Mexiko | Nummer 406 - April 2008

Die endlose Grenze

Ein Gespräch mit dem Filmemacher Juan Manuel Sepúlveda

Aus 4.000 Kilometern Entfernung nähert sich der Dokumentarfilm La frontera infiníta (Die endlose Grenze) des jungen mexikanischen Filmemachers Juan Manuel Sepúlveda der nördlichen Grenze Mexikos zu den USA und beleuchtet dabei das Thema der Migration aus Zentralamerika aus der Perspektive der MigrantInnen.

Georg Neumann

Luis Buñuel war das Thema der Retrospektive der diesjährigen Berlinale. Sind die zentralamerikanischen MigrantInnen deine Form eines Portraits der Vergessenen?
Man könnte es so ausdrücken, denn in der Tat wird in der Reflektion des Themas Migration die zentralamerikanische Perspektive oft vernachlässigt. Aber man muss ein bisschen vorsichtig sein mit der Analogie. Die MigrantInnen leben nicht am Rande der Gesellschaft, sie sind durchaus Teil davon. Sie sind sehr präsent, sehr real.

Du präsentierst in deinem Dokumentarfilm weder Zahlen noch Fakten und reflektierst in einigen wenigen Kommentaren deinen eigenen Ansatz. Wie bist du an das Thema herangegangen?
Ich wollte nicht einfach einen weiteren Film über Migration drehen. Ich wollte den MigrantInnen selbst eine Stimme geben, die Geschichte aus ihrer Perspektive erzählen. Ich wollte nicht die offiziellen Aussagen der BeamtInnen, der Regierung, der Medien oder der internationalen Organisationen wiedergeben. Ich wollte auch keine Statistiken oder Zahlen ausgraben, sondern mich voll und ganz auf die Personen, die Menschen konzentrieren, die emigrieren.
In meinem Projekt habe ich versucht die Klassifizierung dessen, was wir „Migrant” nennen zu überprüfen, denn in Wirklichkeit sind wir in gewisser Weise alle MigrantInnen. Du bist nach Berlin migriert, ich von Pachuca nach Mexiko-Stadt. Wir sind beide Migranten. Deswegen war es mir auch wichtig, dass der Film eigentlich überall auf der Welt hätte gedreht werden können, in Marokko, Russland oder in Kuba.

Wie bist du auf das Thema der MigrantInnen aus El Salvador, Honduras und Guatemala aufmerksam geworden?
Als ich anfing, den Film zu planen, wollte ich wissen, was diese Menschen antreibt. Warum nehmen sie diese Strapazen und Schwierigkeiten auf sich. Ich bin für erste Recherchen nach Chiapas gefahren und habe dort gemerkt, wie schlimm die Situation für zentralamerikanischen MigrantInnen ist.
In den letzten sieben bis zehn Jahren hat der mexikanische Staat angefangen, seine südliche Grenze zunehmend zu schließen. In inoffiziellen Vereinbarungen mit der US-amerikanischen Regierung hat sich Mexiko dazu verpflichtet, die zentralamerikanische Migration zu unterbinden. Damit die MigrantInnen es also gar nicht erst bis in die USA schaffen, wurden Kontrollen schon in Mexiko und besonders an der Südgrenze Mexikos verstärkt. Es wiederholt sich also im Süden Mexikos, was im Norden durch die USA stattfindet. Gleichzeitig interessiert sich die aktuelle mexikanische Regierung, die eigentlich behauptet, die Menschenrechte zu respektieren und zu verteidigen, nicht für die MigrantInnen und ihre Probleme, geschweige denn für Lösungen.
Inwiefern unterscheidet sich die zentralamerikanische Migration von der Mexikanischen?
Ein großer Teil der mexikanischen Migration bestand lange Zeit darin, dass viele Männer nur zum Arbeiten in die USA gingen, um dann wieder nach Hause zurückzukommen, sozusagen als Saisonarbeiter. Von den Menschen aus Zentralamerika, also aus Guatemala, Honduras und El Salvador, kommen offiziell nur geschätzte hunderttausend in den USA an. Ungefähr jede vierte Person schafft es bis in die USA. Da der Weg so weit ist, bleiben viele dort und kehren nicht wieder zurück.

