Nicaragua | Nummer 301/302 - Juli/August 1999

Die Abwege einer Reform

Von den verheerenden Folgen schlechter Agrarpolitik

Der Hurrikan Mitch vom Herbst 1998 hat die Landfrage in Nicaragua wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Denn die Stein- und Sandmassen haben nicht alle gleichmäßig getroffen: Da sich die besten Agrarflächen im Besitz weniger Reicher befinden, sind viele arme LandarbeiterInnen gezwungen, auf schlechten und ungeeigneten Böden für ihre Existenz zu wirtschaften. Andere nahmen die Gefahren, in Vulkannähe oder an Flußbetten zu leben, in Kauf, um fruchtbarere Böden bebauen zu können. Hier hat Mitch besonders gewütet. Eine hausgemachte Lastenverteilung also.

Klaus Heß

Eine stramme Bilanz: Um das Neunfache vergrößerte Präsident Alemán und seine Familie in den vergangenen sieben Jahren sein Eigentum an Grund und Boden. Mehrere tausend Hektar Agrarland hat er im Zuge der Neuverteilung nach dem Ende der sandinistischen Herrschaft gekauft. Diese Erwerbung ist Teil einer Umverteilung in riesigem Ausmaß: seit 1990 wurde insgesamt etwa eine Million Hektar Land verkauft, das ist ein Drittel dessen, was durch die Agrarreform der 80er Jahre verteilt wurde.
Ein großer Teil des betreffenden Landes befindet sich in der Region, durch die der geplante interamerikanische Kanal führen soll. Die Preise für Grund und Boden sind auf diesen Ländereien, aber auch auf anderen, die gute Erträge abwerfen, seit 1990 stark in die Höhe geschnellt. Viele Großgrundbesitzer versuchen, aus ihrem Besitz Kapital zu schlagen: durch billige Landkäufe von Kleinbauern und -bäuerinnen, die ihre Kredite nicht zurückzahlen können, oder durch Verkauf zu überhöhten Preisen.
Nach den gigantischen Schäden durch den Wirbelsturm Mitch ist das Verhältnis zwischen großem und kleinem Landbesitz besonders prekär. Während der Großteil der Hurrikan-Geschädigten, die arme Landbevölkerung, nach wie vor auf Hilfe wartet, erhielten die großen Ländereien in kürzester Zeit aus öffentlichen Mitteln neue Zufahrtsstraßen, Elektrizität und Wasserversorgung. Daran hatten die vorherigen BesitzerInnen nicht einmal zu denken gewagt.
Auch die Situation auf dem ländlichen Arbeitsmarkt ist schwierig: Die Landlosen finden nach Mitch weniger Arbeit – und wenn, dann zu schlechteren Bedingungen. Im Zusammenhang mit dem Bau von Kanal und zugehörigem Hafen sind neue Industrie- oder, falls der Kanal scheitert, Tourismusprojekte geplant. Der Gewinn ist in jedem Fall auf der Seite der Landbesitzer, während die Bauern und Bäuerinnen zu TagelöhnerInnen oder Dienstpersonal werden.
Am anderen Ende des geplanten Kanals, wo die indigene Bevölkerung vorwiegend auf Gemeindeland lebt, das durch das Autonomiegesetz zwar grundsätzlich garantiert, aber nicht im Kataster festgehalten ist, tauchen plötzlich private Besitztitel aus der Jahrhundertwende auf. Damals hatte General Zelaya die Atlantikküste annektiert und Landtitel verteilt, die aber nie eine Bedeutung erlangten. Erst jetzt, im Zuge des Kanalprojektes, reklamieren die Erben Ansprüche aus diesen Titeln.

Das sandinistische Erbe

An der ungleichen Landverteilung setzte die Agrarreform der 80er Jahre an: Großgrundbesitzer wurden enteignet, ihr Anteil an der bebauten landwirtschaftlichen Fläche von 36 Prozent auf 6 Prozent zurückgeschraubt. Auf 13 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche entstand der sogenannte volkseigene Sektor APP, der vielen Saison- und WanderarbeiterInnen eine stabile Anstellung bot. Gefördert wurde auch der Zusammenschluß von landlosen Bauern und Bäuerinnen zu Kooperativen: Sie erhielten Landtitel für Kollektiveigentum und günstige Kredite und konnten von staatlichen Weiterverarbeitungs- und Vermarktungseinrichtungen profitieren.
Die sandinistische Agrarreform hatte jedoch fundamentale Schwächen in rechtlicher Hinsicht. Das verteilte Land wurde nicht ordnungsgemäß auf den Staat überschrieben und daher ohne ausreichende gesetzliche Absicherung vergeben und genutzt. Eine andere Schwäche war, daß die Kooperativen nicht für eine produktive und ökologisch sinnvolle Nutzung ausgebildet wurden. Dies ist auch ein Grund dafür, daß nach dem Wegfall der staatlichen Unterstützung die Zahl der Agrarkooperativen seit 1990 von ehemals über 3.500 auf nun unter 900 geschrumpft ist. Fallende Weltmarktpreise für landwirtschaftliche Produkte, der Druck der Großgrundbesitzer und fehlende Kredite für Dünger und Saatgut zwangen sie dazu, ihr Land zu verkaufen.
Daher ist es still geworden um diese kollektiven Organisationsformen, die ja nicht nur in ökonomischer, sondern auch in sozialemanzipatorischer Hinsicht von Bedeutung waren: Neben anderen Formen von Landverteilung und Landnutzung, einfacherem Zugang zu Krediten, Produktionsmitteln und Märkten ging es in der sandinistischen Zeit auch um die demokratischen Entscheidungsformen bezüglich der Verwendung der Produktionserlöse und um den Aufbau solidarischer Sozialsysteme, zum Beispiel in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Von diesen Grundsätzen ist wenig übriggeblieben.

