Argentinien | Nummer 299 - Mai 1999

Die Gewalt rückt ins Zentrum

Buenos Aires – eine Metropole verliert das Image der Sicherheit

Die argentinische Hauptstadt war einst bekannt als sicherste Metropole Lateinamerikas. Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit und Kriminalität wurden lange Zeit ignoriert oder mit Polizeigewalt in die villas miserias der Vorstädte abgedrängt. Nun erobert die Gewalt das Zentrum von Buenos Aires. Überfälle enden zunehmend blutig. Die skandalträchtige Polizei trägt einiges dazu bei.

Stefan Kunzmann

Es ist Mittagszeit im Zentrum von Buenos Aires. Ohrenbetäubender Lärm dringt durch die Straßenschluchten der argentinischen Metropole. Die spätsommerliche Hitze treibt den in ihre Mittagspause strömenden Menschen den Schweiß auf die Stirn. Taxis haben die breiten Avenidas zur Rennstrecke auserkoren. An der Kreuzung langweilt sich ein dunkelblau gekleideter Polizist, die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Schlagstock, Handschellen, Pistole, eine Unmenge von Taschen am Gürtel.
Marta Palma Echeverría hat gerade die Tür ihrer kleinen Bar in der Avenida Corrientes aufgesperrt. Schon seit Jahren führt sie gemeinsam mit vier anderen die Kneipe, eine Mischung aus Café und Restaurant. Bis der Koch kommt, möchte sie die Stühle von den Tischen gestellt haben, die Kasse überprüfen, einige Dinge vorbereiten. Wenige Minuten später erscheint Carolina, die nachmittags die wenigen Gäste bedient. Der größte Teil der Kundschaft kommt erst gegen Abend, wenn die porteños, wie die Bewohner der argentinischen Hauptstadt genannt werden, die zahlreichen Theater und Kinos auf dem Broadway von Buenos Aires aufsuchen und in das gegenüberliegende Kulturzentrum La Plaza, ins benachbarte Teatro Astral oder ins unweit entfernt liegende Teatro General San Martín gehen.

Überfall mit Angstschweiß

Beide Frauen stehen gerade an der Theke, als plötzlich zwei Jungen durch die Glastür in die Kneipe stürmen. Die beiden 15- bis 16jährigen fackeln nicht lange, einer von ihnen zieht eine Pistole unter seinem T-Shirt hervor, hält sie an Carolinas Stirn, schreit, Marta solle alles Geld herausrücken, das in der Kasse ist. Die Wirtin öffnet die Kasse, doch der andere der beiden, etwas kleiner, stößt sie beiseite, zieht die wenigen Geldscheine aus den Fächern. Er sagt nichts, über sein Gesicht rinnen Schweißperlen. Er hat Angst. Der andere brüllt, schubst Carolina weg, wartet auf seinen Kumpanen, der über die Theke springt. Beide rennen nach draußen. In wenigen Augenblicken ist alles vorbei, wie ein Film in Zeitraffer, und unversehens sind die zwei Halbwüchsigen in der Menge verschwunden.
Marta und Carolina haben Glück gehabt. Nicht immer kommen die Opfer der Überfälle, die in Buenos Aires in letzter Zeit stetig zugenommen haben, ungeschoren davon. Die zumeist jugendlichen Täter sind nicht nur fast immer bewaffnet, sie sind oft nervös oder stehen unter Drogen. Und viel schlimmer: Sie haben nichts zu verlieren. Die chorros, wie in Lateinamerika die Diebe genannt werden, kommen aus den Vorstädten, dort, wo in den villas miserias die Armut grassiert, viele Menschen arbeitslos sind und die Kinder keine Perspektive haben. Ihre Eltern können ihnen keine anbieten. Viele Frauen sind alleinerziehend, da sich der Mann aus dem Staub gemacht hat, weil er die Familie nicht ernähren kann. Oft kommen sie aus der Provinz, aus dem Nordwesten, aus Tucumán, Santiago del Estero, Salta oder San Salvador de Jujuy, wo die Arbeitslosigkeit noch höher liegt als in der Bundeshauptstadt und in der Provinz Buenos Aires. Oder sie sind Immigranten aus den noch ärmeren Nachbarländern Bolivien oder Paraguay, oder solche, die den weiten Weg aus Kolumbien oder Peru an den Río de la Plata gemacht haben, um sich am Stadtrand der 15-Millionen-Megalopolis niederzulassen, zwischen streunenden Hunden und Wellblechsiedlungen.
Die brasilianische Wirtschaftskrise hat Argentinien, das mit dem großen Nachbarn im Norden über den Mercosur, den gemeinsamen Markt, verbunden ist, schwer getroffen. Die Arbeitslosigkeit erlebte einen neuen Schub. Offiziell soll sie bei 14 Prozent liegen, in Wirklichkeit sind eher doppelt so viele Menschen ohne feste Arbeit. Und wer einen Job hat, bekommt wenig, 300 oder 500 Pesos im Monat – Peso und Dollar stehen immer noch im Verhältnis 1:1. In einer Stadt wie Buenos Aires, wo die Preise auf europäischem Niveau liegen, ist dies zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig. „Feste Arbeit ist rar, dagegen blüht der informelle Sektor. Die Leute schlagen sich mit Gelegenheitsjobs oder als Straßenhändler durch“, sagt Natalia, die Jura an der Universität Buenos Aires studiert hat und jetzt Ledergürtel und -taschen im Centenario-Park vekauft. Davon kann sie einigermaßen leben, für große Sprünge reicht es nicht. Eine kleine Wohnung im Viertel Villa Crespo, Miete 300 Pesos ohne Nebenkosten, ein Fernseher auf Raten, Futter für die zwei Katzen, einmal Ausgehen im Monat, mehr nicht.
„Früher war die Stadt relativ sicher“, erzählt Natalia. Aber die Armut ist immer schlimmer geworden.“ Nicht nur die Unterschicht ist davon betroffen, mehr und mehr Leute aus der einst für südamerikanische Verhältnisse breiten Mittelschicht fallen durch das soziale Sieb und leben in Armut und Unsicherheit. „Unsere Politiker sind schuld“, sagt Natalias Freundin Graciela, die Räucherstäbchen verkauft. „Die belügen uns nur. Präsident Menem hat das Land in die Hände der Mafia gegeben, die staatlichen Unternehmen an das Ausland verscherbelt.“ Die neoliberale Wirtschaftspolitik von Carlos Menem und seiner Wirtschaftsminister Domingo Cavallo und Roque Fernández war erfolgreich – für die Reichen. Für die Armen und die Mittelschicht hieß das: Rückgang des Realeinkommens, Arbeitslosigkeit, steigende Kriminalität.

