Bolivien | Nummer 428 - Februar 2010

„Der Volksdiener schaut nicht auf die Uhr“

Interview mit der Ex-Ministerin für ländliche Entwicklung und Landfragen

Im alten Kabinett der auch bei den Dezemberwahlen 2009 siegreichen Partei Bewegung zum Sozialismus MAS amtierte Julia D. Ramos Sánchez als Ministerin für ländliche Entwicklung und Landfragen. Die Latein-amerika Nachrichten sprachen mit ihr über die Neugestaltung Boliviens, die Notwendigkeit einer neuen PolitikerInnenmentalität und Evo Morales‘ Bedeutung für den Wandel.

Interview: Benjamin Beutler

Nach dem Wahlsieg hat Präsident Evo Morales die »Beschleunigung des Wandels« angekündigt. Die Rechte ist bei den Wahlen untergegangen. Ist nun der Weg frei zu einer tief greifenden Umgestaltung?
Erst ab jetzt, mit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung, können wir den Neoliberalismus richtig beerdigen. Auch wenn wir bisher an der Regierung gewesen sind, im Großen und Ganzen ist das neoliberale System intakt geblieben. Ab jetzt wird sich das ändern. Die Anpassung der nationalen Gesetzgebung an die neue Verfassung steht an und soll Bolivien mehr Demokratie und Gleichheit bringen. Die neue Zweidrittelmehrheit in Abgeordnetenkammer und Senat wird uns bei der Beschleunigung des Wandels sicher helfen.

SkeptikerInnen sprechen vom schmutzigen Geschäft der Politik, alle PolitikerInnen gleich welcher Couleur seien korrupt. Was macht Ihre Partei so besonders?
Wir wollen vor allem falschen Egoismus und Individualismus überwinden. Ein Land voller Solidarität und Respekt ist unser Ziel. Das Leben um uns herum wollen wir wertschätzen. Nur das soll von der Natur genommen werden, was wir für den täglichen Gebrauch und ein gutes Leben brauchen. Nichts soll in großen Mengen der Natur entnommen werden, wir wollen nicht zerstören. Unsere Botschaft ist der Schutz der Pachamama, der Mutter Erde. Klimawandel und Umweltzerstörung sind Ergebnis des angewendeten neoliberalen Systems, worunter wir noch viel leiden werden. Wir hoffen, dass andere Länder Schritt für Schritt ein neues Bewusstsein erlangen, um mit der Natur ein neues Verhältnis aufbauen zu können. Der Einzelne kann viel bewegen und helfen, damit es Veränderung gibt. Wer hätte 1994 gedacht, dass wir von unten einmal Minister oder Abgeordnete sein werden. Wir verändern uns alle, mit Schwierigkeiten, aber hier sind wir.

Nur politische Programme zu schreiben reicht da nicht …
Wir, die wir in die Verantwortung gewählt wurden, können die Art Politik zu machen, ändern. Es liegt an jedem Einzelnen. In Bolivien ist besonders der Geist des Bürokratentums ein großes Problem. In den eigenen Reihen, in Regierung und Staatsapparat haben wir noch viele Leute, die nur Funktionäre sind. Wir aber brauchen echte Volksdiener. Der Funktionär rennt um 8.30 Uhr morgens ins Büro, um kurz nach Mittag nach Hause zu gehen. Den ganzen Nachmittag bleibt sein Posten unbesetzt. Der Volksdiener hat schon um 5 Uhr in der Früh Kabinettssitzung, oft ist erst um Mitternacht Schluss. So muss gearbeitet werden, um vorwärts zu kommen. Der Funktionär arbeitet wie eine Maschine. Der Volksdiener aber schaut nicht auf Uhr und Stunden, um seinem Land zu helfen.

Machen Sie als Ministerin also mehr Druck?
Wir Politiker müssen als Vorbilder dienen. Doch gibt es wenige, denen harte Arbeit gefällt. Meinen eigenen Leuten sage ich: »Kommt doch wenigstens um 7.30 Uhr. Für die anderen sind wir Vorbilder!« Weniger Bürokraten-Mentalität, mehr Bewusstsein dafür, dass wir bezahlt werden, um eine Politik der Wohlfahrt voranzutreiben.