Einsichten und Notwendigkeiten

Die Kooperativen in Nicaragua standen 1990 vor der Aufgabe, sich aus der Objektrolle zwischen Staatspaternalismus und Stellvertreterorganen zu lösen, eigene Lösungen für die weggefallenen Subventionen und Kredite zu entwickeln und selbst Weiterverarbeitungs- und Vermarktungsstrukturen aufzubauen. Dabei waren und sind selbst neue Zusammenschlüsse auf lokaler, sektoraler (etwa bei Biokaffeekooperativen) und funktionaler Ebene sowie Programme zum Beispiel zur Weiterbildung zu entwickeln.
Neu ist dabei, daß diese Strukturen nicht mehr national bestimmt werden, sondern es sich um regionale und damit überschaubare Projekte handelt. Kollektivität ist kein Dogma und erst recht keine Zwangskonstruktion mehr, sondern ergibt sich aus Einsichten und Notwendigkeiten: Da, wo es Produkte, natürliche Ressourcen, Wasserversorgung oder Produktionsmittel nahelegen, wie zum Beispiel bei Kaffee oder Viehzucht, wird gemeinsam gearbeitet, gleichzeitig werden eine individuelle Parzellenwirtschaft für Grundnahrungsmittel betrieben und Familiengärten angelegt. Der Zusammenhalt beruht auf der gemeinsamen Vermarktung, den Krediten für die Kooperative und der Nutzung der Infrastruktur. Die KollektivistInnen haben erkannt, daß sie alleine an Grenzen stoßen, die sie nur über besseres Land, zusätzliche Investitionen, Beratung oder technische Unterstützung überwinden können. Die Organisierung findet auf Gemeinde- oder Departementsebene statt.
Im Gegensatz zu den sandinistischen Landarbeiter- und Bauernorganisationen ATC und UNAG, deren Entscheidungen von der nationalen Politik der Apparate und ihrer politischen Verpflichtungen geprägt werden, orientieren sich Kooperativenorganisationen stärker an ihrer konkreten Realität.

Die transformierten Eigentümer

Mit dem Regierungsantritt von Violeta Chamorro kehrten auch die Großgrundbesitzer zurück. Zwar konnte die Regierung ihr Ziel, die staatlichen Landwirtschaftsbetriebe (APP) vollständig zu reprivatisieren, aufgrund einer Streikwelle Anfang der neunziger Jahre nicht erreichen: Nur ein Viertel wurde an die alten Grundbesitzer zurückgegeben, der Rest wurde an Demilitarisierte übereignet oder als ArbeiterInneneigentum geführt. Die organisierten Reste der sandinistischen Gewerkschaftsbewegung ATC entwickelten daraus ihr Modell vom „Land im Eigentum der ArbeiterInnen“ (APT), das in großen, nach Branchen gegliederten Aktiengesellschaften zentral und hierarchisch aufgebaut ist. Zwar konnte diese Organisationsform für etwa ein Viertel der verkauften staatlichen Landbetriebe durchgesetzt und konnten die LandarbeiterInnen über Aktienanteile am Eigentum beteiligt werden, doch lassen sich erhebliche Defizite feststellen: Weder haben die TeilhaberInnen direkte Entscheidungsbefugnisse über die konkreten Belange ihres Betriebes, noch wurden Frauen bei der erstmaligen Ausgabe der Aktien in gleichem Maße beteiligt. Immer häufiger stehen Besitzverteilung und klassische Lohnarbeitsstrukturen beziehungslos nebeneinander. Zudem haben die Führungskader von Landarbeitergewerkschaft ATC und den APT Handels- und Weiterverarbeitungsunternehmen gegründet, in denen nur sie selbst TeilhaberInnen sind und die Gewinne aus dem Sektor abschöpfen und die ArbeiterInnen meist leer ausgehen.

