Film | Nummer 356 - Februar 2004

Die Ästhetik des Widerstands für Eisenbahnfreunde

Der uruguayische Spielfilm El último tren

In Deutschland genießen Eisenbahnfreunde nicht gerade den Ruf, besonders revolutionär zu sein. Im Gegenteil: Man denkt beim Stichwort an Eigenbrötler, die im Keller ihres Hauses im Schein staubiger Funzeln an Labyrinthen aus Schienen und Landschaftsmodellen werkeln. Oder an ewige Kindsköpfe, die nicht von ihrem Spleen lassen mögen, einmal im Leben hoch oben auf einer Lok zu thronen und kräftig Dampf abzulassen.
Jetzt kommt aus Uruguay ein wunderbarer Film namens El último tren (Der letzte Zug), der dieses Zerrbild gründlich revidiert …

Bettina Bremme

In Deutschland genießen Eisenbahnfreunde nicht gerade den Ruf, besonders revolutionär zu sein. Im Gegenteil: Man denkt beim Stichwort an Eigenbrötler, die im Keller ihres Hauses im Schein staubiger Funzeln an Labyrinthen aus Schienen und Landschaftsmodellen werkeln. Oder an ewige Kindsköpfe, die nicht von ihrem Spleen lassen mögen, einmal im Leben hoch oben auf einer Lok zu thronen und kräftig Dampf abzulassen.
Jetzt kommt aus Uruguay ein wunderbarer Film namens El último tren (Der letzte Zug), der dieses Zerrbild gründlich revidiert. Man könnte ihn als eine „Ästhetik des Widerstandes für Eisenbahnfreunde“ bezeichnen. Denn anhand des Kampfes gegen den Verkauf einer alten Lok an ein Filmstudio in Hollywood werden en passant eine ganze Reihe heutiger und vergangener gesellschaftlicher Auseinandersetzungen thematisiert: Vom Spanischen Bürgerkrieg über Streiks im Uruguay der Vierziger und Sechziger bis hin zum Widerstand gegen den Ausverkauf ganzer Volkswirtschaften an der Schwelle zum 21. Jahrhundert.
Am Anfang des Films von Diego Arsuaga rauchen noch nicht die Loks, sondern nur die Köpfe: Die „Gesellschaft der Eisenbahnfreunde“, eine Runde betagter Herren, diskutiert über den Sinn oder Unsinn einer illegalen Aktion. Manche wollen bloß keinen „Ärger mit der Polizei“, andere dagegen drängen zur Tat. Der Grund der Debatte: Ein Geschäftsmann hat ihre geliebte Lok Nummer 33, genannt „Corazón de Fuego“ (Herz aus Feuer), aufgekauft und will sie an ein Filmstudio in Hollywood verhökern. Um das zu verhindern, planen einige der Eisenbahnfreunde, die Lok kurzerhand zu entführen. Treibende Kraft ist Antonio López, genannt „El Profesor“, ein pensionierter Dozent. Ihn treibt nicht nur sein alter, linker Kämpfergeist voran, sondern auch das Gefühl, nach dem Erhalt des Resultates einer medizinischen Untersuchung nichts mehr zu verlieren zu haben: „Es ist besser, von Kugeln durchlöchert zu sterben als auf ein Bett gestreckt“, versucht er seinen Freund, den ehemaligen Lokführer Pepe zu motivieren: „Es gibt Momente in der Geschichte, da muss man handeln.“
Gesagt, getan. Als sich die alten Herren nächtens dem Gebäude nähern, wo die Lok 33 ihrer Deportation Richtung Gringolandia harrt, sind noch zwei weitere Kämpen mit von der Partie: Da ist zum einen der senile Dante, genannt „Sekretär“, ein alter Weggefährte, den Pepe und „El Profesor“ aus seinem wohl behüteten Dasein in einem Altersheim geholt haben. Dann ist da noch Guito, der halbwüchsige Sohn der Leute, bei denen Pepe nach dem Verlust seines Jobs untergeschlüpft ist. Ohne Wissen seiner Eltern hat Guito sich mit Pepe, den er sehr bewundert, davongemacht.
