Chile | Nummer 291/292 - Sept./Okt. 1998

Der weiße Fleck

Wie aus dem chilenischen Weg zum Sozialismus der Weg zum Neoliberalismus wurde

25 Jahre nach dem blutigen Putsch gegen die demokratisch gewählte Regierung ist die Amtszeit von Salvador Allende in den Köpfen vieler ChileInnen nur noch ein weißer Fleck. Im Zeitraffer beschreibt unser Artikel die Entwicklung des Landes von der Polarisierung in den sechzigern über die dramatischen Ereignisse im September 1973 bis zur völligen wirtschaftlichen Umkrempelung der chilenischen Gesellschaft. Bleibt nur die Hoffnung auf die Jugend.

Urs Müller-Plantenberg

In der kollektiven Erinnerung der Chileninnen und Chilenen von heute hat sich die Zeit der Regierung der Volkseinheit (Unidad Popular) unter dem Präsidenten Salvador Allende (1970-1973) allmählich zu einem weißen Fleck entwickelt, zu einer Episode der chilenischen Geschichte, die man eher vergessen sollte. Die Hoffnungen, die die verschiedensten Strömungen der Linken in Europa und der Welt – auch und gerade nach dem Scheitern des Prager Frühlings – mit dem „chilenischen Weg zum Sozialismus“ verbunden hatten, erscheinen als illusionäre Träume, die nur auf einen Mangel an Realitätssinn und Kenntnis der wirklichen Lage in Chile zurückzuführen waren. Wenn in der Geschichte des Landes eine Periode als Abirrung vom Pfad der Tugend begriffen wird, dann sind es nicht so sehr die langen Jahre der Diktatur des Generals Augusto Pinochet (1973 bis 1990), ein Bruch mit der sehr alten demokratischen Tradition im Lande, sondern vielmehr die Jahre kurz vor und während der Regierung Allende, weil in ihnen die politischen Auseinandersetzungen einen Grad an Heftigkeit erreichten, wie er vorher unbekannt war und seit dem Ende der Militärdiktatur streng verpönt ist. Aus diesem Blickwinkel erscheint sogar die erzwungene Grabesruhe der autoritären Militärdiktatur als eine Rückkehr zur „Normalität“.

Nur als Klassenkampf zu begreifen

Nun hatten tatsächlich die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen seit der Mitte der sechziger Jahre eine vorher unbekannte Qualität gewonnen, weil die Gewährung demokratischer Rechte an immer größere Massen der Bevölkerung das Kräfteparallelogramm stark zu Ungunsten der bis dahin allein tonangebenden Oligarchie verschoben hatte und diese nicht willens war, auf ihre Privilegien ohne Kampf zu verzichten. Schon die Regierungszeit des christdemokratischen Präsidenten Eduardo Frei (1964 bis 1970) ließ sich über weite Strecken nur mit den Kategorien des offenen Klassenkampfes interpretieren.
Die damalige Verfassung Chiles machte es – wie in den USA und vielen anderen Ländern Amerikas – möglich, daß ein Präsident mit nur relativer Mehrheit gewählt werden konnte und dennoch weitreichende Vollmachten erhielt. Mit den Wahlen von 1970 konnte so eine von den Parteien der Arbeiterklasse beherrschte Koalition – und das unterschied sie von der Volksfront der dreißiger und vierziger Jahre – mit der Regierung einen wichtigen Teil des Staatsapparates erobern und unter Ausnutzung bestehender Gesetze wirtschaftliche Machtpositionen der herrschenden Schichten teils erobern, teils ernsthaft bedrohen.
Damit war das Szenario für ein Laboratorium des Klassenkampfes eröffnet, wie man es sonst in dieser – besonders für Weltpresse und Sozialwissenschaft – erregenden Mannigfaltigkeit der Schauplätze und Kampfformen selten hat finden können. Daß der Klassenkampf für die meisten Beteiligten nicht eben angenehm ist, steht auf einem anderen Blatt und erklärt zum Teil die heutige Bereitschaft zum Vergessen. In jedem Fall waren die Auseinandersetzungen viel komplexer und konkreter, als die meist relativ eindimensionalen Erklärungsversuche aus dem Ausland glauben machen wollten, die häufig ohnehin das chilenische »Beispiel« nur benutzten, um sich irgendeine ewige Wahrheit bestätigen zu lassen.
Der folgende Zeitraffer versucht, der Komplexität der Entwicklung wenigstens etwas gerecht zu werden.

