Bewegung | Nummer 321 - März 2001

Die Internationale der GlobalisierungskritikerInnen formiert sich

Beim Weltsozialforum in Porto Alegre kommt der Aufbau einer „Weltzivilgesellschaft“ voran

Sechs Tage lang verwandelte sich die Katholische Universität von Porto Alegre in eine Hochburg der GlobalisierungskritikerInner. Brasilianische Landlose und Indígenas, afrikanische Intellektuelle, BasisaktivistInnen aus Indien, nordamerikanische UmweltschützerInnen, französische KommunalpolitikerInnen, Feministinnen aus Australien und viele andere versammelten sich zum ersten Weltsozialforum. Workshops, Podiumsdiskussionen und Kulturveranstaltungen wechselten einander ab, und fast alle waren überfüllt.

Gerhard Dilger

Porto Alegre war der – gelungene – Versuch, an die Proteste von Seattle bis Nizza anzuknüpfen. Einig waren sich alle
Beteiligten, dass die derzeitige neoliberale Ausgestaltung der Globalisierung nur im Interesse einer kleinen, aber mächtigen Minderheit liegt. Da aber öffentlichkeitswirksame Proteste allein noch nicht ausreichen, wollte man in Brasilien schwerpunktmäßig an der Formulierung von konstruktiven Alternativen arbeiten – nach dem Tagungsmotto „Eine andere Welt ist möglich“. Diese Überzeugung teilten auch Hunderte von BürgermeisterInnen und ParlamentarierInnen, die zu entsprechenden Veranstaltungen im Rahmen des Forums angereist waren.

Vielfalt der Vorstellungen

Die VertreterInnen von Nichtregierungsorganisationen (NRO) aus aller Welt, die das Gros der offiziellen Delegierten stellten, waren angetan von der Möglichkeit zum Informationsaustausch und zum Diskutieren über das weitere gemeinsame Vorgehen. „Wir haben erlebt, dass wir stärker sind, als wir dachten“, sagte Michael Windfuhr von der Menschenrechtsorganisation FIAN. Zwischen den NROs und den ebenfalls zahlreich angereisten linken AktivistInnen habe eine „erstaunliche Toleranz“ geherrscht. Allerdings mache es diese Art von Pluralismus auch schwer, gemeinsame Positionen zu erarbeiten – etwa bei solch komplexen Themen wie dem Welthandel.
Genau aus diesem Grund versuchten die Veranstalter – acht VertreterInnen brasilianischer Sozialer Bewegungen und NROs – erst gar nicht, die Vielfalt von den Vorstellungen der Anwesenden in einem griffigen Schlussdokument zusammenzufassen. Immer wieder verteidigten sie diese Entscheidung als bewussten Ausdruck des Pluralismus. Abgesehen davon hat die Diskussion in dieser Breite erst begonnen. Einige gemeinsame Forderungen wurden aber auch so deutlich: ein vollständiger Schuldenerlass für alle Entwicklungsländer, die Besteuerung internationaler Finanztransaktionen („Tobin-Steuer“) und die Abschaffung von Steuerparadiesen.

“Dialektik von Innovation und Protest”

Besonders die letztgenannten Punkte sind Herzensanliegen der „Reregularisierer der Weltwirtschaft“ um Bernard Cassen von Le Monde Diplomatique und dem „Netzwerk für eine demokratische Kontrolle der internationalen Finanzmärkte“ (ATTAC). Sie suchen nach „glaubwürdigen Alternativen zum neoliberalen Kapitalismus“ – und das ist Erfolg verspechender als manche Parolen, die der kubanische Parlamentspräsident Ricardo Alarcón, Ahmed Ben Bella aus Algerien oder ein Vertreter der kolumbianischen FARC-Guerilla zum Besten gaben. Auf der ansonsten äußerst harmonischen Abschlussveranstaltung wurden daher die AktivistInnen einer brasilianischen Splitterpartei, die wiederholt Revolutionssprechchöre skandierten, ausgebuht.
Doch allein mit der Ausarbeitung von Alternativkonzepten, die nach und nach auf die Homepage des Weltsozialforums gestellt werden, ist es nicht getan. Der philippinische Soziologe Walden Bello vom Forschungsinstitut Focus on the Global South, Befürworter einer „Deglobalisierung“ im Sinne von Dezentralisierung und Stärkung kultureller Vielfalt, plädierte deswegen dann auch vehement für eine „notwendige Dialektik von Innovation und Protest“.
Was damit gemeint ist, führte geradezu exemplarisch die Landlosenbewegung MST vor. Sie nutzte die Anwesenheit der Weltpresse, um höchst symbolträchtig zwei Hektar Gensoja auf einem Versuchsgelände des Agrarmultis Monsanto, im Hinterland von Porto Alegre zu zerstören. Mit von der Partie: der französische Bauernsprecher José Bové, dessen Buchtitel Die Welt ist keine Ware zu den meist zitierten Slogans des Weltsozialforums avancierte. Dass die brasilianische Regierung den französischen Aktivisten mit Ausweisung bedrohte, konnte er als weiteren Publicity-Erfolg verbuchen.