Alles in Allem also kein besonders professionelles Entführerteam. Am Anfang funktioniert der Coup allerdings erstaunlich gut: Während die Vier an Bord der Lok mit Vollgas das Außentor des Eisenbahndepots durchrammen, liest ein Mitverschwörer von der „Gesellschaft der Eisenbahnfreunde“ vor laufender Fernsehkamera ein Kommuniqué mit den Forderungen der Entführer vor: Die Lok 33 soll auf uruguayischem Boden bleiben und zum nationalen Kulturgut erklärt werden.
„El patrimonio no se vende“, das Erbe verkauft man nicht, steht dann auch auf dem von Hand gepinselten Spruchband, mit dem die Lok, ihrem steinernen Gefängnis entronnen, durch die Weite der uruguayischen Pampa knattert. Den Ausbrechern dicht auf den Fersen folgt ein stetig anschwellendes Geschwader von Gesetzeshütern, angeführt von Ponce, einem geistig etwas schmalgleisigen Kommissar. Dem wiederum sitzt Jaime Ferreiro Fink, der offizielle Eigentümer der Lok, mit arroganten Ratschlägen im Nacken. Jaime, ein smarter, aaliger Typ, der gern den Mann von Welt mimt („du kannst mich auch Jimmy nennen“), ist mächtig stolz auf seinen Deal mit dem Hollywood-Studio und lässt nichts unversucht, um seine kostbare Ware schrammenfrei wiederzubekommen.
Auch wenn El último tren nicht gerade Sympathiewerbung für den Attrappenschwindel des Hollywoodkinos betreibt, spielt der Film doch an vielen Stellen mit den von dort stammenden Genres Western und Roadmovie, verfolgt das bewährte dramaturgische Muster von Verfolgungsjagd und Showdown. El último tren lebt aber auch von der Komik der Redescharmützel, die sich die Protagonisten untereinander liefern. Das gilt nicht nur für das Verfolgergespann wider Willen, das der Kommissar und der Geschäftsmann bilden. Auch und gerade die drei widerständigen Alten sind während ihrer heroischen Fahrt ins Ungewisse permanent dabei, einander zu behäkeln: Mal geht’s um den Wahrheitsgehalt von Pepes Erzählungen vom Kampf gegen die Faschisten, damals in Spanien, dann wieder um die Frage, ob man ein Leck in der Lok mit Zahnersatz-Haftcreme flicken kann.
Ein Glücksfall für den Film ist dabei die Besetzung der Hauptrollen mit dreien der großen, alten Männer des argentinischen Films: Héctor Alterio, Federico Luppi und Pepe Soriano. Fast drei Jahrzehnte zuvor standen sie bereits einmal gemeinsam vor der Kamera, in Héctor Oliveras Klassiker La Patagonia rebelde. Nun, in El último tren, verkörpert Héctor Alterio (La historia oficial, El hijo de la novia, Kamtschatka) den „Professor“, einen Mann, der trotz seines im Laufe der Jahrzehnte angehäuften Wissens über historische Kämpfe und Niederlagen, nie die Illusion verloren hat, dass eine andere Welt möglich ist. Federico Luppi (Pepe) dagegen, bekannt unter anderen als Lieblingsschauspieler der argentinischen Regisseurs Adolfo Aristarain (Un lugar en el mundo, Martín Hache, Lugares comunes), brilliert erneut in der Rolle, die ihm wie auf den Leib geschnitten scheint: Der eines störrischen Grauschädels, der immer erhobenen Hauptes durchs Leben gegangen ist, im Zweifelsfall auch alleine.
Während die drei Alten all ihre Raffinesse, all ihre schwindenden physischen Energien daransetzen, den Verfolgern zu entwischen, rattert der Zug auf rostigen Schienen an Geisterbahnhöfen vorbei, Zeichen des Niederganges immenser Landstriche. Aber ab und zu zeigen sich Gestalten links und rechts der Gleise, nähern sich. Die Nachricht von der Entführung scheint sich wie ein Lauffeuer zu verbreiten. Die Helden dagegen pfeifen immer mehr aus den letzten Löchern. Die Zuschauer halten den Atem an, bis zur letzten Minute.

El último tren, Regie: Diego Arsuaga; Argentinien/Spanien/Uruguay 2002; Farbe, 93 Minuten. Der Film startet am 5. Februar 2004 bundesweit in den Kinos.

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