Nummer 416 - Februar 2009 | Sachbuch

Die Macht der Erinnerung

Das 32. Lateinamerika-Jahrbuch befasst sich mit Vergangenheitsbewältigung

Valentin Schönherr

Noch ist ein Jahr Zeit, aber schon jetzt ist absehbar: Das Jahr 2010 wird für Lateinamerika ein Super-Gedenkjahr. Von Chile bis Mexiko stehen die Zweihundertjahrfeiern der ersten Unabhängigkeitserhebungen an, und da der endgültige Erfolg in manchen Ländern bis 1824 auf sich warten ließ, müssen wir uns auf einen wahren Gedenkmarathon gefasst machen. Damit nicht genug: Im November 2010 jährt sich der Ausbruch der Mexikanischen Revolution zum hundertsten Mal, und auch die hat einige Jahre gedauert.
Es wäre nun ein Wunder, wenn nicht viele politische Akteure versuchen würden, diese historischen Referenzpunkte für sich auszuschlachten, den einen oder anderen Aspekt dieses oder jenes Freiheitskämpfers herauszuklauben und zu behaupten, das sei ein Vorläufer des eigenen Projekts und wenn die politischen Gegner ihn auch für sich beanspruchten, sei das übler Missbrauch.
Dass das Jahrbuch Lateinamerika sich in seinem 32. Jahrgang dem Thema „Erinnerung“ widmet, ist (nicht nur) von daher eine gute Entscheidung. Auch wenn der Schwerpunkt auf anderen inhaltlichen Themen liegt – es geht vorrangig um das Erinnern an Militärdiktaturen und andere Gewalterfahrungen – ist das Problem doch dasselbe: der Umgang mit Geschichte ist „ein offener Prozess (…) in dem permanent um Deutungshoheit und gesellschaftliche Macht gerungen wird“. Insofern trifft der Titel erinnerung macht geschichte, auch wenn das zweideutige „macht“ etwas abgegriffen sein mag, ins Schwarze.
Wenn Geschichtsdeutung auch eine Machtfrage ist, bedeutet das noch lange nicht, dass die von der Macht Ausgeschlossenen automatisch mit ihren Vereinnahmungen Recht haben. Dass aber die Mächtigen tendenziell eher Missbrauch betreiben, liegt auf der Hand: Sie sitzen, was das Bereitstellen von Artikulationsmöglichkeiten anbelangt, am längeren (oder am einzigen) Hebel.
Vorreiter einer intensiven und vor allem auch in der Öffentlichkeit breit akzeptierten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist Argentinien. Dem wird dadurch Rechnung getragen, dass stattliche fünf Beiträge in diesem Jahrbuch ganz oder überwiegend vom Umgang mit der argentinischen Militärdiktatur (1976-83) handeln.
An der Frage der Gedenkstätten wird deutlich, wie bedeutsam es ist, ob Regierung und staatliche Institutionen das öffentliche Erinnern fördern oder nicht. Denn die Aufhebung der Amnestiegesetze unter Präsident Néstor Kirchner (2003-07), aufgrund derer die meisten Diktaturverbrechen unbestraft geblieben waren, fand zwar in den europäischen Medien ein großes Echo. Weitgehend unbeachtet blieb hingegen, dass in seiner Regierungszeit eines der größten Folterzentren, eine „der wichtigsten Koordinaten im durchgeplanten System des ‚anti-subversiven Kampfes‘“, zur Gedenkstätte umfunktioniert worden ist: die ESMA (Escuela Superior de Mecánica de la Armada). Aus deutscher Perspektive fällt erst auf den zweiten Blick auf, dass dies sensationell war. Ist es doch hierzulande normal, dass Orte von Diktaturverbrechen umgewidmet werden. Hier aber musste die argentinische Marine das Gelände räumen.
