Film | Nummer 435/436 - Sept./Okt. 2010

Des Menschen Wolf …

… ist bekanntlich der Mensch. Die mexikanischen Beiträge zum Fantasy Filmfest in Deutschland Somos lo que hay und El Traspatio zeigten dies auf Zelluloid

Thilo „Fantasy“ Papacek

Der Liberalismus kennt keine Gesellschaft sondern nur Individuen. Margret Thatcher brachte dies mit ihrem berühmt gewordenen Zitat auf den Punkt. Wenn alle egoistisch für sich das eigene Wohl erkämpfen, ergibt sich das größte Wohl aller schon von selbst, so die Theorie. Seit den 1980er Jahren des letzten Jahrhunderts fand der Wirtschaftsliberalismus sein Revival und insbesondere in Lateinamerika hat er seitdem das Leben der meisten Menschen enorm verändert. Soziale Sicherung bietet die Gesellschaft nicht, die Menschen müssen sich selbst versorgen; wer das nicht schafft, geht eben unter.
Doch was, wenn man das Prinzip „jeder für sich“ zu Ende denkt? Dann kommt man bei „Might is Right“ (Macht ist Recht) heraus, wie der Titel eines berühmten Buchs des Sozialdarwinismus lautet: Dann gibt es keine moralischen Schranken mehr, außer den Grenzen der eigenen Macht.
In dem Film Somos lo que hay („We are what we are“), von Regisseur und Drehbuchautor Jorge Michel Grau, wird eine mexikanische Familie gezeigt, die das Prinzip „Friss oder stirb“ wörtlich lebt. Sehr wörtlich…
Nach außen wirken sie wie eine normale, wenn auch arme, mexikanische Familie: Vater, Mutter und die erwachsenen Kinder, Alfredo, Julián und Sabina. Den Lebensunterhalt bestreiten sie mehr schlecht als recht, indem sie auf einem der zahlreichen, informellen Straßenmärkte gebrauchte Uhren reparieren und verkaufen. Gut, ein wenig verschlossen und isoliert wirken sie schon, doch keiner ahnt, was sich hinter der Fassade der schweigsamen Familie abspielt.
Um den Speisezettel mit zusätzlichen Proteinen anzureichern, verschleppt die nette Familie von nebenan Menschen in die ärmliche Wohnung, schlachtet sie in einem bizarren Ritual und verspeist sie anschließend: Kannibalismus als Überlebensstrategie. Doch der geregelte Fleischnachschub ist in Gefahr, als der Pater Familias plötzlich dahinscheidet. Nun muss die junge Generation ran. Doch die Nahrungsbeschaffung gestaltet sich für Alfredo, Julián und Sabina schwieriger, als erwartet.
Das perfide an Somos lo que hay ist, dass das gängige Schema des Genres durchbrochen wird: Laut Klischee werden in Horrorfilmen Teenager von Monstern, Geistern oder Irren gejagt; hier jedoch sind die jungen SympathieträgerInnen die Monster und die ZuschauerInnen identifizieren sich mit ihnen. Und was die Jungs und Mädchen in dem Film so tun, ist nichts für Zartbesaitete.
Somos lo que hay ist aber mehr als ein Splatterfilm. Es handelt sich genauso um ein Familiendrama. Denn so abgeschieden sie von allen anderen auch sein mögen, es gibt keinen inneren Zusammenhalt als Kontrast zur Kälte der Außenwelt. Geborgenheit bietet auch die Familie nicht. Die Keimzelle der Gesellschaft reproduziert hier nur die Vereinzelung und den ewigen Kampf Aller gegen Alle in der neoliberalen (Nicht-)Gesellschaft. Selten wurden in einem Film mit solcher Radikalität die Lieblosigkeit und Empathieunfähigkeit gezeigt, die sich aus der Logik der wirtschaftsliberalen Ideologie ergibt, wie in dem ersten Spielfilm von Jorge Michel Grau. Ihm ist ein bemerkenswertes Werk gelungen: Handwerklich einwandfrei gemacht, ziehen stimmungsvolle Bilder das Publikum in den Bann der Geschichte. Unwillkürlich beginnt man, mit den ProtagonistInnen mitzufiebern, hofft, dass sie Erfolg haben mögen bei ihrer Jagd; und bereut es dann in der nächsten Szene wieder, wenn Knochen knacken und Fleischerhaken in Körper gerammt werden.
