Land und Freiheit | Nummer 356 - Februar 2004

“Die Agrarreform ist der Schlüssel für eine Lösung des bewaffneten Konflikts“

Interview mit Héctor Mondragón über Vertreibung und Agrarreform in Kolumbien

Héctor Mondragón ist Berater der linken kolumbianischen Bauernorganisationen ANUC-UR, die der internatinalen Bewegung zur Koordination von bäuerlichen Organisationen Via Campesina angegliedert ist. Im Oktober 2003 kam er zu der Konferenz „Vertreibung und Agrarreform in Kolumbien“ nach Berlin.

Laura Peralta

Herr Mondragón, wie wirkt sich die neoliberale Politik in Kolumbien aus, inbesondere auf den landwirtschaftlichen Sektor, und was sind die Konsequenzen für die bäuerliche Bevölkerung?

Gesamtwirtschaftlich gesehen hat der Neoliberalismus ein kontinuierliches Absinken der Reallöhne und eine höhere Anfälligkeit der Wirtschaft und des Arbeitsmarkts in Krisenzeiten zur Folge. Die Krisen sind länger und mit höheren Arbeitsplatzverlusten sowie mit Unterbeschäftigung verbunden. Außerdem steigen die Auslands- und Inlandsschulden und die Spekulation. Gleichzeitig gehen Investitionen im sozialen Bereich zurück. Das Gesundheitswesen und wichtige staatlichen Unternehmen werden zu Gunsten der transnationalen Konzerne privatisiert.
In Bezug auf den landwirtschaftlichen Sektor hat die neoliberale Politik bewirkt, dass die staatlichen Institutionen zur Förderung der Landwirtschaft und vor allem der Bauernschaft aufgelöst wurden. Gleichzeitig hat die neoliberale Politik dem Handel mit nationalen Produkten geschädigt, indem sie sie dem Wettbewerb mit den hoch subventionierten Gütern der Europäischen Union und der USA unterworfen hat. Die Importe von Lebensmitteln haben sich verfünffacht. Das verursachte einen Rückgang der Anbauflächen und die Zunahme sowohl illegaler Anbauprodukte als auch der Arbeitslosigkeit auf dem Land. Die schwankte bisher zwischen zwei und fünf Prozent. Jetzt liegt sie bei neun bis zwölf Prozent. All das untergräbt die Souveränität des Landes über seine Nahrungsmittelsicherheit.

Gibt es in den Regionen Chocó, Putumayo und Antioqia, in denen der bewaffnete und soziopolitische Konflikt besonders katastrophale Ausmaße annimmt, für das neoliberale Wirtschaftsprojekt in Kolumbien strategisch wichtige Vorhaben?

In Chocó sind verschiedene Straßenbauprojekte geplant, um die pazifische Küste mit Antioquia, dem alten Caldas, der Karibik, Panama und Venezuela zu verbinden. Das größte Projekt ist der interozeanische Kanal, der über Atrato-Cacarica-Truira-San Miguel oder über Atrato-Truandó gehen soll. Außerdem ist die Ausbeutung der Biodiversität geplant. In Putumayo soll in Kürze mit der Erschließung und der Förderung der Erdölvorkommen begonnen werden, auf lange Sicht erhofft man sich, dass diese Region zur Verbindung von Amazonas und Pazifik wird. Das heißt, dass Putumayo in die Pläne der Initiative für die Integration der regionalen Infrastruktur Südamerikas IIRSA einbezogen wird und an überregionale Flussverbindungen angeschlossen werden soll. In der Region Antioquia gibt es von Seiten der Wirtschaft eine Vielzahl von Interessen, aber die schon vorhandenen Wasserkraftwerke und die geplanten Porce 3 und Pescadero-Ituango sind dabei am wichtigsten.

Sie sagen, dass „für die transnationalen Unternehmen Land eine Ware und so Teil ihrer Investionen, für die Bauern Land ihr Leben ist“. Was folgt aus dieser Feststellung?

