Identität | Nummer 315/316 - Sept./Okt. 2000

Die Mapuche finden ihre Sprache wieder

ntegration ohne Assimilation – Modell für Chiles größte ethnische Minderheit?

Viel spricht dafür, dass Pinochets Chile unter dem Motto „Wir sind alle Chilenen. Es gibt keine Indianer“ immer weniger der Realität entspricht. Denn der Ruf der Mapuche nach Anerkennung und Selbstbestimmung wird, trotz einer Vielzahl von Identitäten in den eigenen Reihen, immer lauter.

Tanja Rother

Wenn Sie Chilene sind, be-
trachten Sie sich als zugehörig zu einer der folgenden Kulturen ?“ So lautete die Frage nach der ethnischen Zugehörigkeit bei der letzten Volkszählung 1992. Mögliche Antworten: „Mapuche, Aymara, Rapa Nui oder keine der genannten“. Sind also alle Chilenen, einige jedoch ein bisschen anders? Die Volkszählung, die nach 1929 erstmals wieder nach der ethnischen Selbstbezeichnung fragte, ergab die Zahl von knapp einer Million Mapuche (über 14 Jahre), womit die größte indigene Gruppe Chiles immerhin etwa 10 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Dies überraschte, verstand sich Chile doch immer als ein Land der Weißen, in dem die Frage der ethnischen Minderheiten kaum relevant schien.
Bis 1881, bis zur so genannten „Befriedung der Araucanía“, führte das Volk der Mapuche praktisch ein eigenständiges Leben. Natürlich veränderte sich ihre Kultur auch schon während des drei Jahrhunderte langen Krieges gegen die Spanier bzw. Chilenen, nur setzte mit der endgültigen militärischen Unterwerfung eine systematische Indígenapolitik ein, die noch bis vor kurzem vor allem auf die Negation der Indianervölker Chiles abzielte.
Die Mapuche, die sich traditionell vor allem über eine enge Verbundenheit zur „Erde“ (mapu) definieren, sehen sich heute, durch die argentinisch-chilenische Grenze geteilt, im Konflikt zwischen dem Anpassungsdruck an die „moderne“ chilenische Gesellschaft und ihrer indigenen Tradition, die immer mehr Mapuche bewusst lebendig erhalten wollen.
„Zuerst war ich dagegen, weil ich nicht wollte, dass meine Kinder so leiden wie ich gelitten habe“, kommentiert ein Mapuche die Einführung des zweisprachigen Unterrichts an der Schule seiner Kinder. Wie er stehen auch andere Eltern der Gemeinde Piedra Alta in der IX. Region, der Araucanía, dem neuen interkulturellen Bildungsprogramm, das vom Bildungsministerium in Zusammenarbeit mit der Indígenabehörde CONADI und der Universidad Católica in Temuco entwickelt wird, eher skeptisch bis ablehnend gegenüber. Der chilenische Staat versucht hiermit den Anschluss an ein pluralistisches Bildungsmodell zu finden, das beispielsweise in Peru und Bolivien schon seit den Siebzigerjahren diskutiert und praktiziert wird. Nur die Betroffenen selbst sind von diesem Programms nicht sehr überzeugt. Ein gutes Spanisch halten die meisten für wichtiger, sollen doch ihre Söhne und Töchter in der chilenischen Gesellschaft bessere Lebens- und Arbeitschancen als sie haben. Die eigene Sprache, das Mapudungun (Mapu=Erde, Dungun=Sprache), zu pflegen und Traditionen, Werte und Normen der Mapuche lebendig zu halten ist eher ein Hindernis für die Mapuche, die sich „chilenisieren“ und es wirklich „zu etwas bringen“ wollen. Nur so glauben sie sich vor der Diskriminierung und Intoleranz schützen zu können, die ihnen außerhalb ihrer Gemeinschaft entgegenschlägt.