Argentinien lateinamerikanisiert sich

„Argentinien hat sich lateinamerikanisiert. Der Mittelstand verschwindet. War Buenos Aires einst eine der sichersten Millionenstädte Lateinamerikas, war die Straßenkriminalität eine Angelegenheit der kleinen Taschendiebe und Trickbetrüger, so sind die Räuber heute schwer bewaffnet“, weiß der Rechtsanwalt Ricardo Rosental. „Dazu kommt die ansteigende Drogenkriminalität.“
Cristian, der aus der nordöstlichen Provinz Missiones stammt, hat eine Arbeit als Kellner gefunden: „In der Provinz gab es keine Arbeit. Meine fünf Brüder und ich lungerten nur herum oder drehten krumme Dinger, kleine Diebstähle oder Drogendeals. Wir waren richtige kleine chorros. „Eduardo Duhalde ist oberster Chef der Provinzpolizei und gleichzeitig einer der wichtigsten Leute im Drogenhandel“, sagt Cristian. Er meint den Gouverneur der Provinz Buenos Aires, der sich für die Präsidentschaftswahlen am 24. Oktober bewirbt. Bis dahin muß Duhalde noch die internen Wahlen der peronistischen Regierungspartei, der Partido Justicialista (PJ), überstehen und gegen Menems Favoriten Ramón Ortega antreten – auch der Ex-Formel-1-Fahrer Carlos Reutemann war zeitweise im Gespräch. Und Menem setzt alle Hebel in Bewegung, um durch einen Beschluß des obersten Gerichts zum dritten Mal antreten zu dürfen. Dann kann sich der Kandidat der PJ erst mit dem Gegenkandidaten messen, dem Bürgermeister von Buenos Aires, Fernando De la Rua, von der eher sozialdemokratisch orientierten Unión Cívica Radical, der ältesten Partei Argentiniens. De la Rua setzte sich in den Vorwahlen des Oppositionsbündnisses Alianza gegen Graciela Fernández Meijide von der Bürgerrechtsbewegung FREPASO durch, Mutter eines während der Militärdiktatur Verschwundenen.