Landbesetzungen

In der ersten Hälfte der neunziger Jahre gab es zahlreiche Landbesetzungen. Allein in der Region Matagalpa kämpften die LandarbeiterInnen über vier Jahre um das Land von 25 Betrieben. Trotz der Repression der Großgrundbesitzer und der Regierung sowie der demoralisierenden Wirkung der sandinistischen ATC-Politik wird ein Teil dieser Betriebe heute noch besetzt und als Kooperative weitergeführt.
Auch nach Mitch gab es vereinzelte Landbesetzungen, wie zum Beispiel in Posoltega. Wo im Oktober über 2.000 Menschen unter einer Schlammlawine starben, haben 400 Familien drei große Ländereien besetzt. Generell haben heute die Landkämpfe allerdings eine andere Qualität als die früheren, denn die Zustimmung zu einer gesellschaftlich organisierten Produktion und Verteilung von Gütern hat abgenommen. Die Landkämpfe beziehen sich jetzt vielmehr auf den unmittelbaren Landbesitz und das Produzieren von Überlebensgütern. Für eine Interessensvertretung auf nationaler Ebene machen sich keine Parteien oder Verbände mehr stark. Die Landbevölkerung steht vor der Notwendigkeit, selbst neue Organisierungsansätze zu entwickeln.

Staatliche Agrarpolitik nur für wenige

Die neoliberale Regierung Alemán fühlt sich für eine zusammenhängende Agrarpolitik nicht zuständig. Einige vom Ausland finanzierte Programme werden von halbstaatlichen nicaraguanischen Organisationen umgesetzt, wobei unkoordinierte Dopplungen auftreten. Diese Programme sollen vor allem die schlimmsten Folgen der unübersehbaren Verarmung der Landbevölkerung abfedern.
Aus der staatlichen Agrar-, Finanz-, und Wirtschaftspolitik werden die kleinen und mittleren Bauern und Bäuerinnen jedoch ausgeschlossen. Zum völlig privatisierten Kreditwesen haben Campesinos kaum Zugang. Daran ist unter anderem der Erlaß der nicaraguanischen Zentralbank von Ende 1997 schuld, der besagt, daß die Landtitel aus der Agrarreform als Garantie für eine Hypothek nicht ausreichen.
Auch die im Januar 1999 von der Regierung angekündigten knapp zehn Millionen US-Dollar aus ausländischer Finanzhilfe, die als Kredite an vom Hurrikan betroffene kleine und mittlere ProduzentInnen weitergegeben werden sollten, werden wohl kaum ankommen. Obwohl diese Mittel ursprünglich zum Teil über Nichtregierungsorganisationen (NROs) abgewickelt werden sollten, wurden sie am Ende ausschließlich an Privatbanken übergeben. Da Privatbanken – wie bereits vor Mitch – kein Geld an kleine ProduzentInnen zu verteilen bereit sind, ist es sehr wahrscheinlich, daß diese Mittel nur den mittleren und großen ProduzentInnen zugute kommen.

Dezentralisierung und neue Organisationsformen

Die Nach-Mitch-Ära hat einmal mehr die Auswirkungen der verfehlten neoliberalen Politik deutlich gemacht. Durch den Rückzug des Staates aus der Sozial- und Wirtschaftspolitik waren zahlreiche staatliche Einrichtungen aufgelöst worden. Ohne sie war die öffentliche Hand kaum in der Lage, in den Notstandsregionen mit Hilfsmaßnahmen präsent zu sein. Hier kamen und kommen alternativen Projekten, sozialen Netzwerken, Organisationsformen auf dem Land und kommunalen Strukturen eine wichtige Rolle zu, da sie die Kommunikation und Verteilung kanalisierten.
Mitch hat die Position der Lokalregierungen und -organisationen gestärkt und – angesichts der Unfähigkeit der Zentralregierung – der Diskussion um die Dezentralisierung staatlicher Macht und einer verstärkten Ressourcenverteilung nach unten Schwung gegeben. Allerdings scheint die Zentralregierung diesem Wandel nicht zuzustimmen. Mit immer neuen Steuerreformen beschneidet sie die einzige Finanzquelle der Gemeinden und läßt sie praktisch ohne eigene Ressourcen dastehen.
Die hunderte von lokalen und regionalen Organisationen der Bevölkerung und nationale NRO, die nach dem Hurrikan am adäquatesten auf die Notwendigkeiten vor Ort reagiert haben, stehen jetzt vor neuen organisatorischen und strategischen Problemen, die sie ersteinmal überfordern. Ob damit also neue Hoffnungen für die verarmte Bevölkerung verbunden werden können, bleibt zur Zeit offen. Bisher läßt sich leider nur feststellen, daß die traditionellen Forderungen der Campesinos nach einer integralen Agrarreform mit kostenloser Landübereignung in kommunaler, kooperativer oder individueller Trägerschaft, nach Obergrenzen für privates Landeigentum, Rechtssicherheit, verbessertem Kreditzugang, Ausbau der Infrastruktur und Förderung der kleinen und mittleren Produzenten durch Zollprotektionismus unerfüllt geblieben sind.

Literatur: Landlos. Berichte und Gespräche zur Landfrage in Nicaragua und Mittelamerika. Hrsg. Informationsbüro Nicaragua, Wuppertal 1995. Video mit selbem Titel zu den Landkämpfen nach Mitch (Wuppertal 1999).

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