Bolivien | Nummer 487 - Januar 2015

Die leere Hülle des Gesetzes

Trotz politischer Maßnahmen bleibt die Lage der Frauen in Bolivien dramatisch – Zwei Aktivistinnen schildern das strukturelle Problem

Die Gewalt gegen Frauen in Bolivien ist in den vergangenen Jahren dramatisch angestiegen. Die Straflosigkeit bleibt trotz neuer Gesetze hoch. Die LN sprachen mit Andrea Flores Tonconi und Eliana Quiñones Guzman über die strukturellen Gewaltursachen sowie Grenzen der bisherigen staatlichen Maßnahmen gegen Feminizide, der Tötung von Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht.

Interview: Evelyn Linde

Vergangenen November sind in La Paz und Cochabamba besonders grausame Feminizide begangen worden: Eine Frau wurde von ihrem Mann zu Tode geschlagen, eine andere geviertelt. Dies ist aber nur die Spitze des Eisbergs, oder?
Eliana Quiñones: Seit Anfang 2013 bis November 2014 wurden laut des Informations- und Entwicklungszentrums der Frau (CIDEM) 206 Frauen ermordet, davon 96 dieses Jahr. Im März 2013 trat das Gesetz 348 in Kraft, das Frauen ein gewaltfreies Leben garantieren soll. Trotzdem wurden bis Mitte November bisher nur acht Morde an Frauen verurteilt! Wir sehen, wie die Gewalt anhält und durch die Straflosigkeit noch verschärft wird. Das ist empörend, denn die Gewalt wird normalisiert und naturalisiert. Laut einiger Medien wird die Gewalt erst jetzt sichtbar gemacht, aber im Namen der Sichtbarmachung wird sie zugleich normalisiert. Zu den letzten Fällen: Frauen protestierten empört auf der Straße – aber dann vergeht nur eine Woche und ein achtmonatiges Baby wird zu Tode vergewaltigt. Die Fälle erscheinen als Schlagzeilen in der Presse, aber es fehlt eine tiefgehende Analyse, warum das alles wirklich passiert.

Und warum gibt es diese horrende Gewalt gegen Frauen Ihrer Meinung nach?
Eliana Quiñones: Die Gewalt gegen Frauen ist ein Produkt der Krankheit des Patriarchats und der Objektivierung der Frau. Es gibt die Annahme, eine Frau könne zu Tode geschlagen werden oder gevierteilt werden, weil sie nichts wert sei.
Andrea Flores: Die genannten Zahlen erfassen längst nicht alle Fälle. Unsichtbar bleiben Frauen, die auf dem Land und in den Vorstadtgebieten vergewaltigt und getötet werden. Es fehlt der politische Wille, das zu sehen. Die Forensiker kommen zum Beispiel erst zwei Tage nach dem Tod einer Frau. Hier müsste die Politik ansetzen. In unserer langjährigen Arbeit auf dem Land haben wir beobachtet, dass viele Gewalttaten, die früher unsichtbar waren, nun publik gemacht werden. Die Gewalt steigt aber auch immer weiter an. Jetzt werden Anklagen erhoben – aber die Anklagenden haben Angst und sind ohne Gewissheit, ob der Staat reagiert. Die gewalttätigsten sind die Militärs und Polizisten. Man muss an das Bewusstsein der Regierung appellieren.

Sie arbeiten auch zur Problematik des Menschenhandels. Wie ist die Situation in Bolivien?
Andrea Flores: Der Menschenhandel ist kein sichtbares Thema. Eine Frau geht aus dem Haus und kommt nicht wieder. Es gibt Zeitungsartikel und dann passiert nichts mehr. Es gibt keine Informationen, sie verschwinden.
Eliana Quiñones: Es ist ein schwerwiegendes Problem! Der Menschenhandel ist in den letzten fünf Jahren um 96 Prozent gestiegen, in der Mehrheit sind Frauen und Kinder betroffen. In Bolivien verschwindet pro Tag eine Frau! Sie sind Opfer von Organhandel, Zwangsarbeit, oder, in den meisten Fällen, von sexueller Ausbeutung. Und wieder zeigt sich die Straflosigkeit. Von all en Fällen, die angezeigt wurden, wurde bis heute kein einziger aufgeklärt. Grund hierfür ist, dass die Mehrheit der Frauen aus der Provinz und aus den Grenzgebieten stammt – das ist eine überaus verletzliche Gruppe. In tausenden Fällen verschwinden die Unterlagen irgendwo bei der Polizei – und mit den Unterlagen verschwindet auch das Leben der Betroffenen vollkommen.

