Haiti | Nummer 227 - Mai 1993

“Die Gewalt kann das Recht nicht ersetzen”

Bérard Cénatus über die Verhandlungsführung Aristides

In der März-Ausgabe der in Quito erscheinenden Zeitschrift alai erschien das folgende Interview mit Bérard Cénatus, einem haitianischen Journalisten und Philosophen. Cénatus äußert sich über die Aussichten für die Beilegung der Krise, die Funktion der OAS/UN-Missionen und die Kompromißbereitschaft des exilierten Staatspräsidenten, Jean-Bertrand Aristide.

Übersetzung: Joachim Göske

alai:In Haiti spricht man von Öffnung: eine zivile Beobachterkommission der UNO und der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) befindet sich im Land; mit den USA wird verhandelt. Was hältst Du von dieser Entwicklung?
Cénatus: Wir Haitianer sind uns darüber klar geworden, daß wir nur auf uns selbst zählen können. Bezogen auf die UNO/OAS-Beobachtermission gab und gibt es viele Erwartungen. Allerdings ist ihre Aufgabe noch nicht ganz geklärt. Sie ist da, um zu beobachten, nicht um zu helfen. Sie soll Zeugnis ablegen über die Situation im Land und folgt dabei gegensätzlichen Einschätzungen, die die Haltung der Mächte widerspiegeln, die sie ins Leben gerufen haben. Ich will damit nicht sagen, daß ihre Gegenwart schädlich oder unnütz ist.
Anfangs waren wir sehr optimistisch und vertrauensselig, jetzt sind wir eher skeptisch – besonders nach den Vorfällen in der Kathedrale von Port-au-Prince vor den Augen der Mission. (Anmerkung der Redaktion: Cénatus spielt auf die Übergriffe haitianischer Armeeangehöriger während der Trauerfeier für die Opfer der Fährkatastrophe vom Februar an. Bei diesen Zwischenfällen wurde auch der bekannte Bischof Romélus tätlich angegriffen.) Obwohl wir glauben, daß die Mission Einfluß nehmen kann, wird sie uns doch die Aufgaben nicht abnehmen, die wir zu erfüllen haben.

Wie analysierst Du die gegenwärtige Situation? Einige optimistische Beobachter sagen, die Rückkehr zur Demokratie stehe kurz bevor. Gibt es wirklich Anzeichen dafür?
Ich will daran glauben, daß das stimmt, und wir müssen kämpfen, um die Entwicklung zu beschleunigen. Gleichzeitig muß man jedoch davon ausgehen, daß es ernsthafte Hindernisse gibt.
Intern ist es die Oligarchie, die sich einer Rückkehr zur Demokratie widersetzt – die noch immer nicht entwaffnete Armee, für die Demokratie das Ende ihrer Privilegien bedeutet, das Ende der Straffreiheit und die bis zum letzten Augenblick darum kämpfen wird, den Einigungsprozeß zu verlangsamen oder gar abzubrechen.
Das Volk seinerseits hat sich noch nicht von dem Trauma erholt, das es nach dem Staatsstreich erlitten hat. Obwohl es noch nicht in ausreichendem Maß organisiert ist, gewinnt es doch immer mehr Entschlossenheit. Im letzten Monat hat sich vieles auf Provinzebene getan. Im allgemeinen sind es die jungen Menschen, die Studenten, die in vorderster Linie stehen.
Ich zweifele also nicht an der Möglichkeit der Wiederherstellung der Demokratie. Es muß aber immer bedacht werden, daß es die augenblicklich Mächtigen sind, die die Initiative besitzen, über die Bedingungen zu verhandeln, unter denen die Demokratie nach Haiti zurückkehrt – so als wäre der Willen des Volkes nicht ausreichend. Außerdem sollten wir nicht vergessen, mit welcher Laxheit das Embargo durchgeführt wurde, und daß die Putschisten seit weit mehr als einem Jahr an der Macht sind. Während der ganzen Zeit haben wir oft geglaubt, eine Lösung würde sich anbahnen, wurden aber jedesmal enttäuscht. Niemand kann uns zusichern, daß wir in sechs Monaten nicht wieder mit leeren Händen dastehen werden – ebenso wenig weiß niemand, ob Aristide nicht in drei Monaten nach Haiti zurückgekehrt sein wird. Die Rückkehr ist möglich, muß jedoch erkämpft werden.

