Brasilien | Nummer 397/398 - Juli/August 2007

„Die Gesellschaft muss Protagonistin dieses Prozesses sein”

Roberto Marinho über Solidarische Ökonomie in Brasilien

Roberto Marinho Alves da Silva ist Koordinator der Studienabteilung des Sekretariats für Solidarische Ökonomie (SENAES) des brasilianischen Arbeitsministeriums. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit ihm über die Bedeutung und Potenziale solidarischer Ökonomie in Brasilien.

Interview: Clarita Müller-Plantenberg

Wie etabliert ist die Solidarische Ökonomie in Brasilien?

Die Solidarische Ökonomie (SÖ) ist in Brasilien noch immer nicht sehr bekannt. Aber ihr Bekanntheitsgrad nimmt zu. Im Jahr 2003, zum Zeitpunkt als das Nationale Sekretariat der Solidarischen Ökonomie (SENAES) im Ministerium für Arbeit und Beschäftigung geschaffen wurde, kannte sie weder der Staat noch die Gesellschaft. Und selbst jene, die in der Solidarischen Ökonomie tätig sind, sind sich nicht vollkommen klar darüber, was sie tun.
Das bedeutet, dass man einerseits die SÖ sichtbar machen muss, um ihr Potenzial der Gesellschaft und dem Staat zu erläutern: In Bezug auf die Schaffung von Arbeit und Einkommen und auf die kollektive Form der Arbeitsorganisation, welche bessere Resultate als individuelle und isolierte Arbeit erzielt. Sichtbarkeit bedeutet also, dass die Praktiken,Werte und Prinzipien, die letztlich auf einen anderen Typ von Gesellschaft hinauslaufen, bekannt sind. Das bedeutet andererseits aber auch, dass Sichtbarkeit mit Identitätsbildung einhergeht.
Sichtbarkeit besteht nicht nur in einer Propaganda für die SÖ. Wir haben so viele Tausend Unternehmen, wir sind so viele Arbeiter, wir produzieren so viele Millionen Reais mit unseren Produkten und Dienstleistungen, dass wir sagen können: Es gibt etwas Neues, das sich in Brasilien in den letzten Jahrzehnten entwickelt. Die Solidarische Ökonomie ist aber gleichzeitig sehr alt, da sie Praktiken unserer Vorfahren zurückerobert. Hierzu gehören die Praktiken und Werte, welche von traditionellen Völkern kommen, aber auch von der Arbeitergeneration Europas, die sich im 18. und 19. Jahrhundert gegen das kapitalistische System auflehnten, welches ihnen das Recht und die Kontrolle über ihre Arbeit nahm. Die SÖ ist Ende des 20.Jh. in Brasilien und in verschiedenen anderen Ländern mit viel Kraftaufwand als Alternative gegen die Krise der Arbeitslosigkeit neu entstanden. Das ist es also was wir darunter verstehen, wenn wir über die Sichtbarkeit der SÖ im Zusammhang mit einer Identitätsbildung sprechen.

Wie kann diese neue Ökonomie gegenüber dem Wettbewerb mit dem Kapitalismus bestehen? Welche Instrumente habt ihr um die bestehenden und zukünftigen Unternehmen zusammenzuführen?

Die Art und Weise wie die SÖ sich organisiert, wie sie die Produktion, Verteilung und den Konsum von Produkten und Dienstleistungen organisiert, ist eine andere Produktionsweise als die, die in dem vorherrschenden Wirtschaftssystem angewandt wird. Die Werte und die Arbeitsweisen sind anders. Gemeinschaftliche Arbeit wird geschätzt und die Selbstverwaltung wird hoch bewertet. Die Arbeiter erobern die Fähigkeit über das, was zu tun ist und wie es zu tun ist zurück, indem sie selbst entscheiden. Aber die SÖ ist keine Insel. Sie ist nicht vollkommen unabhängig vom dominierenden kapitalistischen System, sondern setzt sich in Beziehung zu diesem. Eine der Formen ergibt sich aus den Handelsbeziehungen: Kauf und Verkauf von Produkten und Dienstleistungen. In diesem Sinne haben die solidarischen Wirtschaftsunternehmen heute noch keine sehr große Fähigkeit erworben, im Wettbewerb zu bestehen. Man sucht nach Räumen, nach Breschen im System, um Produkte und Dienstleistungen zu präsentieren. Und da haben wir drei große Lektionen in Brasilien, und ich denke auch weltweit, gelernt.
Erstens müssen unsere Produkte und Dienstleistungen unterschiedlich sein vom Standpunkt der Qualität aus und vor allem, wenn diese Qualität verbunden ist mit dem Schutz der Natur und dem Respekt, den man gegenüber dem Konsumenten besitzt. In Brasilien sagt man: „Bist du dir dessen vollkommen bewusst, was du konsumierst?” Du konsumierst nicht nur ein Produkt, ein Erfrischungsgetränk, du konsumierst einen ganzen Produktionsprozess, der gerecht oder ungerecht sein mag. Du kannst ein Produkt konsumieren, das in sich die Zerstörung der Natur birgt.
Die SÖ konsolidiert sich immer mehr durch die agroökologische Produktion, die ohne Nutzung der Agrarchemie auskommt. Die Tiere sind beispielsweise nicht einfach Stückgut einer intensiven Produktlinie, so wie man heute Hühnchen oder Schweine in den kapitalistischen Agragindustrien produziert, sondern sie werden ohne die Verwendung von vielen Hormonen aufgezogen. Es geht darum, in anderer Form auf den Markt zu gehen und Konsumenten zu finden, die diese Werte anerkennen.
Die zweite Frage, die die Menschen in Bezug auf die Bewertung der Produkte und Dienstleistungen der SÖ gelernt haben, ist der soziale Wert des Produktes. Wir lenken die Aufmerksamkeit der Konsumenten darauf, sich selbst zu hinterfragen. Man kann den Konsumenten sagen, dass jenes Produkt dort ein Produkt ist, das kleinen Gemeinschaften hilft, sich zu organisieren und ihre Probleme in Angriff zu nehmen.
Die dritte Lektion, die wir in diesem Prozess lernen mussten ist, dass isolierte Unternehmen keine große Chance haben zu überleben. Daher müssen sie sich in Netzwerken organisieren, die die regionalen Produkte wertschätzen.