Welche Probleme erfahren die Menschen konkret auf ihrer Wanderung?
Wenn die zentralamerikanischen MigrantInnen losziehen, haben sie oft nicht mehr als 100 US-Dollar in der Tasche. Die meisten MigrantInnen gehen deswegen also nicht mit einem traficante (Schlepper), sondern machen sich zu Fuß auf den Weg. Und eben auch mit dem Zug, der ja eine wichtige Rolle im Film spielt. Auf diesen wird tagelang gewartet. Er bringt sozusagen die Hoffnung, dass es weitergeht. Wenn sie in Mexiko ankommen, ist das Geld meistens schon weg, da sie auf dem Weg BeamtInnen und Militärs bezahlen müssen. Außerdem ist der Rassismus ein Problem der mexikanischen Gesellschaft. Mexiko ist ein sehr rassistisches, segmentiertes Land. Im Norden fühlt man es weniger, aber in Chiapas ist das stark ausgeprägt. Nicht nur gegenüber den ZentralamerikanerInnen, sondern auch innerhalb der mexikanischen Gesellschaft, gegenüber der indigenen und der mestizischen Bevölkerung. Andererseits gibt es auch eine starke Solidarität. MigrantInnen wird Essen gegeben, auch wenn sie kein Geld mehr haben.

Welche Rolle spielen die Medien in diesem Prozess? Wird das Thema der Migration im öffentlichen Diskurs aufgegriffen?
Nein, so gut wie gar nicht. Im Fernsehen praktisch gar nicht. In einigen Printmedien wie in der linken Tageszeitung La Jornada oder der Wochenzeitschrift El Proceso gibt es hin und wieder Artikel. Wenn das Thema besprochen wird, werden zahlreiche Stereotypen aufrecht erhalten. Es wird nicht auf den Menschen eingegangen.

Dein Dokumentarfilm wirft einen sehr intimen Blick auf die Menschen, Die MigrantInnen werden ernst genommen und wirken glaubwürdig. Wie hast du ihr Vertrauen gewonnen?
Es war eigentlich einfach. Ich habe mir viel Zeit genommen. Außerdem waren wir ein sehr kleines Team von drei Personen: ein Kameramann, ein Tontechniker und ich. Wenn wir an den Drehorten ankamen, haben wir einfach mit den Menschen gesprochen – ohne Kamera. Wir mussten sie davon überzeugen, dass wir nicht vom Fernsehen kommen und mit dem Film kein Geld verdienen werden. Und auch, dass wir nicht von der Regierung sind. Wir haben also mit ihnen gegessen, mit ihnen geredet sie bei ihrem Tagesablauf begleitet. Am zweiten Tag hatten wir dann die Kamera dabei und haben angefangen, zu filmen. Wir haben immer klargestellt, dass sie Bescheid sagen sollen, falls wir etwas nicht filmen sollen. Wir mussten das Filmen nie unterbrechen.

Du hast gesagt, dass dein Film ein ethischer und kein ästhetischer Film ist. Wo liegt da für dich der Unterschied?
Für mich ist es wichtig, dass ich mich auf den individuellen Menschen konzentriere, und dass ich mich nicht in den aktuellen politischen Diskurs einschalte.

Du gibst in deinem Film auch keine Lösung und stellst kein Programm vor.
Genau, deswegen ist er nicht politisch. Aber ich behandle ein sozial relevantes Thema. Dadurch wird er natürlich automatisch, wenn auch unbeabsichtigt, zu einem politischen Statement.

Wird dein nächster Film wieder einen Aspekt der Migration behandeln, oder hast du schon andere Pläne für kommende Projekte?
Gerade habe ich den kurzen sechsteiligen Dokumentarfilm Zimapan: Geschichte eines Endlagers fertig gestellt. Mein nächstes Projekt wird das Thema reflektieren, wie die Bilder, die uns die Medien zeigen, mehr und mehr dem Mainstream entsprechen, anstatt neue Möglichkeiten zu suchen, Bilder zu zeigen und Probleme darzustellen. Viele der aktuellen RegisseurInnen, auch viele die mit mir studiert haben, machen nur Filme mit dem roten Teppich im Kopf.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren