movimiento Revolucionario Tupac Amaru (MRTA) war 1995 wegen Terrorismus zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Nicht zuletzt auf Druck der USA wurde das Verfahren in diesem Jahr noch einmal aufgenommen. Der vorsitzende Richter konnte Berenson lediglich nachweisen, dass sie eine Wohnung für den MRTA gemietet und Zeichnungen von den Räumlichkeiten des peruanischen Kongresses angefertigt hatte, auf den der MRTA zu einem späteren Zeitpunkt einen Angriff plante. Das reichte, um sie zu zwanzig Jahren Gefängnis zu verurteilen.
Dafür kamen aber 136 politische Gefangene frei, die das Montesinos-Fujimori-Regime zu Unrecht inhaftierte. Über hundert sitzen nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Aprodeh immer noch ein. Hinzu kommen über 2000 Gefangene des Sendero Luminoso und des MRTA, die in militärischen Schnellverfahren verurteilt wurden, die internationalen Rechtsnormen nicht entsprachen. Deren Haftbedingungen haben sich jedoch verbessert: die strenge Isolationshaft wurde aufgehoben, und der Hofgang ist von einer halben auf zwei bis drei Stunden täglich verlängert worden. Besuche von Verwandten sind häufiger erlaubt als früher, ein Anwalt kann immer dann hinzu gezogen werden, wenn er gebraucht wird. Das über 4000 Meter hoch liegende Hochsicherheitsgefängnis Yanamayo wurde wegen unmenschlicher Haftbedingungen geschlossen.

Die Wahrheitskommission

Die Regierung Paniagua ist bemüht, die rechtliche Aufarbeitung der Vergangenheit sogar auf die letzten 20 Jahre auszudehnen. Vor einem Monat gab die Regierung die Besetzung einer so genannten Wahrheitskommission bekannt, die sich aus Personen des öffentlichen Lebens zusammensetzt. Sie soll den Verbrechen der Armee im Bürgerkrieg mit dem Sendero Luminoso und dem MRTA auf die Spur kommen. Auf das Konto des Militärs gehen die Ermordung von mindestens zweitausend Zivilisten und mehr als viertausend Verschwundene. Als Präsidenten waren neben Fujimori auch dessen Amtsvorgänger Fernando Belaúnde und Alan García verantwortlich. Alle drei stellten sich in der Vergangenheit stets vor die Armee und schoben Massaker im Zweifelsfall auf den Sendero Luminoso.
Im Vergleich mit der Aufarbeitung der Militärdiktaturen in den Nachbarländern hat sich in Peru wirklich etwas bewegt. Das kann aber nur der Anfang sein. Denn auch die jetzige Führungsspitze der Armee arbeitete mit Montesinos zusammen. Die Machtstellung der Militärs und der nach wie vor zu große Militärhaushalt wurden von Paniagua nie ernsthaft angetastet. Die meiste Arbeit wird die künftige Regierung unter Präsident Toledo aber in der Justiz haben. Justizminister Diego García Sayán gab bekannt, dass 250 Gesetze, die in den letzten zehn Jahren verabschiedet wurden, gegen die Menschenrechte und die Verfassung verstoßen. Das bedeutet: alle Urteile, die auf Grund dieser Gesetze rechtswirksam geworden sind, müssten revidiert werden.
Die Erfolge des unauffällig arbeitenden Präsidenten Paniagua bei der Vergangenheitsbewältigung werden von allen Seiten anerkannt. Sogar die Festnahme Montesinos wird ihm als Verdienst angerechnet, denn die peruanischen Strafverfolgungsbehörden haben in diesem Fall effektiv zusammengearbeitet. Bei so viel Lob für Paniagua wird auch das Ausland aufmerksam: Der zum Staatsmann gereifte Politiker wurde kürzlich für den Posten des OAS(Organisation Amerikanischer Staaten)-Generalsekretärs ins Gespräch gebracht.

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