Film | Nummer 452 - Februar 2012

Die Bedeutung der Haare

Daniela Seggiaros Spielfilm Nosilatiaj. La Belleza erzählt von den Traditionen der Wichi-Indigenen im Norden Argentiniens

Olga Burkert

Die Gegend ist karg, trocken und staubig. Die Menschen, die hier – fern der Hauptstadt und ihrem Rhythmus – leben, sind arm. Der Norden Argentiniens und seine Bewohner_innen, vor allem die indigene Bevölkerung, sind ein sehr untypisches Filmmotiv des neueren argentinischen Films. Meist drehen sich seine Werke um Großstädter_innen der Mittelschicht, ihre Probleme, ihre Langeweile und ihren rast-, aber ziellosen Alltag. Die junge Regisseurin Daniela Seggiaro hingegen hat die indigenen Wichi, ihre Traditionen und Legenden, zu den Protagonist_innen ihres Debütfilms gemacht.
Nosilatiaj. La Belleza erzählt in langsamen und beeindruckenden Bildern die Geschichte der jungen Wichi Yolanda, das als Hausmädchen bei einer Criollo-Familie lebt und arbeitet. Diese behandelt sie nicht schlecht, aber auch nicht wirklich gut. Der Rassismus gegenüber der indigenen Bevölkerung Argentiniens ist aber nur Hintergrundthema. Seggiaro möchte vielmehr das Aufeinandertreffen verschiedener Weltbilder und Lebensrhythmen darstellen. Hierfür lässt sie einerseits ihre semi-dokumentarischen Aufnahmen in einem kleinen Dorf in der nördlichen Provinz Salta sprechen, ohne einen einzigen Ton Musik, nur mit Geräuschen der Natur. Andererseits spricht Yolanda als Erzählerin selbst: In zwischen die Szenen der Filmhandlung gestreuten, traumhaften Sequenzen beschreibt diese auf Wichi ihre Herkunft und wie ihr Leben bis zu ihrem Eintritt in das Leben der „Weißen“ war.
In der kinderreichen Familie ihrer Arbeitgeber_innen ist Yolanda ein Fremdkörper und Sonderling. Vor allem die älteste und einzige Tochter Antonella sucht in einem Moment Yolandas Nähe, um sie im nächsten zu demütigen. Die Mutter hingegen scheint zu erkennen, dass sie auf die Hilfe ihrer Angestellten angewiesen ist, weshalb sie ihr hin und wieder sogar mütterlich-fürsorglich begegnet. So manches Mal scheint ihr Yolandas stille, zurückgezogene Art sogar lieber zu sein als das pubertär-aufmüpfige Verhalten ihrer Tochter oder das wilde Herumtoben ihrer zahlreichen Söhne.
Yolanda fügt sich ergeben in ihr Schicksal und setzt dem Verhalten der Familienmitglieder stoisches Schweigen und Insichgekehrtheit entgegen. Ihr ganzer Stolz sind ihre langen Haare, die ihre Persönlichkeit und Schönheit ausmachen und die noch nie in ihrem Leben geschnitten wurden, so wie es die Tradition der Wichi verlangt. Demgegenüber zeigt eine der ersten Szenen des Films Antonella, wie sie an ihren Haaren herum schneidet, bis nur noch ein kurzer Pony übrig bleibt. Ihre Mutter ist verzweifelt, schließlich steht Antonellas 15. Geburtstag kurz bevor, der in vielen Ländern Lateinamerikas traditionell den Übergang vom Mädchen zur Frau markiert und daher groß gefeiert wird. Die Mutter, sowieso ständig von Geldsorgen geplagt, hat Angst, dass sie das Jubiläum nicht mit genügend Pomp werden begehen können, um die Nachbar_innen gebührend zu bewirten und zu beeindrucken. Und nun „verunstaltet“ sich die sowieso nicht besonders hübsche Antonella auch noch selbst. Letztere ist hingegen ganz die verwöhnte Prinzessinentochter ihres Vaters und steht dem Geschehen um sie herum meist desinteressiert gegenüber.
Kurzerhand schnappt die Mutter sich Antonella und Yolanda und geht mit ihnen zum Friseur, um sie für das große Fest „hübsch zu machen“. Und ehe Yolanda so richtig weiß, wie ihr geschieht, hat dieser ihr ihren langen geflochtenen Zopf abgeschnitten und eine modische Kurzhaarfrisur verpasst. Für Yolanda bricht eine Welt zusammen; den Verlust ihrer Haare erlebt sie so physisch, dass sie die nächsten Tage mit Fieber im Bett verbringt. Als schließlich der Tag des großen Festes kommt, erkennt Yolanda, dass ihr Besuch beim Dorffriseur kein bloßer Unfall war.
Daniela Seggiaro ist mit Nosilatiaj. La Belleza ein einfühlsames Porträt gelungen, das von einem ganz anderen Argentinien, fernab der Großstadthektik, erzählt. Durch die beeindruckend stillen Bilder und eine langsame Erzählweise schafft sie es, die Zuschauer_innen in einen ganz anderen Rhythmus zu versetzen.

Nosilatiaj. La Belleza („Schönheit“) // Daniela Seggiaro // 83 Minuten // Argentinien 2012 // Sektion Generation 14plus

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