Kannst du dafür einige Beispiele nennen?

Es existieren viele Netzwerke in kleinen Regionen, die mit traditionellen Produkten handeln und eine Marke für diese Produkte schaffen, wie z.B. Sabor do Sertão (Geschmack der Trockensteppe) der Obstbauern des Sertão im Nordosten und Dom de Minas (Gegenstand aus Minas), einer Region im Bundesstaat Minas Gerais. Aber es gibt auch große regionale und nationale Netze, wie z.B. das überregionale Netzwerk Justa Trama. Im Textilsektor verbindet es Bauern aus Ceará, die Biobaumwolle produzieren, mit Betrieben der Spinnerei und Weberei im Bundesstaat São Paulo, die die Arbeiter wieder in Gang gesetzt hatten. Außerdem gibt es eine Zusammenarbeit zwischen Genossenschaften von Frauen im Bundesstaat Santa Catarina und Rio Grande do Sul. Diese produzieren Konfektionen, Garne, Schnüre und Beutel, die wiederum mit Samen, die durch Sammeltätigkeiten von Frauen in den nördlichen Regionen gewonnen wurden, geschmückt werden. Das sind phantastische Netzwerke.

Inwiefern kann die Beziehung zum Staat diesen solidarisch-gesellschaftlichen Organisationsprozess stärken?

Wir müssen dem Prozess eine Richtung geben, die darin besteht, andere Wirtschaftsstrukturen zu schaffen, die der Solidarischen Ökonomie. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass das nur möglich ist, weil es derzeit eine Regierung gibt, die bereit ist, diese Initiativen politisch und finanziell zu unterstützen.
Das Nationale Sekretariat der Solidarischen Ökonomie ist der Raum, der von der Gesellschaft erobert wurde, um eine staatliche Politik aufzubauen. Dieser Raum ist nicht autoritär. Vielmehr erkennen wir, dass die Gesellschaft Protagonistin und Hauptakteur dieses Prozesses sein muss. Wir haben deswegen eine sehr nahe Beziehung zur Zivilgesellschaft, zu Netzwerken, Organisationen und Zusammenschlüssen der Solidarischen Ökonomie, die es in Brasilien gibt, aufgebaut. Die meisten dieser Organisationen sind im Brasilianischen Forum der Solidarischen Ökonomie (FBES) zusammengeschlossen. Das verhindert, dass der Staat in diesem Prozess die Führung übernimmt und die zivilgesellschaftlichen Organisationen bevormundet. In Bezug auf diese Frage haben wir immer das Bild „andando sobre o fio da navalha“ („Gehen auf einem schmalen Grad“) vor Augen. Einerseits ist das Gefahrenpotential sehr groß, wenn der Staat sich an die Stelle der Gesellschaft setzt und die Führung in diesem Prozess übernimmt. Denn es könnte bei einem Regierungswechsel dazu kommen, dass bei geringerer staatlicher Unterstützung der begonnene politische Prozess nicht weitergeführt werden kann, da die Zivilgesellschaft inzwischen zu schwach geworden ist. Auf der anderen Seite würden wir aufhören etwas Öffentliches zu sein, wenn SENAES völlig abhängig von der Gesellschaft wäre. Dann würden wir ja nur einigen Wenigen Aufmerksamkeit zollen, was auf eine klientelistische Beziehung hinausliefe. Die SÖ muss aber offen sein für die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft ist eine sehr schwierige.

Kann man in diesem Sinne diese Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft mit den Ereignissen in Venezuela vergleichen?

Wir sind der Situation in Venezuela sehr nah. Venezuelas Regierung hat eine sehr konkrete politische Richtung etabliert und im Unterschied zu Brasilien gibt es dort keine Koalitionsregierung. Es ist eine Regierung, die die Kräfte der Linken des Landes vereint. Im Hinblick auf die Solidarische Ökonomie schuf die Regierung das Ministerium für Basisökonomie. Aber auch in anderen Ministerien wurde die politische Ausrichtung zur Stärkung der Basisorganisationen und kollektiven Organisationen der ArbeiterInnen etabliert. Organisationen der brasilianischen Zivilgesellschaft haben Beziehungen mit den venezolanischen Organisationen der SÖ aufgenommen. Sie haben Handel und politischen Austausch durchgeführt, um die SÖ in Lateinamerika organisieren zu können. Es gibt vor allem ein Gebiet, in dem wir konkret einen Austausch durchführen können: das Gebiet der Gemeinschaftsbanken. In Brasilien haben wir viele Erfahrungen mit Gemeinschaftsbanken gesammelt, die soziale Währungen benutzen. Venezuela will diese Form solidarischer Finanzen als staatliche Politik einführen. Es gibt also eine Beziehung zwischen Brasilien und Venezuela. Die Perspektiven sind sehr ähnlich, nur mit dem Unterschied in der Geschwindigkeit der Umsetzung. Jetzt müssen wir voran gehen und mit den anderen Ländern Lateinamerikas kooperieren.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren