Argentinien | Nummer 380 - Februar 2006

„Die ArbeiterInnen zaubern nicht!“

Interview mit Eduardo Murúa, Präsident der Nationalen Bewegung der wiederangeeigneten Betriebe MNER

Mitte der Achtziger Jahre schlossen sich in Argentinien erstmals ArbeiterInnen wirtschaftlich angeschlagener Betriebe zu Assoziationen und Kooperativen zusammen. Der wirtschaftliche Kollaps im Jahr 2001 verursachte den Bankrott vieler Unternehmen wodurch tausende ArbeiterInnen ihre Arbeitsplätze und ihre soziale Identität verloren. Heute gibt es in ganz Lateinamerika mehr als 400 Unternehmen und Fabriken verschiedener Branchen, die die ArbeiterInnen besetzt haben und nun selbst verwalten. Im Oktober 2005 fand in Venezuela das erste lateinamerikanische Treffen der besetzten und wiederangeeigneten Unternehmen statt.

Interview: Marcos Barra und Olga Burkert / Übersetzung: Manuel Burkhardt

Wie kam es in Argentinien zu Besetzungen und Aneignungen von Betrieben?

In Argentinien waren sie das Ergebnis des wirtschaftlichen Modells, das dem Land seit 1976 von der Militärdiktatur aufgezwungen wurde. Deren Wirtschaftspolitik wurde durch die späteren formaldemokratischen Regierungen fortgesetzt, was zur Zerstörung der heimischen Industrie führte. Die Arbeitslosenquote stieg von vier Prozent in den Sechziger Jahren auf ungefähr 35 Prozent in den Neunzigern. Das erforderte die Überwindung der früheren Methoden des gewerkschaftlichen Kampfes, die rein auf Löhne und Arbeitsbedingungen ausgerichtet waren. Es erforderte die Schaffung einer neuen Kampfform, die wir mit der Parole „Besetzen, Widerstand, Produzieren“ definierten. Wir forderten, dass kein einziger Arbeitsplatz mehr verloren gehen darf, sei es auf legale oder illegale Weise. Wir begriffen die Arbeiterklasse als Subjekt, Gesetze dürfen nicht über den Bedürfnissen des Volkes stehen.
Waren die ArbeiterInnen schon vor der Besetzung politisch aktiv?

Die meisten der ArbeiterInnen waren zwar nicht in der Politik aktiv, aber viele waren gewerkschaftlich organisiert. Einige derjenigen, die anfangs den Prozess der Aneignung vorangetrieben haben, kamen aus dem politischen und gewerkschaftlichen Kampf.
In welchem Moment entschließen sich die ArbeiterInnen die Firma oder Fabrik zu besetzen und die Selbstverwaltung und Kontrolle zu übernehmen?
In den meisten Fällen beginnt der Prozess mit der Schließung des Unternehmens, wenn das Unternehmen bankrott gegangen ist oder der Arbeitgeber einfach beschloss die Firma zu schließen. Erst da sehen ArbeiterInnen die Notwendigkeit, sich zu organisieren, um sich das Unternehmen anzueignen. Es gab einzelne Fälle, in denen die ArbeiterInnen die Schließung vorhersahen und die Besetzung beschlossen, um eine Leerräumung zu vermeiden. Manchmal begann der Konflikt auch wegen nicht gezahlter Löhne oder Arbeitgeberleistungen.

Was waren die Reaktionen der früheren EigentümerInnen auf die Aneignung?

Die früheren BesitzerInnen der Betriebe blieben in der Regel bei den Gesprächen nach der Besetzung außen vor, da sie auf Grund ihrer Bankrotterklärungen den Anspruch darauf per Gesetz verloren hatten. Die Gespräche liefen zwischen den ArbeiterInnen, dem zuständigen Richter und dem Konkursverwalter ab. Natürlich hätten wir ohne die Unterstützung der Bevölkerung, die unser Vorgehen guthieß, keinen Widerstand gegen die staatliche Repression leisten können. Es gibt kein Hindernis, das nicht überwunden werden kann, wenn die Arbeiterschaft sich entschließt zu kämpfen, da zu bleiben und den Richtern und Politikern zu zeigen: Wir verlassen den Betrieb nicht! In einigen Fällen kam es zu Gewalt und Räumungen durch die Repressionskräfte, aber wir kehrten zurück und schlugen vor den Toren der Betriebe Zelte auf. Diese Maßnahme hatte zum Ziel, die Räumung der Betriebe zu verhindern. Aber wenn die Wachposten einen Moment nicht aufgepasst haben, besetzten wir sie von neuem.
Welche Rolle spielten die Gewerkschaften bei der Aneignung der Betriebe?
Die Beteiligung der Gewerkschaften war gleich null, mit Ausnahme der Union der Hüttenarbeiter UOM aus Quilmes und dem Grafikerverband, die die Aneignungen unterstützten.
Zwei Aspekte treten im Prozess der Aneignung potenziell in Konflikt: Zunächst der Kampf um die Aneignung an sich und um einen legalen Status, der den ArbeiterInnen ein Mindestmaß an Sicherheit gewährt. Auf der andern Seite die Notwendigkeit, die Produktion in Gang zu setzen und diese „wettbewerbsfähig“ zu machen.