Die Straflosigkeit lässt an den neu verabschiedeten Gesetzen zweifeln.
Andrea Flores: Die neuen Gesetze sind sehr schön. Aber wenn die Gesellschaft sie nicht kennt, bringen sie nichts. Es ist unsere Aufgabe, uns der Gesetze zu bemächtigen und Strategien zu suchen, wie sie angewandt werden. Ansonsten wäre ein großer Aufwand für Gesetze verschwendet, die nur auf dem Papier stehen. Es muss einen Wandel geben, sowohl beim Staat, der die Umsetzung der Gesetze wollen muss, als auch bei uns Frauen.
Eliana Quiñones: Der Staat gibt uns Gesetze, die das Grundproblem nicht lösen. Stattdessen sind sie darauf ausgerichtet, die Frauenbewegung, die auf die Straße geht, verstummen zu lassen. Der Staat mach sich beispielsweise durch die Straflosigkeit zum Mittäter und trägt Verantwortung für die steigende Gewalt. Die Gleichgültigkeit der staatlichen Organisationen, des Gesundheitssystems, der Schulen, der Polizei, und auch der Familie spielen da hinein. Ein sicheres, gewaltfreies Leben wird somit unmöglich gemacht: Du gehst zum Arzt und wirst nicht behandelt, gehst zur Polizei und wirst schuldig gemacht, gehst in die Kirche und wirst verurteilt – die patriarchale Mentalität ist totaler Komplize.

Welche Reaktionen sind in der Gesellschaft zu beobachten?
Eliana Quiñones: Nach den Vorfällen gab es Demonstrationen, was ich sehr wichtig finde. Denn sie verleihen der Wut und Empörung Ausdruck. Aber die Mobilisierungen dürfen nicht nur konjunkturell sein und für die einzelnen Fälle Gerechtigkeit einfordern. Das ist zwar auch wichtig. Aber darüber hinaus müssen sie die Gesellschaft zu einer tiefgehenden Reflexion über das patriarchale System und die machistische Mentalität im Alltag bewegen. Sonst wird sich nichts ändern. Es muss Druck auf alle Institutionen ausgeübt werden, bis hin zur Meinung des Präsidenten selbst: Die sexistischen Äußerungen und Handlungen der ‚unanfechtbaren Autoritäten‘ dürfen nicht toleriert werden. Die Mobilisierung muss also größer werden, muss denunzieren, aber auch ihre Kritik vertiefen, um die Realität zu verändern. Denn wenn nicht, scheint es so, als ob die Genossinnen und Frauen nur bestimmte Fälle beklagen würden, und nicht mehr.