Die heutigen Mapuche
sind Städter
Für viele junge Mapuche ist die vielversprechendste Variante auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand, in die Städte zu gehen. 1992 lebten bereits 80 Prozent aller Mapuche in Städten, insbesondere im Großraum Santiago. Auch dort gehören sie zu den marginalisierten Gruppen, sie wohnen in den Randbezirken, sind meist nur schlecht ausgebildet und haben eher einfache, unterbezahlte Jobs. So machen die Mapuche in der Bäckerbranche Santiagos 60 bis 70 Prozent der Angestellten aus; Mapuchefrauen arbeiten häufig als Dienstmädchen oder Putzfrau.
Auf dem Weg vom Land in die Stadt passen sich die meisten Mapuche an die nicht indigene chilenische Gesellschaft an und bauen auf diese Weise Schutzmechanismen gegen den alltäglichen Rassismus auf. Sie kleiden sich nicht mehr traditionell, manche legen ihre Mapuche-Namen ab, andere distanzieren sich – vielleicht nur vorübergehend – von ihren Familien.
Die Alternative zur Assimilierung ist, sich nach außen abzuschotten, wodurch in manchen Vierteln eine fest in sich geschlossene Subkultur entstanden ist. Beispiel dafür sind die Mapuche-Bäcker, die nach der täglichen Lohnauszahlung zu einem fast ritualhaften Trinken zusammenkommen. Aber auch Feste und Traditionen, die selbst auf dem Land nicht mehr gepflegt und gefeiert werden, leben wieder auf. Einige machis (traditionelle Heilerinnen), heutzutage die zentralen Trägerinnen und oft auch Sprecherinnen der Mapuchekultur, kommen regelmäßig vom Land in die Stadt und behandeln mit ihren überlieferten Heilmethoden nicht mehr nur ausschließlich Mapuche.
Die sozialen, politischen und kulturellen Mapuche-Organisationen haben ihren Sitz in der Regel in den Städten, ihr zentrales Thema jedoch ist die Landfrage. 1979, als Pinochet die Aufteilung des gemeinsamen Landbesitzes der Mapuchegemeinschaften anordnete und dort das Privateigentum an Boden erzwang, erhielt die Mapuche-Bewegung starken Auftrieb. Heute ist sie ein Konglomerat zahlreicher Organisationen mit Konzentration in Temuco, der heimlichen Hauptstadt der Mapuche. Allerdings wird die Arbeit selbst in den wichtigsten Fragen durch die Spaltung innerhalb der Indígenabewegung erschwert. Die Trennung verläuft zwischen den extremen, nach Autonomie strebenden Gruppierungen und den gemäßigteren Initiativen der „kleinen Schritte“, die im Dialog mit dem chilenischen Staat und der Gesellschaft eine Verbesserung für ihr Volk erreichen wollen. Natürlich besteht auch eine Kluft zwischen der indigenen Elite, also der wenigen, die es in der Stadt zu höherer Ausbildung und einer besseren wirtschaftlichen Situation gebracht haben, und der „Basis“, wo manche ums nackte Überleben kämpfen müssen. Und von der allgemeinen Spaltung der chilenischen Gesellschaft in ein rechtes und ein linkes Lager bleibt auch das Volk der Mapuche nicht verschont.
Trotz der Skepsis, die den Mapuche oft entgegenschlägt, hat das gewachsene Engagement erreicht, dass sich das Bewusstsein der Mapuche als Ärmste unter den Armen und als eigenständige kulturelle Gruppe in der chilenischen Gesellschaft verändert hat. Der Wunsch nach Veränderung ist vielerorts zu spüren, auch wenn sie wegen der Uneinigkeit nur langsam an Fahrt gewinnt. Hinzu kommen die kulturellen Unterschiede innerhalb des Mapuchevolkes, das sich aus vier verschiedenen Gruppen zusammensetzt. Die verschiedenen Lebensräume der Huilliche, Pehuenche, Lafkenche und Mapuche bewirken nicht nur eine Differenzierung des Mapudunguns, sondern beinhalten ebenso eine andere Geschichte und Gegenwart.
Hinderlich bei der Suche nach einem neuen inneren Zusammenhalt ist jedoch auch und insbesondere der chilenische Staat, der erst langsam die überkommene Repressionspolitik zu lockern scheint.

