Literatur | Nummer 291/292 - Sept./Okt. 1998

Der Wirbelsturm und die Sonne

Zwei Sachbücher zur Situation in Kolumbien

Wer sich anläßlich der Entwicklungen der letzten Monate intensiver mit Kolumbien beschäftigen möchte, kann auf zwei interessante Bücher zurückgreifen: Zum einen auf eine Misereor-Publikation mit dem Schwerpunkt „Menschenrechtsverletzungen“, zum anderen auf einen vor Jahresfrist erschienenen akademischen Sammelband. Darin behandeln in 25 Aufsätzen ausgewiesene LandeskennerInnen ein breites Themenspektrum. Neben den obligatorischen soziopolitischen Analysen zur Drogen- und Gewaltproblematik finden sich auch Beiträge zur Außenpolitik und Wirtschaftsfragen.

Gerhard Dilger

Gut ein Drittel des Sammelbandes “Kolumbien heute” wird kulturellen Phänomenen gewidmet, unter anderem der modernen Lyrik, dem Roman und dem Theater, sowie – üppig vielfarbig illustriert – den bildenden Künsten und der Architektur. Nicht nur das kolumbianische Spanisch, sondern auch zwei karibische Kreol- und zahlreiche Indianersprachen werden charakterisiert. Leider fehlt ein vergleichbarer Überblick über die reichhaltige Musiklandschaft. Dennoch: Gründlich wie sonst keine andere deutschsprachige Publikation führt dieser Teil in die Kulturszene jenseits von García Márquez ein.
Dagegen wird mit vornehmer akademischer Zurückhaltung das Wirken der Regierung Samper ausgeklammert, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung immerhin bereits drei Jahre im Amt war und schon damals ein Paradebeispiel für das Phänomen „Machterhalt durch Vetternwirtschaft“ darstellte. Die historische Dimension ihrer Themen arbeiten jedoch alle AutorInnen gründlich heraus, so auch in den Beiträgen zur indigenen und zur schwarzen Bevölkerung. Ohne die jahrhundertelange Diskriminierung zu verharmlosen, werden hier die realen Fortschritte in der Organisation und Bewußtwerdung von Indígenas und AfrokolumbianerInnen aufgezeigt, die etwa in der Verfassung von 1991 ihren Niederschlag gefunden haben. Allzuoft geraten diese Menschen allerdings zwischen die Fronten der bewaffneten Auseinandersetzungen von (weiß-mestizisch geführten) Armee-Einheiten, Paramilitärs und Guerillagruppen. Oder sie stehen einem westlich geprägten Entwicklungsbegriff im Wege, etwa bei Großprojekten der Erdölförderung, der Energiegewinnung durch Wasserkraftwerke oder des Agrobusiness.
Die Landfrage wird zwar häufig gestreift, aber nicht als eigenes Thema unter die Lupe genommen – ein Manko, ist sie doch eine zentrale Ursache für die heutige Konfliktsituation, die in manchen Gegenden bereits bürgerkriegsähnliche Züge angenommen hat. Die seit 1961 zaghaft laufende Agrarreform wird seit gut zehn Jahren von einer Gegenreform überlagert: Mit Unterstützung der Armee vertreiben Paramilitärs im Dienste der neuen Großgrundbesitzer, meist Drogenhändler, Hunderttausende von Campesinos. Wer als Guerillasympathisant bezeichnet wird und nicht schnell genug flieht, muß mit seiner Ermordung rechnen. In den letzten Jahren wird so das strategisch hochinteressante Gebiet im Nordwesten geräumt, wo nach dem Willen staatlicher Entwicklungsplaner ein weiterer interozeanischer Kanal gebaut werden soll.

Zeugnisse gegen das Vergessen

Viel plastischer werden solche Fragen wie auch die vielfältige Komplizenschaft des Staatsapparates mit den rechten Todesschwadronen im Misereor-Buch „Gegen das Vergessen“ behandelt. Der exilierte Menschenrechtsanwalt Luis Guillermo Pérez läßt ausführlich neun Frauen und sieben Männer zu Wort kommen, politisch aktive Menschen und Angehörige von Verschwundenen. In diesen erschütternden Zeugnissen treten die Einzelschicksale hinter den immer wieder zitierten Zahlen hervor – über 20 000 politische Morde in zehn Jahren, die wiederum „nur“ rund 10 Prozent aller Morde ausmachen, eine Aufklärungsrate, die gegen Null tendiert, über eine Million Flüchtlinge im eigenen Land…
Der Erzbischof von Cali sieht in der Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik eine grundlegende Voraussetzung für den Frieden: „Gerechtigkeit ist eher gefordert als Barmherzigkeit“.
Eine breite Blutspur zieht sich durch fast sämtliche Texte, und der systematische Charakter des „paramilitärischen Projekts“ von der Auslöschung der linken Partei Unión Patriótica (UP) über Repressionen gegen Gewerkschafter und Menschenrechtler bis zur Vertreibung von Campesinos wird evident. Bewundernswert der Optimismus des engagierten Rechtsanwalts und UP–Mannes Josué Giraldo: „Bei einem verheerenden Wirbelsturm weiß man sehr wohl, daß an irgendeiner Stelle am Himmel die Sonne noch immer da ist (…). Nach den Unwettern wird der Himmel wieder wolkenlos sein…“
Eine fundierte Einleitung und weitere verbindende Texte von Bettina Reis stellen den gesamtgesellschaftlichen Kontext her, von der Menschenrechtsarbeit unter schwierigsten Bedingungen, den Hintergründen des „schmutzigen Krieges“, der sozialen Lage in Stadt und Land, der Fortschritte der Indígenabewegung bis hin zur Repression gegen GewerkschafterInnen. Unter permanentem Ausnahmezustand, der die Ansätze zu einer zivilen Gesellschaft systematisch zertrümmert, kann sich eine demokratische Linke ebensowenig entwickeln wie eine zivile Gesellschaft.
Merkwürdig blaß bleiben allerdings hier wie auch im Sammelband die Aktivitäten von FARC, ELN und den kleineren noch aktiven Guerillaverbänden, die nun wahrlich mehr als ein marginales Phänomen darstellen. Bei aller Abscheu gegenüber den Paramilitärs: Ihr Vormarsch ist auch eine Reaktion auf das Erstarken der Guerilla in den letzten fünfzehn Jahren, die ihre Kriegskassen mit Entführungen, Erpressung von Schutzgeldern und der „Besteuerung“ des Drogenhandels auffüllt.
Eine Analyse der langlebigsten lateinamerikanischen Rebellengruppen steht also noch aus – auch in Kolumbien gibt es hierzu nur Bruchstückhaftes. Ob es unter dem neuen Präsidenten Pastrana tatsächlich zu einem Friedensprozeß und zum Abklingen des “Wirbelsturms“ kommen wird? Für Josué Giraldo käme dies auf jeden Fall zu spät – wenige Monate nach seinen bewegenden Ausführungen wurde er im Beisein seiner zwei kleinen Töchter erschossen.

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