In Reaktion auf die Fälle Anfang November 2013 wurde in Cochabamba ein Alarmzustand erklärt. Viele Organisationen forderten die Ausrufung des Zustands auf nationaler Ebene. Die Polizei hat den Notzustand erklärt, was bedeutet, dass sie nun sofort auf Anzeigen reagieren will; außerdem wurden kostenlose Hotlines zur Anzeige von Gewalt gegen Frauen in La Paz, El Alto, Cochabamba und Santa Cruz eingerichtet. Sind das erste Schritte zu Veränderungen?
Eliana Quiñones: Das waren Reaktionen auf Forderungen von Organisationen, aber sie verändern strukturell nichts. Außerdem mussten immer erst sehr, sehr blutige Taten geschehen, damit etwas passiert. Beispielsweise wurde das Gesetz 348, das jahrelang auf Eis lag, erst verabschiedet, nachdem eine Journalistin ermordet worden war.Damals sind viele Frauen auf die Straße gegangen und daraufhin, so meine Meinung, wurde das Gesetz verabschiedet, um zu demobilisieren. Aber das Gesetz wird nicht umgesetzt. Die Verantwortlichen sind nicht geschult. Sie wissen nicht, wie sie mit Frauen, die in Gewalt leben, umgehen sollen und verstärken die Gewalt zusätzlich. Dann kommt es zu Vorfällen wie Anfang November und Gesetze werden verschärft oder erweitert, aber das ändert nichts an der gleichen Mentalität. Eine kostenlose Hotline ist keine Strategie, um die machistische Mentalität zu verändern, sondern um zu demobilisieren. Wir sehen, wie die Gewalt gegen Frauen angestiegen ist und das in einem Staat, der sich vermeintlich in einem Prozess des Wandels und der Depatriarchalisierung befindet.

Bei den nationalen Wahlen im vergangenen Oktober wurde im Parlament zum ersten Mal die Geschlechterparität erreicht, 51 Prozent der Abgeordneten sind Frauen. Steht das nicht im Widerspruch zu der erlebten Gewalt?
Andrea Flores: OMAK (Organisation der Aymara-Frauen von Kollasuyo, siehe Infokasten; Anm. d. Red.) hat mit vielen anderen Organisationen und Frauen bei diesen Wahlen für die 50-50-Quote gekämpft. Leider sind die Frauen, die ins Parlament eingezogen sind, von Männern aufgestellt worden. Die Politiker haben Angst vor Frauen, die widersprechen. Die Frauen im Parlament sollen schweigend alles akzeptieren. Es ist ein herausfordernder Kampf – aber ich habe noch die Hoffnung, dass die Frauen sich befreien können und Wandel bewirken. Aber diese Frauen werden ihre Arbeit verlieren und leiden. Wir Organisationen müssen deshalb auch von außen dafür kämpfen, dass Parität und Gleichheit im Staat umgesetzt werden. Die materielle Basis muss ebenfalls thematisiert werden. Eine arme oder finanziell abhängige Frau wird sich lieber still verhalten, als auf die Einnahmen zu verzichten. Deswegen haben wir ökonomisch-politische Strategien entwickelt, um eigene Ressourcen und eine starke Position im Kampf zu haben.
Eliana Quiñones: Die weiblichen Abgeordneten werden instrumentalisiert, sie partizipieren innerhalb der Struktur eines patriarchalen, maskulinen Staats. Sie partizipieren unter dessen eigenen Logiken und dessen eigenen Gewaltformen, und so verwandeln sich die Abgeordneten in Verbündete des patriarchalen Systems. Ein Beispiel aus vielen: In der Regierung sind Männer wie zum Beispiel jener Senator, der erzählt, dass Frauen lernen müssen, wie sie sich benehmen und kleiden, damit sie nicht vergewaltigt werden. Wer hat ihn hinterfragt und kritisiert? Keine.
Die 50-50-Quote funktioniert noch nicht, denn wir Frauen fühlen uns von denen im Parlament nicht repräsentiert. Warum? In diesem Parlament wirst du keine subversive Frau finden, die frei ist und widerspricht. Die werden rausgeschmissen. Eine andere Basisbewegung ist notwendig.

Mehr Infos: www.coordinadoradelamujer.org.bo

Andrea Flores Tonconi
ist Präsidentin der Organisation der Aymara-Frauen von Kollasuyo (OMAK) mit Sitz in El Alto. Die Organisation unterstützt in Zusammenarbeit mit Gemeindeautoritäten indigene Frauen dabei, sich an lokalen Entscheidungsprozessen zu beteiligen und die Rechte der Frauen zu stärken.

Eliana Quiñones Guzman
ist Mitglied des Kollektivs Libertärer Frauen Imillas. Das Kollektiv setzt sich besonders für die Rechte und den Schutz junger indigener Frauen ein.

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