Das Recht auf Land rührt aus der Existenz der ländlichen Gemeinden selbst. Für sie ist das Land der Raum für ihre physische, soziale und kulturelle Subsistenz. Das Recht auf Land ist nicht dasselbe wie das Recht über Land oder dessen Privatbesitz. Wenn man es aus der Perspektive der bäuerlichen Gemeinschaft betrachtet, ist Land nicht nur eine Parzelle, sondern bezieht die gesamte Umwelt, das genetische Erbe und die politischen und kulturellen Beziehungen ein. Im Gegensatz dazu bezieht sich im Neoliberalismus das Recht auf Land nur auf eine bestimmte Anbaufläche, die allein als Objekt des Marktes fungiert. Die Transnationalen fordern die Veräußerbarkeit des Landes der comunidades, der bäuerlichen Gemeinschaften.

Wie schätzen Sie die Bedeutung der bäuerlichen Bevölkerung für die Agrarproduktion des Landes ein?

Nach einer Untersuchung von Jaime Forero von der Universität Javeriana haben die Bauern zwischen 1997 und 2000 57 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion Kolumbiens erwirtschaftet. Dieses Gewicht der Bauern kommt dadurch zu Stande, dass die Großgrundbesitzer Land vergeuden und vier Millionen Hektar Land, das für die Landwirtschaft geeignet ist, „extrem untergenutzt“ ist.

Die hohe Konzentration von Landbesitz in Kolumbien haben Sie auf der Veranstaltung in Berlin sehr deutlich gemacht: Während die kolumbianischen Kleinbauern über 43 Prozent der Anbaufläche auf gerade 14 Prozent des Bodens verfügen, haben die Latifundistas, die Großgrundbesitzer, nicht mehr als neun Prozent der kultivierten Fläche, besitzen jedoch 45 Prozent der Ländereien. Ist die Bauernbevölkerung stark zurückgegangen?

Obwohl die ländliche Bevölkerung in Bezug auf den Anteil an der Gesamtbevölkerung zurückgegangen ist, stieg ihre absolute Zahl von sechs Millionen 1938 auf 11,6 Millionen 1993. Ähnliches ist mit der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung des Agrarsektors geschehen: während 1938 1,9 Millionen Kolumbianer diesem Sektor zuzurechnen waren, waren es 1993 2,7 Millionen. Diese Zahlen überraschen, denn zwischen 1948 und 1958 gab es zwei Millionen Vertriebene – Land- und Stadtbewohner. Tatsächlich ist die Geschichte Kolumbiens eine Geschichte der wiederholten zwangsweisen Umsiedlung – der Kolonisation.

Wie schätzen Sie mögliche Alternativen für die Bauern in diesen Regionen ein ? Existieren Formen des Widerstandes gegen diese Vorhaben?

Es gibt viele Anstrengungen seitens der Dorfgemeinschaften, Widerstand zu leisten. Die Indígenas und die afro-kolumbianische Bevölkerung verteidigen ihr Recht des nicht veräußerbaren kollektiven Landbesitzes. Die Bauern haben so genannte „reservas campesinas“ begründet, die zwar nicht die gleiche Garantie auf Unverkäuflichkeit haben, aber eine Form des legalen Schutzes darstellen. Allerdings konnten sie gerade einmal sechs dieser Reservationen errichten. Die Regierung Uribe erklärte eine davon für illegal. Außerdem organisieren sich „Gemeinschaften für Frieden und Leben“ (comunidades de paz y vida), die versuchen, auf dem Territorium zu bleiben oder zu diesem zurückzukehren, obwohl sie dauernd angegriffen werden, wie das in Cacarica oder Jiguamiandó in der Atrato-Ebene in Chocó geschehen ist. Diese Dörfer müssen eine Selbstversorgung organisieren, da durch Blockaden versucht wird, ihren Widerstand zu brechen. Um Massakern zu entgehen, versuchen andere Dörfer im Widerstand innerhalb des gleichen Territoriums umzusiedeln, ohne ihr Land verlassen zu müssen. Die Vertriebenen haben eine nationale Koordination der Vertriebenen gegründet und fordern ihre Rückkehr und Entschädigung.

Sie ziehen eine Verbindung zwischen Vertreibung und Agrarreform. Bedeutet das, dass es in Kolumbien eine neue Gruppe von Landeigentümern gibt?

