Bolivien | Nummer 411/412 - Sept./Okt. 2008

„Die Demokratie in Bolivien existiert erst seit 2005“

Interview mit dem bolivianischen Soziologiedozenten Pablo Mamani

Pablo Mamani ist Aymara und Soziologiedozent an den Universitäten von La Paz und El Alto. Im Interview mit den Lateinamerika Nachrichten sprach er über das Abwahlreferundum von Anfang August, die Rolle der MAS in der bolivianischen Bevölkerung und die Fehler und Chancen der Verfassunggebenden Versammlung.

Kasten:
Pablo Mamani ist Aymara und wurde in ayllu Jila Uta Manasaya im Departamento Oruro geboren. Seine Kindheit und Jugendzeit verbrachte er in der tropischen Region Alto Beni. Heute ist er Soziologiedozent an der Universidad Mayor de San Andrés in La Paz sowie an der Universidad Pública y Autónoma de El Alto.

Börries Nehe

Ganz allgemein gesprochen, welche Effekte haben die Ergebnisse des Abwahlreferendums auf die politischen Kräfteverhältnisse in Bolivien?

Ich glaube, dass dieses Referendum eine sehr starke politische Wirkung sowohl auf die Regierung als auch auf die sozialen Bewegungen hat. Denn vor dem 10. August hieß es, dass die Regierung Morales Rückhalt in der Gesellschaft verlieren würde, dass sie auf nur 30 Prozent Zustimmung abgesunken sei. Wichtiger noch als diese Leistung der MAS erscheint mir aber die sich eröffnende Möglichkeit einer geostrategischen Positionierung der sozialen Bewegungen des indigen-populären Spektrums. Das zentrale Element dieses Phänomens ist meiner Meinung nach eine Art Aufstand an den Urnen, der von den kollas ausging. Kollas bezieht sich dabei nicht nur auf die Aymaras und Quechuas des Andenhochlandes, sondern schließt auch die in den Städten lebenden Mestizen ein, die zwar nicht unbedingt kulturell zu dieser Gruppe gehören, aber geographisch. Und vor allem auch die Binnenmigranten. Denn das Referendum hat gezeigt, dass die Kategorie kolla für die in Amazonien, im Chaco und den östlichen Departamenten lebenden Migranten aus dem Andenhochland eine kulturelle, symbolische und vor allem politische Bedeutung erhalten hat, die zuvor so nicht existierte.

In dem gezeichneten Szenario, welche großen gesellschaftlichen und politischen Kräfte können wir derzeit in Bolivien ausmachen, und wie gestaltet sich ihr Verhältnis zueinander?

Ich denke, wir sind Zeugen einer politischen, kulturellen, ideologischen und territorialen Artikulation zwischen dem Indigenen und dem Populären. Das Indigene bezeichnet dabei eine zivilisatorische, kulturelle und territoriale Matrix, wohingegen das Populäre sich auf urbane, aber den politischen und wirtschaftlichen Eliten fern stehende Schichten bezieht.Die Wahlergebnisse des Referendums sind in vielerlei Hinsicht Produkt dieses indigen-populären Spektrums und eben nicht der Eliten. Die Eliten sind derzeit von der Formulierung des neuen politischen Projekts völlig ausgeschlossen. Und zwar nicht, weil man ihre Teilnahme verhindert, sondern weil sie sich selber isoliert haben, durch die Art und Weise, wie sie die Autonomiefrage behandeln und vor allem durch ihren rassistischen, regionalistischen und kolonialen Diskurs.

Sie sprechen vom indigen-populären Spektrum. Kann man sagen, dass dieses zumindest in formal-elektoraler Hinsicht im Projekt der MAS zu einer Synthese findet?

Die MAS ist keine Partei im klassischen Sinn, als von Berufsrevolutionären geführte, artikulatorische und leitende Kraft. Im Gegenteil, als Partei stößt sie in der indigenen Gesellschaft auf ziemlichen Widerstand, insbesondere in El Alto und den Provinzen. Die Partei war hier nie ein Faktor der Artikulation, sondern in vielerlei Hinsicht der Spaltung. In Bolivien ist das ein interessantes Phänomen: Die Gewerkschaft wird sozusagen als Repräsentant der Zivilgesellschaft oder auch der comunidad betrachtet, während die Partei das „Andere“, das Partikularinteresse verkörpert. Insofern wird die Gewerkschaft auch viel eher wertgeschätzt. Aber die Figur Evo Morales und die Identifikation der Menschen mit ihm ist nicht zu leugnen. Wie er spricht, wie er sich kleidet, aber auch der politische und ideologische Horizont schafft ein Gefühl von „das sind wir“. In diesem Sinne tut Evo sich vielleicht zu sehr hervor, könnte sogar ein wenig zu sehr caudillo sein.