Wie geht ihr damit um?

Wir haben unseren MitstreiterInnen geraten, nicht unnötig Energie zu vergeuden. Zuerst versucht man auf gerichtlichem Wege zu kämpfen oder der Politik eine Lösung abzuringen, auch wenn diese nicht vollständig sein sollte. In der übrigen Zeit planen wir die Ingangsetzung des Betriebs, die Vernetzung mit den Kunden und Zulieferern sowie die interne Organisation der Produktion und Verwaltung. Zuerst kämpfen wir, danach arbeiten wir.

Wenn die Beteiligung der ArbeiterInnen zunächst mehr aus Gründen des Überlebens erfolgt, findet während des Aneignungsprozesses eine Politisierung der ArbeiterInnen statt?

Der Politisierungsprozess vollzieht sich sehr schnell. Die ArbeiterInnen verstehen und erleben während des Kampfes, dass der bürgerliche Staat und seine Gesetze, und nicht nur der Arbeitgeber, bewaffnet sind, um die ArbeiterInnen zu betrügen. Alle Institutionen zeigen ihr wahres Gesicht: die politische Klasse, die Gewerkschaftsmafia, die Unternehmerschaft, die Justiz und die Repressivkräfte.

Arbeitet ihr mit anderen sozialen Bewegungen oder Stadtteilgruppen zusammen? Wie reagieren die NachbarInnen auf die Besetzung?

Während des Prozesses der Aneignung erleben wir die Unterstützung der sozialen Bewegungen, sowohl aus nachbarschaftlichen Zusammenhängen als auch von Arbeitslosenorganisationen, durch ihre physische Präsenz. Dies geschieht hauptsächlich, um die Repressivkräfte zurückzuhalten. Die NachbarInnen zeigen auch ihre Solidarität, in dem sie Lebensmittel für unsere Volksküche spenden – ihr müsst daran denken, dass einige Besetzungen über ein Jahr dauerten!

Wie gestaltet sich die Verwaltung der Betriebe?

Es gibt zwei Möglichkeiten: Bei der ersten bleiben die ArbeiterInnen, die schon zuvor in der Verwaltung und im Verkauf beschäftigt waren, während des Prozesses der Aneignung. Im zweiten Fall sind es nur die HandarbeiterInnen, die sich an der Besetzung beteiligen. Die müssen die Verwaltungsarbeit dann erlernen. In beiden Fällen jedoch werden die KollegInnen, die die Entscheidungspositionen besetzen, demokratisch gewählt. Hier haben wir gegenüber dem normalen Arbeitgeber einen enormen Vorteil: Er wählt den ihm Genehmsten als Beauftragten – wir wählen den Fähigsten!

In den angeeigneten Betrieben fällt vermutlich kein Mehrwert an, keine Geschäftsführerkosten, es gibt weder feste Löhne noch werden Steuern gezahlt, oder?

Wir zahlen schon Steuern. Die einzige Steuer, die wir nicht bezahlen, ist die Gewinnsteuer, denn die Gewinne werden in Form von Löhnen aufgeteilt. In der Mehrheit der Fälle haben sich die ArbeiterInnen für einen Kollektivlohn entschieden, in anderen hat man die Einkommensunterschiede gemäß einem kollektiven Beschluss beibehalten.

Und wie sieht’s aus mit Hierarchien innerhalb des Betriebs?

Die gibt’s, aber nicht wie in den kapitalistischen Betrieben. Was immer noch existiert, ist eine Arbeitsteilung, die keine Abwechslung in den Funktionen erlaubt. Einige KollegInnen können mehr Entscheidungsmacht haben als andere.

Warum beginnen Betriebe, die unter autoritärer Leitung Bankrott gingen, unter Leitung von ArbeiterInnen rentabel zu werden?