Präsident Aristide hat jüngst ein Programm zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit verbreitet. Was denkst Du über die darin enthaltenen versöhnlichen Vorschläge?
Wir haben keine Schwierigkeiten mit diesen Vorschlägen, so lange sie sich im Rahmen der Verfassung bewegen und den Willen des Volkes respektieren, das mehrheitlich für Aristide gestimmt hat. Das Programm enthält keine Zugeständnisse an Duvaliers Folterschergen, die macoutes. Ich glaube, daß wir tatsächlich eine Öffnung brauchen und daß wir die gemachten Fehler korrigieren müssen. In einigen Fällen hat sich die Aristide-Regierung nicht ausreichend jenen Sektoren gegenüber geöffnet, die nicht von Anfang an feindselig eingestellt waren. Diese Irrtümer müssen ausgeräumt werden. Völlig ausgeschlossen ist es allerdings, unter dem Vorwand der Öffnung die Putschisten an der Regierung zu beteiligen, deren Ziel ja nur darin besteht, den Demokratisierungsprozeß zu verzögern.
In diesem Sinne muß man taktisches Gespür beweisen. Jetzt ist nicht der Augenblick der Rache, aber genauso wenig dürfen die Forderungen des Volkes nach Gerechtigkeit enttäuscht werden. Das Volk verbindet Gerechtigkeit mit Demokratie, weiß jedoch um die Kompliziertheit der Situation. Auch wenn Haiti sehr arm ist, ist es doch ein Land mit einer politisierten Bevölkerung.

Glaubst Du, daß Aristides Vorschläge darauf hinauslaufen, die Macht mit Bazin zu teilen?
Man darf nicht den Sinn von “Einheit” fehlinterpretieren. Meiner Meinung nach ist es ausgeschlossen, daß das Militär und seine Helfershelfer an der legitimen Regierung beteiligt werden – und zwar nicht nur aus ethischer Sicht, sondern aus Respekt vor der Verfassung und im Namen der Gerechtigkeit. Es ist dringend erforderlich, daß Aristide seine Vorstellungen von einer Regierung der nationalen Einheit näher erläutert. Welche Sektoren, welche politischen Gruppen sollen beteiligt werden? Sollte Aristide tatsächlich die Militärs oder Bazin in seine Regierung aufnehmen müssen, muß davon ausgegangen werden, daß er nur darum nach Haiti zurückgekehrt ist, um die Politik der Putschisten fortzuführen. Meiner Meinung nach würde er dann seine Unterstützung innerhalb der Bevölkerung verlieren.

Wie kann Aristide das Prinzip, nicht in direkte Verhandlungen mit den Putschisten einzutreten, aufgeben, um dann dem Vorschlag der USA zu folgen, sich persönlich um seine Rückkehr zu kümmern?
Im Augenblick kann ich zwar nicht sagen, was alles möglich ist, dafür aber, was unmöglich ist. Unmöglich ist, daß Aristide seine Kompromißbereitschaft so weit gehen läßt, die Putschisten in die Regierung aufzunehmen und damit das Volksvotum vom 16. Dezember 1991 verrät. Ich glaube auch nicht, daß er das tun wird. Also: Öffnung ja! Kompromiß nein! Es ist ganz klar, daß die Rückkehr nur über Verhandlungen zustande kommen kann. Es gibt Kreise, die Aristide beeinflußen wollen, und darum ist es notwendig, daß er die Grenzen seiner Kompromißbereitschaft deutlich macht. Standhaftigkeit und Flexibilität hängen von seinem Respekt vor dem Willen des Volkes ab.

Wie bewertest Du das augenblickliche Kräfteverhältnis?
Das Heer verfügt weiterhin über das Gewaltmonopol und über reichhaltige Mittel. Seit sechs Jahren gibt es jedoch zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit in der Bevölkerung den festen Willen zu Veränderungen. Trotz der physischen Überlegenheit des Militärs besitzt das Volk heute Erfahrung und Entschlossenheit. Außerdem kann nichts über die Isolation der Putschisten hinwegtäuschen. Auf internationaler Ebene gibt es die Bemühungen, die Krise in Haiti zu lösen. Und überall auf der Welt demonstrieren exilierte Haitianer.
Das Kräfteverhältnisse ist niemals stabil, sondern ständigem Wandel unterworfen. Auch wenn wir auf kurze Sicht physisch unterlegen sind, können wir damit fortfahren, uns zu organisieren und für eine wirkliche Demokratie in Haiti zu arbeiten. Die Regierung unter Bazin, abgesehen von ihrer Minderheitenposition, ist eine unrechtmäßige Regierung. Die Kräfte, auf die sie sich stützt, besitzen keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung. Es handelt sich um eine Regierung, die den Willen des Volkes mißachtet. Und darum braucht Aristide auch keine Zugeständnisse zu machen, denn das Volk hat ihn eingesetzt.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren