Chile | Colonia Dignidad | Nummer 281 - November 1997

Die Festung wankt

Nun auch deutscher Haftbefehl gegen Paul Schäfer

Die Geschichte der Colonia Dignidad ist seit Anfang der 60er Jahre eine Abfolge von öffentlichen Skandalen und Gerichtsprozessen. 1966, 1977, I988 und
1997 sind die Daten dutzender Presseberichte über Flucht, Mißhandlungen, Folter und Mord. Bisher hat die Sekte alle Gerichtsverfahren, parlamentarischen Untersuchungen und sogar die formale Auflösung überlebt. Doch jetzt steht die Gruppe um den mittlerweile 76-jährigen Paul Schäfer so nahe am Abgrund wie nie zuvor.

Jürgen Karwelat

Derzeit werden in Chile mehr als dreißig Gerichtsverfahren mit unterschiedlichen Vorwürfen gegen Mitglieder der Colonia Dignidad geführt. Gegen Paul Schäfer besteht seit August 1996 ein internationaler Haftbefehl wegen Kindesmißbrauchs. Mittlerweile liegen Klagen wegen Vergewaltigung von sieben chilenischen Kindern vor. Der Sonderrichter Hernán Gonzáles Garcia ermittelt außerdem wegen eines angeblichen Jagdunfalls 1987, bei dem ein 14-jähriger Junge mit einem Schuß aus Paul Schäfers Waffe getötet wurde, Der Junge wurde auf dem privaten Friedhof der Kolonie beerdigt, ohne daß die Polizei benachrichtigt wurde. 27 Klagen gegen Kolonie-Bewohnerlnnen sind wegen Steuerhinterziehung in einer Höhe von 2,8 Mio DM erhoben worden.
Am 9. Mai 1997 durchsuchte die chilenische Polizei die Kolonie zum ersten Mal. Sie kam aber nicht wie angekündigt mit 2.000 Mann. Lediglich dreißig Beamte ersuchten am Haupteingang höflich Einlaß, inspizierten Wasser-und Telefonleitungen, Hühnerställe und einige Kellerräume und zogen wieder ab. Mittlerweile ist das Gelände neunmal vergeblich durchsucht worden. Die größte Aktion fand am 18. Juni statt. 600 Carabineros tauchten vor den Toren der Colonia Dignidad auf, 250 davon durchsuchten elf Stunden lang einen Teil des 1 300 Quadratkilometer großen Geländes mit Hubschraubern, Spürhunden und Metalldetektoren. Der Kommandant der Polizei, Mario Flores, gab an, nach „Personen, Sprengstoff und Material gesucht” zu haben. Gefunden wurde allerdings nichts. Dies nährt den Verdacht, daß die chilenische Polizei, die auf Orts- ebene immer einen sehr guten Draht zur Führungsclique der Sekte hatte, auch gar kein Interesse am Auffinden von Paul Schäfer hat.
Möglicherweise fürchtet sie auch eine blutige Eskalation. Es ist bekannt, daß die Sekte mindestens
150 Schußwaffen unterschiedlichen Kalibers und mehrere Schnellfeuergewehre hat.

Im Juni 1997 demonstrierten dann vor den Toren der Colonia Dignidad Angehörige von verschwundenen chilenischen politischen Gefangenen. Die Beweise dafür, daß zwischen 1974 und 1976 etwa 100 politische Gefangene in der Kolonie gefoltert und ermordet wurden, sind inzwischen erdrückend. Angehörige der Kolonie griffen die Demonstrantlnnen mit einer Wasserkanone und Steinen an. Der öffentliche Druck war in Chile so stark, daß der Sonderrichter seit Anfang August 1997 nun auch beauftragt ist, die Morde an den politischen Gefangenen aufzuklären. Bei den Angreifern handelte es sich um chilenische „Amigos” der Colonia Dignidad. Sie wurden für einige Zeit in Untersuchungshaft genommen. Auch Hartmut Hopp (53), zweiter Mann der Sekte, Arzt und Leiter des Krankenhauses der Kolonie, hat in diesem Jahr chilenische Gefängnisse von innen kennengelernt. Ende Juli sollte er in Parral vor Gericht er-scheinen, um in einem Prozeß gegen ihn wegen illegaler Adoption eines chilenischen Kindes auszusagen. Er setzte sich in die argentinische Stadt Mendoza ab und kam nach zwei Tagen ohne seinen Adoptivsohn Michael zurück. Er wurde bei seiner Rückkehr verhaftet, aber schon nach einem dreistündigen Verhör wieder freigelassen. Michael sollte in dem Verfahren gegen Paul Schäfer aussagen. Am
9. August 1997 wurde Hopp erneut verhaftet und nach drei Wochen gegen eine geringe Kaution freigelassen, da dem Gericht die Beweise für eine Komplizenschaft Hopps mit Paul Schäfer nicht aus-reichten.
Zwei Flüchtlinge
Mitte Juli gab es den schwersten Schlag für die Colonia Dignidad. Dem 24-jährigen Tobias Müller, der aus Gronau in Deutschland stammt, und dem 18-jährigen Chilenen Zalo Luna gelang die Flucht aus dem Lager. Gegenüber der Presse (Interview mit dem SPIEGEL 33/ 1997) bestätigten die beiden die schlimmsten Vorwürfe im Hinblick auf das interne Terrorsystem der Sekte. Müller, von seiner Mutter in die Kolonie geschickt, war 14 Jahre lang in den Händen der Colonia Dignidad, Luna zehn Jahre lang. Müller bestätigte, von Paul Schäfer vergewaltigt und mehrere Jahre mißbraucht worden zu sein. Dies sei bei den Jungen der Sekte üblich. Männer, Frauen und Kinder lebten getrennt in den jeweiligen Gruppen. Sie berichteten von unmenschlich harter Arbeit, ständiger gegenseitiger Kontrolle, Mißtrauen untereinander und blinder Ergebenheit gegen Paul Schäfer. Die Gruppe sei von Nachrichten völlig ab-geschnitten, denn es gebe kein Radio und keine Zeitung. Nur fünf Leute dürften einen Fernseher haben. Die
Mitglieder der Sekte verachteten die Demokratie und die Parteien, von den Christdemokraten bis zu den Kommunisten. Militärregime würden befürwortet. Zahlreiche Jugendliche der Sekte seien fanatische Anhänger des Militärlebens. Sie bewunderten „deutsche Soldaten” und deren ,,kriegerische Fähigkeiten” (Die Welt vom 12.8.1997). Paul Schäfer sei immer noch in der Kolonie, zeige sich aber nur gegenüber den Sektenmitgliedern und verstecke sich in den Wäldern des Landguts. Die Flucht hatten Müller und Luna unter extremer Geheimhaltung seit Jahren geplant. Für den Fall, daß sie erwischt worden wären, hatten die Freunde verabredet, bis zum letzten zu kämpfen, da sie anderenfalls ins sekten eigene Krankenhaus gesteckt und mit Psychopharmaka vollgepumpt worden wären. Durch eine solche „Behandlungn waren in der Vergangenheit mehr-fach Abweichler zu menschlichen Wracks gemacht worden. „Oppositon ist Selbstmord”, faßte Müller das Klima in der Colonia Dignidad zusammen. Müller ist inzwischen in Deutschland. Luna, der mit Müller nach Deutschland gereist war, ist nach Chile zurückgekehrt.
Die Aussagen der beiden Flüchtlinge haben in Chile weitere Vorwürfe aufkommen lassen. Mehrere Bäuerlnnen aus der Umgebung erklärten gegenüber dem staatlichen chilenischen Fernsehen TVN, ihren Kindern seien im Krankenhaus der Kolonie die Hoden entfernt worden. In eine ähnliche Richtung gehen die Vorwürfe des deutschen Journalisten Gero Gemballa in seiner Dokumentation „Die Kinder der Colonia Digniddad” (ARD 27.8.1997). Gemballa mutmaßt über Menschenexperimente und künstliche Befruchtung in der Sekte. Eine Art nationalsozialistischer „Lebensborn“ könnte aufgebaut sein.
Politischer Druck wird jetzt auch in Chile erzeugt. Das chilenische Parlament forderte nach einer Debatte am 20. August 1997 mit klarer Mehrheit die Ausweisung der Sektenmitglieder, gegen die kein gerichtliches Verfahren läuft. Wenige Tage später erklärte der chilenische Präsident Eduardo Frei allerdings, daß eine Ausweisung der Sekten- mitglieder nicht in Frage komme. juristisch ist in Chile erst einmal wieder ein Stillstand eingetreten. Da Schäfer bis zum heutigen Tage nicht gefaßt worden ist, ist das gegen ihn angestrengte Gerichtsverfahren Ende September vorübergehend einstellt worden, da nach der chilenischen Prozeßordnung ohne den Angeklagten nicht verhandelt wer-den darf. Der Haftbefehl bleibt aber weiterhin in Kraft.

Deutscher Haftbefehl gegen Schäfer
In Deutschland ist eine Behörde aus ihrer jahrelangen Lethargie erwacht: Die Staatsanwaltschaft in Bonn. Sie hat einen Haftbefehl gegen Paul Schäfer wegen sexuellen Kindesmißbrauchs beantragt. Am 18. September 1997 hat das Amtsgericht Siegburg den Haftbefehl erlassen. Ein solches Verfahren hätte es schon 1988 geben können, als Hugo Baar und Georg und Lotti Packmor aus der Sekte geflüchtet waren und detaillierte Berichte über das interne Terrorregime des Paul Schäfer geliefert hatten. In juristischer Sicht ist auf deutschem Boden ein neu- er Aktionsplatz gegen die Kolonie eröffnet worden, während ein uralter bald nicht mehr existieren wird. Im Frühjahr 1977 hatte die Sekte amnesty international und die Zeitschrift Stern auf Unterlassung der Behauptungen verklagt, die Colonia Dignidad sei ein Folterlager des chilenischen Geheimdienstes.
Bis zum heutigen Tage ist gegen amnesty international eine Einstweilige Verfügung in Kraft, die der Organisation verbietet zu behaupten, was alle Welt weiß: daß die Colonia Dignidad ein Folterlager der DlNA war. Nach anfänglichen zahlreichen Zeuglnnenvernehmungen und einem Ortstermin in Chile im Jahre 1988 dümpelte der Prozeß jahrelang vor sich hin. Man stritt sich um Übersetzungen und Formalia.
Nach 13 Jahren war der Termin am 10. Oktober 1997 im Saal 13b des Bonner Landgerichts die erste öffentliche Verhandlung. Vor den drei Richtern der 15. Kammer stapelten sich Akten, denen man ihr Alter von 20 Jahren schon von weitem ansehen konnte. Wäre es an diesem Morgen nicht um Folter und Mord gegangen, hätte man der 25 Minuten dauernden Verhandlung eine heiter-absurde Seite abgewinnen können. Sätze wie: „Ich verweise auf meinen Antrag vom 19.12.1978″, waren aus dem Mund des Rechtsanwalts Classen zu hören. Am Tag zuvor hatte Anwalt Classen, der jahrelang die chilenische Klägerin „Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad” und den deutschen Ableger „Private Sociale Mission e.V . vertrat, einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens gestellt. Man solle bitte warten, bis in Chile die Prozesse um die 199 1 angeordnete Auflösung der Colonia Dignidad entschieden seien. Die Sekte versucht nämlich zur Zeit mit Verfahren vor
unteren Gerichten, die Auflösungsanordnung der chilenischen Regierung, die inzwischen höchstrichtlich bestätigt wurde, anzugreifen.
Ob Rechtsanwalt Classen heute noch den deutschen Kläger „Private Sociale Mission” vertreten kann, ist ebenfalls sehr zweifelhaft. Der verbliebene Teil der Sekte in Deutschland hatte nämlich 1995 amnesty international und dem Stern mit der Begründung ablehnen wird, daß sie wegen Nicht- Parteifähigkeit der Klägerinnen unzulässig geworden sind.
Es war offensichtlich: Das Gericht sieht sich nicht in der Lage und war auch nicht bereit, die mittlerweile erdrückenden Beweise zu würdigen und per Gerichtsurteil
dem Amtsgericht Siegburg mitgeteilt, daß die Mitgliederzahl des Vereins unter drei gesunken sei. Daraufhin entzog das Amtgericht dem Verein im August 1995 die Rechtsfähigkeit und stellte diese Entscheidung sogar in Chile der Colonia Dignidad zu. Während Rechtsanwalt Classen noch im Februar 1996 argumentierte, daß der Klägerverein weiterbestehe, hatte die Sekte hinter seinem Rücken den Laden schon aufgelöst. Diese Schizophrenie vermochte auch das Landgericht nicht einzusehen. Es deutete an, daß es beide Sektenvereine für nicht mehr parteifähig in diesem Prozeß ansehe. Eine Entscheidung wurde für den 18.1 1 ,1997 angekündigt. Es spricht viel dafür, daß das Gericht die Klagen gegen festzustellen, daß die Colonia Dignidad ein Folterlager der DlNA war. Alles deutet auf einen Sieg von amnesty ,und dem Stern aus formalen Gründen hin. Amnesty international wird wohl trotz des Prozeßsiegs auf seinen 150.000 DM Prozeßkosten sitzen bleiben, die
sie dem Gericht als Vorschuß für zahlreiche Zeugen, Übersetzungsdienste usw. zu leisten hatte. Nachträglich muß sich amnesty international fragen lassen, ob es nicht den Prozeß zu unpolitisch und zu zurückhaltend betrieben hat. Es wäre das erste Mal gewesen, daß ein ausländisches Gericht die Terrorherrschaft der Pinochet-Diktatur und ihrer Helfer in der Colonia Dignidad verurteilt hätte.
Jürgen Karwelat

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