Die ArbeiterInnen zaubern nicht. Die Mehrheit der Betriebe war operativ gesehen durchaus rentabel. Was sie zerstört hat, waren die Schulden beim Finanzsystem, auf die sie sich eingelassen haben. Hinzu kommt die Zügellosigkeit der BesitzerInnen, ihre Entnahmen, um ihren Lebensstandard aufrecht zu erhalten, die Abzweigung von Mitteln für andere, rentablere Aktivitäten und die Geschäftsführerkosten. Nicht zu vergessen, dass in einem kapitalistischen Unternehmen jeder sein Eigeninteresse hat: Der Einkaufsleiter kauft „schlecht“ ein, der Verkaufsleiter verkauft „schlecht“. In einem angeeigneten Betrieb herrscht eine andere Moral und es gibt eine gemeinsame Buchprüfung, die solche Vorkommnisse verhindert. Eine Zeit lang wurde auch über eine Aufteilung zwischen einer autonomen Geschäftsleitung und der Kontrolle durch die ArbeiterInnen diskutiert. In 99 Prozent der Fälle haben die ArbeiterInnen jedoch die Selbstverwaltung der Betriebe gewählt. Wir meinen, dass innerhalb der Bedingungen, denen wir uns in einem kapitalistischen Staat ausgesetzt sehen, die Selbstverwaltung das Einzige ist, was die Kontinuität der Betriebe sicherstellt.

Was für eine Beziehung besteht zwischen den verschiedenen besetzten Betrieben?

Die zwischenbetriebliche Beziehung ist immer noch recht schwach wegen des hohen Grades an Komplexität, den es erfordert, um jedes einzelne Unternehmen und dessen Autonomie aufrecht zu erhalten. Vielleicht erreichen wir im Lauf der Zeit, dass die ArbeiterInnen miteinander in Verbindung treten können bezüglich der Komplementierung der Produktion, des Handels und der Wirtschaft. Je nach Zweig oder Sektor. Das würde uns nach außen wettbewerbsfähiger machen und die Kosten der Anschaffungen reduzieren, wenn wir kollektiv einkaufen.

Welche Unterschiede gibt es zwischen dem MNER und anderen Bewegungen von besetzten Fabriken, zum Beispiel der Nationalen Bewegung der wiederangeeigneten Fabriken MNFR ?

Im Prozess der Aneignungen gibt es verschiedene Tendenzen. Die Bewegung, die ich repräsentiere, ist die einzige, die sich als antikapitalistisch und antiimperialistisch definiert. Sie ist strikt politisch: Wir diskutieren Wirtschaftspolitik, betreiben eine eigene Erziehungs- und Kulturpolitik und fordern eine am Gemeinwohl orientierte Politik. Unsere Bewegung besteht aus ArbeiterInnen, die der anderen aus RepräsentantInnen der Unternehmen. Wir verlangen weder Honorare, wie es manche Angehörige der MNFR tun, noch mischen wir uns in die Betriebe ein, um diese zu leiten. Außerdem öffnen die Betriebe unserer Bewegung ihre Tore für alle sozialen Bewegungen.

Im Oktober 2005 fand in Venezuela das erste lateinamerikanische Treffen der angeeigneten Betriebe statt. Wie bewertest du diese Initiative und was waren die Ziele dieses Treffens?

Das Hauptziel dieses Treffens war die Vernetzung aller angeeigneten Betriebe in Lateinamerika mit dem Ziel der Integration. Dabei geht es um die Komplementierung der Produktion und des Handels, um Know-how und Technologie auszutauschen. Außerdem ging es um die Schaffung eines Finanzinstruments, das die technologische Umstrukturierung erlaubt. Die wichtigste Übereinkunft war die Schaffung eines Fonds von fünf Millionen US-Dollar für die angeeigneten Betriebe in Uruguay und die Lieferung von Rohstoffen des staatlichen Unternehmens Pequiven (Petrochemie Venezuela, Anm. d. Red.) an die brasilianische Fabrik Cipla, die als Gegenleistung verarbeitete Produkte erbringt .

Glaubst du, dass diese neue Unternehmenslogik, die sich vor allem nach sozialen Kriterien ausrichtet, in der Zukunft weiterhin Bestand haben wird?

Was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass ein angeeigneter Betrieb unter den gleichen technologischen Bedingungen wie ein kapitalistischer Betrieb länger Bestand haben wird. Aber das reicht nicht aus. Man muss mit dieser Asymmetrie brechen, dass die Monopole anhand von Subventionen ständig vom Staat begünstigt werden. Man muss gegen die Monopole mobilisieren, um günstige Bedingungen für unsere Betriebe heraus zu schlagen. Aber die Tatsache, dass wir ArbeiterInnen Betriebe leiten können, stellt nicht sicher, auch die Gesellschaft verändern zu können. Das ist eine Aufgabe der ganzen Bevölkerung abhängig von der Diskussion der Ausgeschlossenen, der indigenen Völker, der Bäuerinnen und Bauern, der StudentInnen und der Jugendlichen. Diese Gruppen sind die einzigen, die fähig sind, neue Regeln des Konsums und der Produktion zu schaffen, die die künftigen Generationen, die Umwelt und die Institutionen der Verteilung berücksichtigen.

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