Die unsichtbare Blockade des Imperialismus

Zunächst ließ sich die Sache noch relativ friedlich an. Die Regierung Allende konnte im ersten Jahr die Einkommensstruktur entscheidend zugunsten der sozial schwächeren Schichten – besonders aber der Arbeiterklasse – verändern und auf diese Weise sogar kurzfristig einen wirtschaftlichen Boom auslösen, der im wesentlichen auf die bessere Ausnutzung bestehender Kapazitäten bei steigender Nachfrage basierte. Diese anfänglichen Erfolge der Regierung auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet bewirkten eine quantitative Stärkung und Erweiterung ihrer politischen Basis, besonders in den städtischen Slums und auf dem Lande. Gleichzeitig aber auch qualitativ eine Demobilisierung der Massen.
Der scheinbar in die Defensive gedrängte Imperialismus – und nicht anders kann man das Verhalten der US-Regierung und der US-Konzerne zu dieser Zeit bezeichnen – antwortete von Anfang an mit dem, was man die »unsichtbare Blockade« genannt hat: Sperrung von Krediten, von Ersatzteillieferungen etc., während die einheimische Bourgeoisie sich weigerte, zu investieren, und statt dessen den Konsum erheblich steigerte. Die so geschaffene Übernachfrage führte zusammen mit der Einengung der Importmöglichkeiten Ende 1971/Anfang 1972 zu Gleichgewichtsstörungen, die sich bald in – zunächst vereinzelten – Versorgungsproblemen und in zunehmenden Inflationstendenzen spürbar machten. Teile des Kleinbürgertums, die bis dahin mit der Regierung zusammengearbeitet hatten, kehrten daraufhin der Unidad Popular schnell den Rücken. Gleichzeitig rückten die reformistische Christdemokratie und die traditionelle Rechte in der Opposition näher zusammen.
Um das Bündnis mit dem Kleinbürgertum zu erneuern und die Opposition wieder zu spalten, leitete die Regierung – vor allem unter dem Einfluß des kommunistischen Finanzministers Orlando Millas – Mitte 1972 eine Politik ein, die im Kern folgende Punkte zum Inhalt hatte: Lösung der Wirtschaftsprobleme mit Hilfe von Mechanismen des kapitalistischen Marktes, Steigerung von Produktion und Investition durch Garantien und Konzessionen an den nichtmonopolistischen Sektor der Privatwirtschaft und Verständigung mit der Christdemokratie über die Konsolidierung und die innere Struktur des sozialistischen Wirtschaftssektors. Diese Politik erreichte das Gegenteil dessen, was mit ihr angestrebt worden war. Die Gespräche mit der Christdemokratie scheiterten. Die Inflation beschleunigte sich in einem bisher unbekannten Ausmaß, so daß die Verbesserungen der Einkommensstruktur nur mühsam verteidigt werden konnten.
Gleichzeitig breitete sich der Schwarzmarkt aus. Parlament, Rechnungshof und Justizapparat verweigerten der Regierung immer konsequenter die legalen Mittel, um der Lage durch drastische Maßnahmen Herr zu werden. Das oppositionelle Parlamentsmehrheit machte zunehmend von der Möglichkeit Gebrauch, Minister und andere hohe Regierungsfunktionäre abzusetzen.
Die jetzt verstärkt einsetzende Politisierung der UnternehmerInnen- und Berufsverbände entlud sich schließlich im Oktober 1972 in dem von FuhrunternehmerInnen und EinzelhändlerInnen geführten Streik, der zu einer ersten groß angelegten Offensive der nun – zumindest taktisch – vereinigten Opposition wurde. Die Auswirkungen des Streiks trafen breite Bevölkerungsschichten, vor allem aber die Arbeiterklasse und . Unter dem Angriff der Reaktion wurden die ArbeiterInnen gezwungen, die Aufrechterhaltung der Produktion, die Bewachung ihrer Betriebe und die Verteilung der wichtigsten Konsumgüter in eigener Regie zu sichern und sich dafür die geeigneten Organisationsformen zu schaffen. So entstanden die Zusammenschlüsse der ArbeiterInnen in den Industriegürteln der Städte und die sogenannten Gemeindekommandos, in denen die Arbeiter mit anderen Organisationen der Bevölkerung zusammenarbeiteten. Die Mobilisierung wurde allgemein. Die Forderung nach »Volksmacht« als einer Alternative zur Macht des bürgerlichen Staatsapparats begann sich unter den ArbeiterInnen durchzusetzen.

Regierung nimmt Militärs ins Kabinett

Die Regierung fand schließlich eine politische Lösung für die durch den Streik ausgelöste Krise, indem führende Vertreter des bis dahin von der Tagespolitik ferngehaltenen Militärs in das Kabinett aufgenommen wurden. Die Militärs wurden von der Opposition als Garantie für die Einhaltung bestimmter Zusagen an die Streikenden und für die geordnete Durchführung der bevorstehenden Parlamentswahlen vom März 1973 akzeptiert. Mit dieser Lösung wurde der allgemeine Konflikt auf die politisch-institutionelle Ebene gehoben, was eine relative Demobilisierung der Arbeiterklasse bewirkte. Der Klassenkampf wurde für einige Monate als Wahlkampf ausgetragen.

Wahlen stärken Unidad Popular

Die Wahlen vom März 1973, von denen sich die Opposition die zur Absetzung des Präsidenten erforderliche Zweidrittelmehrheit erhofft hatte, endete statt dessen mit einem relativen Erfolg der Unidad Popular und besonders der marxistischen Parteien. Die Enttäuschung der Rechten über den Wahlausgang und über die Unmöglichkeit, die linke Regierung auf verfassungsmäßige Weise zu beseitigen, führte bald zu einer neuen und dauerhaften Offensive der Rechten, deren wichtigste Phasen der Streik eines Teils der Beschäftigten im Kupferbergbau (April-Mai 1973), der Putschversuch vom 29. Juni 1973 und der neuerliche Fuhrunternehmerstreik von August und September 1973 sind. Die neue Offensive wurde begleitet von immer heftigeren Wellen terroristischer Anschläge, die die zunehmende Brutalisierung eines großen Teils der Opposition zeigten.

Terror von Rechts

Die Polarisierung machte schließlich vor keiner Institution mehr halt. In den Streitkräften machten große Teile des Offizierskorps keinen Hehl mehr aus ihren putschistischen Neigungen. Brutal durchgeführte Durchsuchungen wegen vermuteten Waffenbesitzes richteten sich, wo es ging, gegen Organisationen der Arbeiterklasse, kaum gegen die terroristische Rechte.
Damit sanken die Chancen dafür, daß durch einen Kompromiß zwischen Unidad Popular und Christdemokratie eine dauerhafte Lösung des Konflikts auf politisch-institutioneller Ebene erreicht werden könnte. Diese Lösung hätte nämlich die innere Einheit und politische Neutralität der Streitkräfte zur Voraussetzung haben müssen. Sie hätte darüber hinaus erfordert, daß Mittel der Repression eingesetzt werden, und zwar entweder gegen die bisher mit der Christdemokratie in der Opposition verbündeten faschistischen Gruppen oder gegen die vorwärtstreibenden Teile der Arbeiterklasse, auf deren Unterstützung die Unidad Popular nicht verzichten konnte, wenn sie sich nicht selbst aufgeben wollte.

Das Militär putscht

Als die Militärs in dieser Situation vor nun 25 Jahren der Regierung der Volkseinheit mit ihrem Putsch ein blutiges Ende bereiteten, konnte niemand ahnen, daß das der Auftakt für eine lange Periode von mehr als 16 Jahren repressiver Diktatur sein würde. Noch weniger stellte man sich vor, daß im Schutze dieser Diktatur einer kleinen Gruppe ultraliberaler Ökonomen, nämlich den wegen ihrer Ausbildung sogenannten Chicago Boys die Gelegenheit gegeben würde, nicht nur die Wirtschaft, sondern die gesamte Gesellschaft völlig umzukrempeln.
Was in den achtziger Jahren von Margaret Thatcher in Großbritannien, Ronald Reagan in den USA und vielen – auch gewählten – Regierungen in Lateinamerika und dann in den neunziger Jahren in Osteuropa an neoliberalen Umwälzungen durchgeführt wurde, das hat alles schon vorher in Chile stattgefunden.
Die Liberalisierung des Systems der Preise, die Öffnung der chilenischen Ökonomie gegenüber dem Weltmarkt und eine drastische Reduzierung der Rolle des Staates in der Wirtschaft, das war nur der Auftakt zu viel umfassenderen Veränderungen der gesamten Gesellschaft, die als »Modernisierungen« angepriesen wurden und den individualistischen Eigennutz zur Quelle allen Reichtums machen sollten. Nach einem Zerstörungswerk sondergleichen, das seinen Ausdruck 1975 und 1982 in schweren Wirtschaftskrisen fand, hat die Wirtschaft Chiles seit 1986 auf dieser neuen Basis endlich zu relativ hohen Wachstumsraten gefunden. Das Ergebnis war, daß dieselben Christdemokraten und Sozialisten, die noch bis 1988 das geschaffene Modell einer rücksichtslosen Ellbogengesellschaft heftig attackiert hatten, dann, als sie nach dem Ende der Diktatur die Regierung bilden konnten, eifersüchtig darüber wachten, daß es nicht durch »populistische« Anwandlungen in Frage gestellt würde. Was sie allenfalls erreichen wollen, ist ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit – aber immer im Rahmen des Modells.

Die Verfassung der Diktatur zwingt zum Stillstand

Die von General Pinochet und seinen Beratern 1980 maßgeschneiderte neue Verfassung macht mit ihrem zur Konsenserzwingung künstlich organisierten Patt eine Weiterführung des Übergangs zur Demokratie durch Mehrheiten ebenso unmöglich, wie eine gründliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Diktatur. Es fragt sich allerdings, wie lange die junge Generation diesen Zustand des allgemeinen Immobilismus, zu dem auch ein extremer kultureller Konservatismus gehört, dulden wird. Vor den letzten Parlamentswahlen hat eine Million hauptsächlich junger Leute auf eine Einschreibung in die Wahllisten verzichtet, und von den Wahlberechtigten haben 15 Prozent ihre Stimmzettel ungültig gemacht. Wie die europäische Jugend nach dem Zweiten Weltkrieg, so wird auch die chilenische Jugend irgendwann die Frage praktisch stellen, ob alles so bleiben muß.

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