Zu sehen war der Streifen auf dem Fantasy Filmfest, das in diesem August in Berlin stattfand und danach durch einige deutsche Großstädte tourte. Ob der Film, der erst dieses Jahr Premiere hatte, einen Kinoverleih in Deutschland findet, ist noch fraglich. LiebhaberInnen des blutigen Zelluloids sollten es ihm wünschen. Ansonsten gilt für Fans des Genres, in versierten Videotheken nach dem Filmchen Ausschau zu halten.
Bei dem anderen mexikanischen Beitrag auf dem Fantasy Filmfest mag man weniger enthusiastisch für die Veröffentlichung in Deutschland werben. In El Traspatio („Backyard“) von Regisseur Carlos Carrera werden die Frauenmorde in Ciuadad Juárez behandelt. Eigentlich macht der Film alles richtig! Die Gleichgültigkeit der Gesellschaft angesichts hunderter ermordeter und verschwundener Frauen wird plausibel und gut dargestellt; die Hilflosigkeit von Menschen, die ehrlich an der Aufklärung interessiert sind; die Verstricktheit der Polizei; die miserablen Arbeitsbedingungen der Frauen in der Fertigungsindustrie; das alleinige Interesse an Profit der Transnationalen Unternehmen. Anhand der Geschichte eines Opfers wird deutlich gemacht, dass es wohl nicht eine/n Täter oder Tätergruppe für die hunderten bestialisch ermordeter Frauen gibt. Schuld ist die Misogynie des mexikanischen Machismo, der nicht akzeptieren will, dass die vergleichsweise gut verdienenden Frauen aus den maquilas nun eine andere gesellschaftliche Rolle beanspruchen.
Doch Begeisterung mag dennoch nicht aufkommen. Die Erzählstruktur ist zu oft zu platt. Fast holzschnittartig werden die verschiedenen Facetten des Problems dargestellt, auch wenn inhaltlich alles sehr richtig sein mag. Wenn eine Stimme aus dem Off zu filmischen Impressionen der Stadt eine Interpretation des Wesens von Ciudad Juárez liefert, dann ist das nicht gut erzählt. Auch wenn die Stimme sich dann als die eines Radiomoderators erweist, der eine Rolle in dem Film spielt. Zudem ärgern handwerkliche Patzer. Bei einer so teuren und aufwendigen Produktion, die allen ernstes als mexikanischer Kandidat bei den Academy Awards im vergangenen Jahr präsentiert wurde, ist es nicht zu verzeihen, dass einige Dialogszenen gnadenlos verwackelt sind. Das ist Schlamperei. Sehr schade ist das, denn inhaltlich ist alles richtig, und die Wichtigkeit des Themas kann man nicht oft genug betonen. Hier wurde eine Chance vertan.
Etwas befremdlich wirkt, dass der Film auf dem Fantasy Filmfest gezeigt wurde. Immerhin handelt es sich um eine reale Geschichte; die Frauenmorde in Ciudad Juárez sind keine Fantasie. Vielleicht ist es so wie mit der Satire, die nie die Realität einholen wird: Den realen Horror der Welt kann sich das kreativste Hirn nicht ausdenken. Kein Vampir oder Zombie ist so bestialisch. Das schlimmste Monster, dass den Menschen bedroht, ist eben der Mensch selbst.

Jorge Michel Grau // Somos lo que hay („We Are What We Are“) // 90 Min. // Mexiko 2010
Carlos Carrera // El Traspatio („Backyard“) // 122 Min. // Mexiko 2009

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