Die große Forderung der sozialen Bewegungen während der Kämpfe zu Anfang dieses Jahrtausends war die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung, mit der eine Art Neugründung des Staates von unten erreicht werden sollte. In der Realität dominierte jedoch die liberale Logik der Parteipolitik. War die Versammlung nichts weiter als ein Versuch der MAS, sich als hegemoniale Kraft zu positionieren?

Es ist schon richtig, die Leute der Partei haben versucht, eine Hegemonie der MAS zu konstruieren. In gewisser Weise ist das logisch, jede Partei versucht, diese Hegemonie aufzubauen. Für wichtiger erachte ich jedoch den Versuch der Konstruktion einer Hegemonie der indigenen und populären Welt. Dabei handelt es sich nicht um eine totalisierende, sondern um eine verästelte, sehr komplexe Art der Hegemonie, die auf einem kulturellen und historischen Projekt errichtet ist, und deren Regierungsprojekt auf Überzeugung basiert.
Gescheitert ist die Verfassunggebende Versammlung aufgrund der Fehler der MAS. Wenn man aus einem so mächtigen historischen Szenario hervorgeht wie die MAS, mit riesigen Volksaufständen und sozialen Bewegungen, dann kann man den Minderheiten kein de facto Vetorecht zugestehen. In diesem Land, in dem sich die Minderheiten immer wie die Mehrheit gefühlt und benommen haben, pochen diese jetzt darauf, dass sie als Minderheit respektiert werden wollen – während der indigenen Mehrheit niemals Respekt entgegengebracht wurde. Durch die Zwei-Drittel-Regelung wurde ihnen die Möglichkeit eröffnet, über die Mehrheit zu bestimmen. Insofern waren die vom Vizepräsidenten García Linera geführten Verhandlungen zur Einberufung der Versammlung in politischer und in historischer Hinsicht katastrophal.

Haben sich durch die Verfassunggebende Versammlung und jetzt mit dem Projekt für eine neue Verfassung dennoch Räume für eine tiefergehende politische Transformation geöffnet?

Ich würde die Versammlung als taktisches und strategisches Instrument betrachten, mit dem die Karten neu gemischt werden können. Zwar nicht völlig, denn es handelt sich um eine reformistische Verfassung, doch sie erlaubt es, das kolonial-republikanische Korsett abzulegen und auf mittlere Sicht anderen Projekten eine neue Orientierung zu geben. Dabei ist die Verfassung nur ein Instrument, das den Bewegungen erlaubt, zukünftige Szenarien zu entwerfen.
In dieser Versammlung sind zum ersten Mal in der Geschichte Frauen in polleras [voluminöse Röcke, die traditionell von indigenen Frauen vor allem in den Städten getragen werden; Anm. d. Red.], Studenten, Bauernführer und Minengewerkschafter zusammengekommen und haben gemeinsam diskutiert und an Entscheidungsfindungen teilgenommen. Das ist tatsächlich die Ausübung von Demokratie, von der die Menschen geträumt haben. Für viele Menschen existiert die Demokratie in Bolivien seit 2005, 25 Jahre nach ihrer formalen Einführung. Diese Demokratie beginnt gerade erst!
In diesem Szenario eröffnen die Versammlung und die Verfassung interessante Möglichkeiten. Doch es besteht auch die Möglichkeit einer Rückentwicklung, denn das Liberale ist sehr stark in der Verfassung vertreten; sie stellt in gewisser Weise eine Aushandlung zwischen der liberalen und der indigenen politischen Logik dar.
Das Problem ist, dass in Bolivien derzeit beinahe eine Art Kriegslogik herrscht. Und so ist es gut möglich, dass die Menschen sich zwar überhaupt nicht mit der Verfassung auseinandersetzen, da aber das „Andere“ existiert, als Bedrohung, als Beleidigung, geht es nur darum, dieses Andere zu schwächen. Für die Regierung ist das eine strategisch günstige Position.

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