Schlechter als ihr Ruf –
Chilenische Indígenapolitik
Die Indígenapolitik Chiles ähnelt einem schlechterzogenen Kind: Ist Besuch da, sprich: die Weltöffentlichkeit, gibt sie sich lieb, also modern, offen und pluralistisch, der multikulturellen Idee im Zuge der Globalisierung zugewandt; ist man unter sich, spielt sie jedoch wie gehabt mit den alten Werkzeugen der Gleichmachung.
Gerade beim interkulturellen Bildungsprogramm, das in Chile anders als in anderen Ländern nicht aus der Indígenabewegung hervorging, sondern Teil der staatlichen Politik ist, wird deutlich, wie der Staat seine Dominanz wahrt. Ziel des Programms sind, wie es das Indígena-Gesetz von 1993 vorschreibt, die Anerkennung und Rettung der indigenen Kultur und Identität. Die Mapuchekinder sollen deshalb lernen, die positiven Elemente aus der eigenen und der chilenischen Kultur miteinander in Einklang zu bringen. Anwendung findet der neue Lehrplan allerdings nur in den so genannten „Entwicklungsgebieten“, ländlichen Regionen mit sehr hohem Anteil an indigener Bevölkerung. Interkulturalität zu erlernen wird also auf die Indígenas abgeschoben und nicht als Aufgabe für die gesamte Gesellschaft behandelt.
Das halbherzige Programm birgt weitere Widersprüche in sich. Die Kinder lernen das Mapuche-Verständnis von der Erde als dem Mittelpunkt ihrer Kultur kennen, sie müssen aber später oft aus ihrer Heimat abwandern, weil ihr Landbesitz nicht zum Überleben aller ausreicht und durch die Ausbeutung der Naturressourcen im großen Maßstab, wie beim Staudammbau am Oberlauf des Bío-Bío-Flusses und der systematischen Rodung des ursprünglichen Waldes durch Forstkonzerne, weiter eingeschränkt wird. Ebenso fehlt es an geeignetem Lehrmaterial und vor allem Personal. Einen Gewinn aus dem Förderprogramm können die Mapuche deshalb bisher nur durch Improvisation und Eigeninitiative ziehen.
In Chiles nicht indigener Öffentlichkeit hingegen ist von den Mapuche kaum die Rede. Verrufen als flojos y borrachos, faul und besoffen, werden Rückständigkeit und Passivität mit ihnen assoziiert. In den allgemeinen chilenischen Schulbüchern ist von den Araucanos, den Ureinwohnern auf dem heutigen Staatsgebiet, nur in der Vergangenheitsform die Rede.
Allenfalls als Stimmvieh werden sie interessant, so im Wahlkampf 1999, als der ultrarechte Präsidentschaftskandidat Joaquín Lavín sich bei den Mapuche in deren Tracht zeigte und an traditionellen Tänzen teilnahm. Mit Erfolg: In der IX., der “Mapuche-Region” gewann er mit Abstand die Mehrheit, ganz im Gegensatz zum allgemeinen Kopf-an-Kopf-Rennen gegen den Links-Kandidaten Ricardo Lagos.

Suche nach
gemeinsamer Sprache
Mit dem Ziel, eigene Wege innerhalb des chilenischen Staates zu gehen — integriert, aber nicht assimiliert —, suchen engagierte Mapuche verstärkt nach Handlungsmöglichkeiten. So auch im Oktober 1999, als sich in Temuco Vertreter von Mapuche-Gemeinschaften, der Universität und staatlicher Institutionen trafen, um sich über „Entwicklung und Selbstbestimmung des Mapuchevolkes“ zu beraten. Im Vordergrund stand dort, die Mapuche endlich als eigenständiges Volk anzuerkennen und ein Indígena-Parlament zu schaffen, das als Erstes die Aufgabe hätte, die gespaltene Mapuchebewegung zusammenzubringen.
Noch sind es wenige, aber immer mehr Mapuche kehren nach einer Ausbildung oder einem Studium von der Stadt auf das Land zurück und arbeiten dort in selbst organisierten und verwalteten Projekten und schaffen, etwa im Tourismusbereich, Alternativen für die bisher ausschließlich agrarische Region.
Einer dieser Rückkehrer ist Jorge Calfuceo, der Direktor der Grundschule von Piedra Alta, die im letzten Jahr Teil des interkulturellen Bildungsprogramms wurde. Durch viel Enthusiasmus und Engagement hat er, der einzige Mapuche und Muttersprachler des Lehrerteams, es geschafft, dass sowohl die Kinder als auch die Kollegen Sprache und Kultur der Mapuche nicht nur als zusätzliches Unterrichtsfach verstehen, sondern auch als ein Medium, mit der Vergangenheit und Gegenwart der Indígenas auf eine andere, neue Weise umzugehen. „Wir sind Mapuche, und unsere Sprache, die können wir nicht außer Acht lassen.“ Auch wenn diese Aussage eines dreizehnjährigen Schülers von Don Calfuceo sicherlich nicht repräsentativ für seine Altersgenossen ist, weist sie auf einen Interessenwandel in der neuen Mapuche-Generation hin.
Sprechen die Mapuche ihre Sprache wieder, können sie zeigen, dass sie als Volk durchaus nicht der Vergangenheit angehören, sondern hier und jetzt bereit sind, für ihre Rechte zu kämpfen.
Tanja Rother

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren