Literatur | Nummer 421/422 - Juli/August 2009

Die Geschichte eines Mitläufers

Der Roman Zweimal Juni des argentinischen Autors Martín Kohan berichtet aus der Perspektive eines Militärarztes und seines Chauffeurs über die Diktatur

Olga Burkert

„Ab wieviel Jahren kann man ein Kind folltern?“ Als der junge Rekrut diesen Satz im Benachrichtigungsheft seines Bataillons findet, ist es der Rechtschreibfehler, der ihn stört, nicht die Grausamkeit, die aus dem Inhalt der Frage spricht. Der Ich-Erzähler des Romans Zweimal Juni von Martín Kohan kann Rechtschreibfehler nicht ausstehen. Und obwohl es nicht sein Fehler ist, kann er nicht anders, als ihn heimlich zu verbessern. Auch sonst nimmt der namenlose Protagonist überkorrekt die Aufgaben während seines Militärdienstes wahr. Er respektiert die gegebenen Hierarchien und Strukturen des Militärs ohne zu hinterfragen. Er hatte Glück. Eine Loszahl brachte ihn zum Heer und dort wurde er schnell zum Fahrer des Militärarztes Dr. Mesiano ernannt.
Martín Kohans jetzt auf Deutsch vorliegender Roman aus dem Jahr 2002, spielt vor dem Hintergrund zweier Fußballweltmeisterschaften im Juni, die als patriotischer Siegesjubel und Malvinenkrieg jeweils Hoch- und Tiefpunkt der argentinischen Militärdiktatur symbolisieren. Der Autor verdichtet eines der wohl schlimmsten Verbrechen dieser Schreckensherrschaft: die illegale Aneignung von Kindern der zu Tausenden Verhaftet-Verschwundenen. Bruchstückhaft und nur in vagen Andeutungen wird deutlich, was der Rekrut 1978 in seiner Zeit als Fahrer von Mesiano miterlebt.
„Ich verdankte es dem großmütigen Vertrauen, das Doktor Mesiano mir entgegenbrachte, dass ich Zugang zu dieser Art technischer Anfragen hatte, Berichten aus einer Wirklichkeit, in der abstraktes Wissen nutzbringend auf konkrete Erfordernisse angewandt wurde.“ Die Anfrage von einem anderen Militärarzt aus einem der Folterzentren der Diktatur, die an Mesiano weiter gegeben werden soll, ist für den Ich-Erzähler eine bloße „technische Anfrage“. Und da sein Vorgesetzter, ganz entgegen seiner Gewohnheiten, nicht aufzufinden ist, macht er sich auf die Suche nach ihm. Die Vorstellung, dass der viel bewunderte Doktor Mesiano sich eines (Dienst-)Vergehens schuldig machen könnte, treibt ihn mehr um, als die Vorstellung, dass unter der Militärjunta nicht nur zahllose Unschuldige, sondern auch Kinder gefoltert werden.
Und doch wird gerade durch diese Perspektive des Mitläufers die ganze Spannbreite der Geschehnisse deutlich. Der extrem nüchterne Stil und die streng durchnummerierten, kurzen Kapitel, in die der Roman eingeteilt ist, tragen das ihre dazu bei, dass der Leserin bei der Lektüre ein kalter Schauer nach dem anderen über den Rücken läuft.
Neben den beiden Erzählebenen der Fußballweltmeisterschaften 1978 und 1982, wird auch jedes einzelne Kapitel meist auf mindestens zwei Ebenen erzählt. Zwischen die eigentliche Handlung sind immer Betrachtungen über Fußball oder andere Nebenhandlungen gestreut. Scheinbar nebensächlich wird hier die grausame Wahrheit über die argentinische Diktatur präsentiert. In oft nur drei bis vier Sätzen langen Abschnitten wird die Situation einer Gefangenen beschrieben, wie sie gefoltert und vergewaltigt wird, wie sie ihr Kind in der Zelle zur Welt bringt und mit welch unmenschlicher Arroganz die Soldaten sie behandeln.
Als der Rekrut Dr. Mesiano endlich findet und in dem Folterzentrum, aus dem die Anfrage kam, auf ihn wartet, landet er zufällig genau vor der Zelle der Gefangenen. Diese erzählt ihm durch die Türritze hindurch, was ihr widerfahren ist. In allen Einzelheiten. Anschließend sagt sie ihm eine Telefonnummer und bittet ihn, einen Anwalt anzurufen, um diesem ihren Aufenthaltsort mitzuteilen. „Du bist keiner von ihnen“, wiederholt sie immer wieder. Der Ich-Erzähler jedoch bleibt kalt. Das einzige worauf er achtet, ist, seine Hand nicht zu bewegen, weil er nicht merken möchte, ob die Gefangene aus der Zelle mit den Fingerspitzen an seinem Pullover zieht. Er ist froh, als Mesiano ihn ruft und sie wieder abfahren.
Vier Jahre später – wieder ist Fußballweltmeisterschaft und wieder verliert Argentinien gegen Italien – stößt der Ich-Erzähler, mittlerweile Medizin-Student, durch einen Zufall in der Zeitung auf den Namen von Dr. Mesianos Sohn in einer Liste von Gefallenen aus dem Malvinenkrieg. Er sucht seinen ehemaligen Vorgesetzten erneut auf. „Unterwegs steigen so manche meiner liebsten Erinnerungen in mir auf, aus der Zeit, als der Doktor meine Hilfe brauchte, die ich ihm ohne Zögern zukommen ließ.“ Zu Gast bei Mesianos Schwester trifft der ehemalige Fahrer auf einen vierjährigen Jungen. Obwohl die Vermutung von damals nun offensichtlich wird, scheint der Protagonist von Zweimal Juni immer noch nichts zu hinterfragen. Nur ein seltsamer Traum, der ihn nicht mehr loslässt, deutet auf eine kleine Spur von Gewissensbissen.
Etwas frech mutet allerdings die Ankündigung des deutschen Verlages von Zweimal Juni als „der maßgebliche Roman über die traumatischen Ereignisse der letzten Militärdiktatur in Argentinien“ an. Die Perspektive eines Mitläufers ist zwar tatsächlich neu. Angesichts der Fülle von Romanen und Auseinandersetzungen mit der Diktatur in Argentinien, die noch nicht übersetzt wurden, erscheint das dennoch reichlich hoch gegriffen.

Martin Kohan // Zweimal Juni // Roman // Aus dem Spanischen von Peter Kultzen // Suhrkamp Verlag // Frankfurt am Main 2009 // 183 Seiten // 19,80 Euro

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