Die Vertreibung hat einen Prozess in Gang gesetzt, der durch eine stark zunehmende Konzentration von Landbesitz und Spekulation gekennzeichnet ist. Der Hauptgrund dem Bauern die Parzelle wegzunehmen, ist die – angesichts der Megaprojekte für Straßen, Kraftwerke, Kanäle sowie den Bergbau und die Erdölförderung – zu erwartende Preissteigerung für das Land. Obwohl es eine neue Konzentration von ländlichem Besitz gibt, sind die Eigentümer nicht immer „neu“. Viele sind alte Landbesitzer, andere kommen aus dem Drogenhandel und dem Paramilitär. Aber der alte Großgrundbesitz ist dominierend.
Die gegenwärtige Regierung möchte diese neue Eigentumskonzentration institutionalisieren, um so die Landreform aufzulösen und bei der Gesetzgebung, hinsichtlich der Vorschriften für den Erwerb von Eigentum, einen Wandel zu begünstigen. Ich spreche hier von den so genannten „strategischen Allianzen“ oder „produktiven Verbänden“ zwischen Großgrundbesitzern, Unternehmern und Bauern, die ihr Land für riesige Palmenplantagen ihren „Mitgliedern“ zur Verfügung stellen. Ich glaube, dass die Vereinbarungen mit den Paramilitärs diese Linie der Regierung unterstützen.

Sollte Ihrer Meinung nach ein effizienter Agrarsektor eine Forderung für die kolumbianische Landwirtschaft sein?

Damit es einen effizienten Agrarsektor in Kolumbien geben kann, muss zunächst die Bedeutung der bäuerlichen Wirtschaft, der kulturellen Vielfalt, der indigenen und afrokolumbianischen Territorien und die Partizipation der comunidades anerkannt werden. Effizienz, im Sinne der Gewinne der Unternehmer, bedeutet normalerweise nicht, die Umweltkosten und noch viel weniger die sozialen, kulturellen und menschlichen Kosten einzubeziehen. Es bedarf deshalb einer Sichtweise von „Effizienz“, die nicht wirtschaftlich ist und eine Vision von Unternehmen, die von der Lebensqualität der Menschen und der Kontrolle der comunidades ausgeht.

Stellt das „Land-Bauern-Programm“ eine Alternative dar, die Agrarreform in Kolumbien zu erreichen; inwiefern kommt dieses Programm zum Tragen und wie ist es entstanden ?

Das mandato agrario ist ein 14-Punkte Programm Es wurde von verschiedenen Organisationen von Bauern, Indigenen und Afrokolumbianern erarbeitet und verabschiedet und wird von Gewerkschaften, Frauenorganisationen, Umweltaktivisten und anderen Teilen der nationalen Öffentlichkeit unterstützt. Es bezieht sich auf den Kampf für das Recht auf ein Leben in Würde, auf Land, Territorialität und Nahrungsmittelsouveränität und lehnt die amerikanische Freihandelszone ALCA und den bilateralen Freihandelsvertrag, den die Regierung Uribe im April mit den USA diskutieren wird, ab. Das mandato agrario fordert, dass den Bauern die 4,7 Millionen Hektar Land übergeben werden, die die Latifundistas vergeuden und den Vertriebenen ihr Land zurückgegeben wird. Von den beteiligten Organisationen haben sich zwölf zu der Convergencia campesina, negra e indígena (CNI) zusammengeschlossen.

In den Wahlen vom Oktober 2003 hat Präsident Alvaro Uribe Vélez eine Niederlage erfahren. Sein Referendum über die Kürzungen im Staatshauhalt wurde nicht angenommen und Kandidaten der Linke haben bedeutende Ämter übernommen, wie das Bürgermeisteramt von Bogotá und das Gouverneursamt im Cauca-Tal (siehe LN 354). Wie viel Gewicht haben diese Ereignisse für die Stärke der Opposition in Kolumbien?

Die Wahlen waren wie das Kind, das in dem Märchen schreit: „der König ist nackt“. Es wurde deutlich, dass Uribe nicht von 70 Prozent der Kolumbianer unterstützt wird, wie das die Medien immer wieder versichert hatten. Weniger als 18 Prozent stimmten für das Referendum. Das Scheitern des Referendums war ein großer Fehltritt für das Projekt Uribes und die Wiedergewinnung von Vertrauen seitens der Bevölkerung und der sozialen Institutionen. Die Umfragen ergaben, dass 64 Prozent der Kolumbianer seine Wirtschaftspolitik ablehnen. Aber die Wahlen stehen auch für die Ablehnung seines politischen Projekts und die Chance auf Verhandlungen für eine Lösung des bewaffneten Konflikts. Wir glauben, dass die Agrarreform der Schlüssel für eine Lösung ist.

Übersetzung: Tanja Rother

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