Wirtschaftliche Selbstbestimmung

Zuvor hatten Vertreter von 30 der insgesamt 77 Ländersektionen, die im Bauern-Dachverband Vía Campesina zusammengeschlossen sind, in Porto Alegre intensiv an einer weiteren Vernetzung gearbeitet. Geplant ist ein erster weltweiter Aktionstag gegen Gentechnik. Am 17. April sollen, ebenfalls grenzübergreifend, Straßen, Häfen und Schienen blockiert werden, um gegen Agrarimporte zu protestieren. Einig sind sich die Bauernsprecher, wie zum Beispiel João Pedro Stedile von der MST, in ihrer Forderung, dass die Landwirtschaft auf die internen Märkte ausgerichtet werden solle, um den Hunger zu beseitigen. Diese Art der Produktion solle subventioniert werden, nicht aber der Export von Agrargütern. Handelsabkommen sollten nicht unter dem Dach der Welthandelsorganisation WTO geschlossen werden. Unverzichtbar seien außerdem umfassende Agrarreformen in den Ländern des Südens. Diese und ähnliche Forderungen nach „wirtschaftlicher Selbstbestimmung“ kristallierten sich im Laufe des Forums auch als weiterer Grundkonsens der Anwesenden heraus.
Beispielsweise in der Kritik an genmanipulierten Lebensmitteln sieht Marco Aurélio Weissheimer vom brasilianischen Organisationskomitee ein Paradebeispiel dafür, wie ganz unterschiedliche Gruppen aus Nord und Süd zusammengeführt werden könnten – Bauern, UmweltschützerInnen und VerbraucherInnen. Bernard Cassen verglich das Forum mit einer „Nullnummer“ im Zeitungsgeschäft – aus den jetzigen Erfahrungen müssten nun die richtigen Schlüsse gezogen werden. So könnten unter den Delegierten und den HauptrednerInnen des kommenden Forums sicher noch mehr RepräsentantInnen der weltweiten Basisbewegung gegen den Neoliberalismus sein.
Zu schwach vertreten waren diesmal noch Mittel-, Nord- und Osteuropa, Asien und Afrika und ganz allgemein der angloamerikanische Kulturkreis, ebenso GewerkschafterInnen und UmweltschützerInnen. Etwas zu häufig hingegen vernahm man linke Gewissheiten, deren innovatives Potenzial zu wünschen übrig lässt. Zudem wartet auf die Organisatoren die Herausforderung, die Podiumsdiskussionen noch besser zu besetzen und gleichzeitig demokratischere Spielregeln einzuführen: Vorabverteilung der Hauptreferate, Möglichkeit zu direkten Beiträgen aus dem Publikum, dafür eine etwas straffere thematische Bündelung der diesmal über 400 Workshops.
Auch über die notwendige Polarisierung gegenüber dem Weltwirtschaftsforum in Davos (siehe Kasten) wird man künftig hinausgehen müssen. „Das Weltsozialforum war vor allem eine Antithese zum reinen Liberalismus“, so eine Vertreterin von Global Citizen, einer US-amerikanischen NRO, die sich auf die Kritik an der Welthandelsorganisation spezialisiert hat. „Die Synthese wird folgen.“ Ähnlich sieht das der französische Philosoph Edgar Morin. Noch sei in Porto Alegre keine „zivilisatorische Politik für die Weltgesellschaft“ formuliert worden. Andererseits beginne sich auf der Gegenseite das „Einheitsdenken zu pluralisieren“, das „Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Regulierung der Weltwirtschaft“ habe selbst in Davos Einzug gehalten. Er hofft auf eine produktive „Dialektik der Antagonismen“, ähnlich wie jene zwischen Arbeit und Kapital, die in Westeuropa zum Wohlfahrtsstaat geführt habe. Diesmal gehe es aber darum, einen ähnlichen Ausgleich auf globaler Ebene herbeizuführen, kurz: „die Erde zu zivilisieren“.

Weitere Informationen:
http://iota.procergs.com.br/forumsm/home.asp;
www.mondediplomatique.fr/dossiers/portoalegre;
www.forumsocialmundial.org.br
(Weltsozialforum);
www.focusweb.org (Forschungsinstitut Focus on the Global South).

KASTEN

Anti-Davos im Süden

Seit 1971 treffen sich beim Weltwirtschaftsforum in Davos alljährlich Manager, Banker und Staatschefs zum Gedankenaustausch. Im letzten Jahr hatte der brasilianische Unternehmer Oded Grajew, 56, die Idee zu einer Gegenveranstaltung. Leitgedanke: „Die Wirtschaft muss im Dienst der Menschen stehen und nicht umgekehrt.“ Einen begeisterten Mitstreiter fand er im Journalisten Bernard Cassen aus Paris, der als Tagungsort Porto Alegre vorschlug. Die südbrasilianische Millionenstadt wird seit zwölf Jahren von der Arbeiterpartei PT regiert und gilt weltweit als Vorreiterin einer bürgerorientierten Kommunalpolitik.
Vom 25. bis zum 30. Januar war es so weit: Während in den schweizer Bergen das Weltwirtschaftsforum tagte und erneut mit heftigen Protesten konfontiert wurde, diskutierten, demonstrierten und feierten in Porto Alegre 4.700 Delegierte und über 10.000 zusätzliche TeilnehmerInnen aus über 120 Ländern. Der gewünschte Kontast zu Davos stellte sich ein – etwa in der Berichtserstattung der großen französischen oder brasilianischen Zeitungen. Eine transatlantische Videoschaltkonferenz geriet zum polemischen Schlagabtausch zwischen Protagonisten aus Porto Alegre und dem Großspekulanten George Soros, zwei UNO-Beamten und einem schwedischen Unternehmer, die am Weltwirtschaftsforum teilnahmen (siehe www.madmundo.tv).
2002 kommt es – wieder parallel zu Davos – zu einer Neuauflage des Sozialforums in Porto Alegre, vielleicht mit kleineren Parallelveranstaltungen auf anderen Kontinenten. Für 2003 wird ein neuer Tagungsort gesucht.

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