Wohlfahrt in welchem Sinne?
Den Staat verstehe ich als Vater. Für alle muss er Sorge tragen: Dass sie gut essen, gut leben, dass sie glücklich sind wie in einer glücklichen Familie. Wenn es Streit gibt, weil der eine zu viel hat, alles für sich behalten will und der andere Hunger leidet, dann hängt der Haussegen schief. Könnten wir die Ungleichheit beseitigen und dieses Verständnis mit anderen teilen, dann wäre die soziale Situation in Bolivien sicher eine andere.

Was ändert sich in der Wirtschaftspolitik?
In der Wirtschaft streben wir die Stärkung des Binnenmarktes an. Bei der Nahrungsmittelproduktion müssen wir erst an unsere eigene Bevölkerung denken, erst dann an den Export. Es gibt ländliche Gebiete in denen Hunger gelitten wird, die aber Quinoa (Hülsenfrucht, Anm. d. Red.) anbauen. Nur für den Export zu produzieren, das ist nicht richtig. Auf der anderen Seite sehe ich auf jedem Tisch in Bolivien importierte Coca Cola. Die Städte sind voller Werbung. Dabei ist Coca Cola ungesund und sie schadet unserer Wirtschaft. Wir haben doch eigene Getränke, die genauso gut schmecken. Mit alten Gewohnheiten müssen wir brechen, unser Geld nicht den transnationalen Multis in den Rachen werfen. Das Eigene wertschätzen, das Eigene konsumieren, bolivianische Produkte kaufen!

Wie wichtig ist Evo Morales für den Wandel?
Er gibt unserer Regierung Autorität – moralische Autorität, keine diktatorische. Präsident Morales steht mit seinem Einsatz, seiner Transparenz, seiner Treue für diese moralische Autorität. Nicht der persönliche Vorteil interessiert ihn, sondern die politische Arbeit. Verheirateten Ministern sagt er: »Vergesst eure Familien. Eure Familie ist Bolivien«. Wir sind Soldaten der Revolution.

Ist seine Machtfülle kein Problem für die Demokratie?
Ein Auto hat nur ein Lenkrad. Darum gibt es nur einen Fahrer. Genauso wichtig aber ist derjenige, der sich um die Reifen kümmert. So gut der Fahrer auch ist, er kann nicht weiterfahren, wenn der Reifen geplatzt ist. Wir sind alle genauso wichtig wie der Fahrer, wir alle müssen unser Bestes geben, nur so werden wir vorankommen.

Sie sind Indigene und Frau. Stoßen Sie nicht auf viel Widerstand?
Ja, sicher. Immer noch gibt es viel Rassismus. Nur sind die Rassisten jetzt stiller geworden. In den Tieflanddepartamentos Santa Cruz, Beni, Pando und in Tarija, von wo ich komme, wird immer noch auf die »Indios« oder »collas« (abfällige Bezeichnung für indigene Hochländer, Anmerk. d. Red.) geschimpft. Doch langsam findet auch hier ein Wandel statt, vor allem Akademiker öffnen sich zunehmend. Aber den Rassismus hinter vorgehaltener Hand gibt es weiter.

Ausgerechnet mit Hilfe übergelaufener Rechtspolitiker will die MAS bei den Kommunal- und Departamentowahlen im April die verbliebene Regionalmacht der Opposition im Tiefland brechen? Ist das nicht ein riskantes Manöver?
Geben wir denen, die jetzt einer Lawine gleich das Lager wechseln, eine Chance. Wenn sie etwas vorhaben, sie sollen es nur versuchen. Die Basis wird persönliche Bereicherung oder Korruption schnell aufdecken und das neue Amtsenthebungsverfahren einleiten. Dann sind sie raus. Jetzt gibt es echte gesellschaftliche Kontrolle. Für die Wahlen hat Präsident Morales die Losung ausgegeben: »Wir fegen unser Haus von außen nach innen«. Wenn die Bürgermeister und Präfekten erst einmal gewonnen sind gilt: »Wir fegen unser Haus von innen nach außen«. Priorität haben jetzt die Stimmen für den Wandel.

Kasten:

JULIA D. RAMOS SÁNCHEZ

Die 37-jährige Mutter und Gewerkschafterin begann ihren Kampf für Gleichheit und einen neuen Politikstil in der sozialen Bewegung Indigene Frauen und Bäuerinnen Bartolina Sisa.

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