Annette Nana Heidhues berichtet in ihrem Beitrag von der Umwandlung der ESMA und vergleicht diesen Vorgang mit anderen, ebenfalls neu als Gedenkstätten genutzten Orten des Diktaturverbrechens. Auf dem Höhepunkt ihres äußerst lesenswerten Beitrags zeichnet sie die Diskussion nach, die sich nun über die Nutzung der ESMA-Gedenkstätte entsponnen hat. Partiell rekonstruieren? Mit Informationstafeln ausstatten und ansonsten sich selbst überlassen? Oder das Gelände zu einem Veranstaltungs- und Bildungszentrum umgestalten? Die offene Debatte selbst wird zum „Denkmal“ für die Opfer der Diktatur, eine Debatte, die in einem 2005 von Marcelo Brodsky herausgegebenen Band (Memoria en construcción. El debate sobre la ESMA, Verlag la marca) dokumentiert worden ist.
Wie sehr die gesellschaftliche und politische Nichtanerkennung das Erinnern an Gewaltverbrechen behindern kann, zeigt ein Beitrag von Anne Becker und Olga Burkert. Unter dem Titel Hijos argenmex stellen sie die Versuche von Opferkindern aus Argentinien und Mexiko einander gegenüber, in der Öffentlichkeit Gehör zu finden: In Mexiko stoßen die hijos (Söhne und Töchter) auf taube Ohren. Warum gerade in Mexiko, dem einzigen großen lateinamerikanischen Land, dem im 20. Jahrhundert eine Militärdiktatur erspart geblieben ist? Eben deshalb, wegen des vergleichsweise positiven Images. Die Aufnahmebereitschaft für chilenische Flüchtlinge unter Präsident Echeverría (1970-1976), die stabilen Beziehungen zu Kuba, als das restliche Lateinamerika die Kontakte abgebrochen hatte, das lässt die 3000 Opfer im Anti-Guerilla-Kampf gern übersehen. Das Thema war und wird verdrängt, und wo eigentlich an die Vorgänge erinnert und der Opfer gedacht werden sollte, muss zunächst einmal informiert werden.
Wiederum aus Argentinien kommen erste Überlegungen von ehemaligen Guerilleros und Guerilleras der Montoneros, das eigene Handeln kritisch in den Blick zu nehmen. Vielleicht hat die öffentliche Anerkennung der Diktaturopfer den Weg dafür geebnet. Pilar Calveiro, eine ehemalige Montonera, spricht mit Anne Huffschmid über dieses heikle Thema, das reichlich Treibstoff für die Selbstrechtfertigungsstrategien der Rechten zu bieten droht. So bleibt Calveiro sehr vorsichtig und spricht zunächst einmal die Morde an, die die Guerillagruppen an tatsächlichen oder vermeintlichen Gegnern verübt haben: Man müsse „die Möglichkeit haben, das als mögliche Praxis des Politischen zu verwerfen“. Wer so formuliert, fühlt sich wohl von vielen Seiten angegriffen.
Ein Jahrbuch muss nicht auf Vollständigkeit bedacht sein, dennoch schmerzen die vielen Lücken. Nur knapp wird über Peru (Wahrheitskommission) berichtet, und man liest nichts über (zum Beispiel) Kolumbien, Kuba, Brasilien, El Salvador oder Nicaragua. Die vielen Argentinienbeiträge zeigen zugleich, dass systematische Länderbeiträge nicht unbedingt besser gewesen wären, denn die Komplexität, in der Argentinien durch die verschiedenen Artikel erscheint, ist äußerst interessant. Aber auch die Texte über den chilenischen „11. September“ (Stefan Rinke), über Hugo Chávez und Simón Bolívar (Karin Gabbert) oder über die überraschend positiven Auswirkungen des Interamerikanischen Menschenrechtssystems (Ruth Stanley) helfen weiter. Bleibt anzumerken, dass man vom Korrektorat wenigstens erwartet hätte, die betonungsrelevanten Akzente im Spanischen richtig zu setzen, und auch der eine oder andere Auswuchs soziologischen Jargons, insbesondere bei dem bedrückenden Text zu den Opferkindern in Argentinien und Mexiko, hätte noch in verständliches Deutsch gebracht werden können.
Das einleitende Editorial endet mit dem umgekehrten Titel: „gegenwart macht erinnerung“. Wird dies als der Anspruch gedacht: Es hängt auch von uns ab, woran und wie man sich erinnert!, dann darf man sich diesen instruktiven Band nicht entgehen lassen.

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