Kein Vertrauen in Politik und Polizei

Natalia, Graciela, Marta, Carolina, Ricardo und Cristian: Sie alle sind für Meijide oder De la Rua. Duhalde schenken sie kein Vertrauen. „Er gibt sich jetzt sozial, eröffnet Schulen und zeigt sich bei jeder Gelegenheit. Aber er ist ein Wolf im Schafspelz“, sagt Natalia. Graciela pflichtet ihr bei: „Die Provinzpolizei ist eine der größten Verbrecherbanden des Landes.“ Die Polizei der Provinz Buenos Aires ist berüchtigt für ihre Korruption und für ihre Skandale: Die Polizei war verwickelt in die Attentate auf die israelische Botschaft 1992 und auf das jüdische Kulturzentrum 1994 mit über hundert Toten, wenn nicht gar selbst Täter und Auftraggeber.
„Wie können wir der Polizei vertrauen, wenn sie selbst kriminell oder zumindest unfähig ist“, mein Natalia. Die Polizei ist zudem hilflos gegen die geballte Explosion der Kriminalität. Eine Hilflosigkeit, die sich in Schießwut ausdrück: Täglich liest man, daß einer der chorros, der Diebe, erschossen worden ist von einem Polizeibeamten. Und das löst Gegengewalt aus: Einem Autofahrer wurde in den Kopf geschossen, als er an einer Kreuzung hielt und sich weigerte, seine Armbanduhr einer Gruppe von Jugendlichen zu geben; dem Gast in einem Café wurde eine tödliche Kugel verpaßt, als er bei einem Überfall selbst zur Waffe greifen wollte.
Nach einer Untersuchung des argentinischen Justizministeriums sind 40 Prozent der Einwohner von Buenos Aires im vergangenen Jahr Opfer von Einbrüchen oder Überfällen geworden. Folge sind Ohnmacht und Resignation. Die Wut vieler Menschen richtet sich nicht nur auf die Regierenden, sondern auf die noch Schwächeren: Die Ausländerfeindlichkeit gegenüber den Einwanderern aus den Nachbarstaaten hat zugenommen – was die Regierung gerne aufgreift. Sie legte kürzlich ein neues Gesetz gegen illegale Immigranten vor. Und die Polizei macht Jagd auf die Illegalisierten. Kriterien sind: dunkle Haut, schwarze Haare und indianisches Aussehen. Die politische Opposition im Parlament hüllt sich in Schweigen. Und Menem sammelte mit seiner harten Linie Pluspunkte im Kampf um eine Verfassungsreform, die vor allem ein Ziel hat: ihm eine erneute Kandidatur zu ermöglichen.
Derweil befassen sich die Medien ausführlich mit dem Thema Kriminalität. Andrea Rodríguez von der neuen kritischen Wochenzeitschrift veintiuno (einundzwanzig), die von dem von Página 12 kommenden Jorge Lanata gegründet wurde, sprach mit dem ehemaligen Chef der New Yorker Polizei, William Bratton, der am Río de la Plata zu Gast war. Sowohl Menem als auch De la Rua liebäugeln mit dem New Yorker Modell der „Nulltoleranz“, das in Nordamerikas Big Apple mitverantwortlich für den Rückgang der Kriminalität war – eine Politik, deren Kehrseite auch eine weit ausufernde polizeiliche Brutalität war.
Bratton antwortete auf die Frage der Übertragbarkeit der „Nulltoleranz“ auf Buenos Aires mit dem Hinweis, daß seine Vorgehensweise nicht umzusetzen sei: „Die Kriminalität sinkt nicht, solange es Korruption bei der Polizei gibt. In New York gibt es keine Gratis-Pizza als Schutzgeld für Polizisten.“ Die Löhne und Gehälter der Polizisten müßten angemessen sein. Bratton vergaß zu sagen, daß der Rückgang der Kriminalität in New York auch am wirtschaftlichen Wiederaufschwung und der verbesserten Arbeitsmarktsituation lag, eine Perspektive, die für argentinische Verhältnisse momentan utopisch scheint.
Marta steht noch unter dem Schock des Überfalls. Zwei Polizisten, die mit heulende Sirene angekommen waren, nehmen desinteressiert die Personalien auf und registrieren den Tathergang. Eine Chance auf Aufklärung besteht nicht. Marta zittert. Nur langsam schöpft sie wieder Kraft, um weiterzuarbeiten. Die ersten Gäste kommen. Sie sagt: „Wir müssen weitermachen. In unserem Land gibt es so viele arme Menschen, denen es an Geld, Bildung und an einer guten Regierung fehlt. Hoffentlich wird es irgendwann mal anders. Am schlimmsten ist die fehlende Aussicht auf Verbesserung.“

Die Bevölkerung schließt sich ein

Ricardo, der Rechtsanwalt, hat den Eingang zu seiner Dachterrasse im Stadtviertel Palermo Viejo mit einem Gitter versehen. Er meint: „Jeder muß damit rechnen, daß er überfallen wird. Wir schließen uns allmählich ein in unseren Wohnungen, leben in einem goldenen Käfig, wie es in brasilianischen Städten schon lange üblich ist. Buenos Aires ist dabei, Rio als gefährlichste Stadt im Mercosur zu überholen.“ Selbstkritisch fügt Ricardo hinzu: „Wir glaubten immer, wir seien eine europäische Exklave auf einem anderen Kontinent. Nun steht Lateinamerika mit all einen Problemen vor der Tür: Willkommen, Lateinamerika.“

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