Nummer 373/374 - Juli/August 2005 | Regionale Integration

Die Mühlen der Regionalen Integration

Soziale Aspekte unter den Rädern der Wirtschaftsliberalisierung

NAFTA, CAFTA, ALCA, MERCOSUR, CARICOM, CAN, ALBA und CNS: All diese Kürzel stehen für Projekte und Initiativen regionaler Integration und Kooperation in (Latein)Amerika. Sie unterscheiden sich in Größe, Gewicht und Reichweite, wie auch in ihren Zielen. Dennoch bringen sie eines gemeinsam zum Ausdruck: Regionale Integration ist auf dem amerikanischen Kontinent en vogue.

Sandra Schuster

Freihandel und Integration sind zwei Konzepte, die auf der aktuellen politischen Agenda – nicht nur des amerikanischen Kontinents – ganz oben stehen. Gemeint ist dabei aber meist nur ersteres: die Deregulierung der Märkte durch Liberalisierung der Marktzugänge und Regulierung der handelsrelevanten Politikgestaltung der betroffenen Länder. Die Freihandelsverhandlungen zwischen 34 amerikanischen Staaten um die große Freihandelszone der Amerikas ALCA stagnieren allerdings seit Ende 2003 genauso wie die Verhandlungen zwischen dem MERCOSUR und der Europäischen Union seit Herbst letzten Jahres. Währenddessen schreiten die Freihandelsverhandlungen im Süd-Süd-Handel voran, und es wird versucht, für mehr Integration zwischen den Staaten und Regionen des Südens zu sorgen – vor allem im Rahmen des MERCOSUR und der vom brasilianischen Präsidenten Lula ins Leben gerufenen Initiative für eine Südamerikanische Staatengemeinschaft (CSN).
Das Soziale soll nicht unter den Tisch fallen. Auf dem letzten Gipfeltreffen des Gemeinsamen Marktes des Südens (MERCOSUR) und seiner Assoziierten haben die anwesenden Staats- und Regierungschefs im Juni 2005 in Asunción erleichterte Reise- und Migrationsbestimmungen für den MERCOSUR, diverse Infrastrukturprojekte sowie die Gründung eines Strukturfonds zum wirtschaftlichen Ausgleich (FOCEM) verabschiedet. Letzterer soll für die am wenigsten entwickelten Regionen des MERCOSUR Finanzhilfen in Höhe von zunächst 100 Millionen US-Dollar bereitstellen und wird zu 70 Prozent mit Geldern aus Brasilien, 27 Prozent aus Argentinien, zwei Prozent aus Uruguay und einem Prozent aus Paraguay finanziert. Gleichzeitig bekräftigte Lula seine Absicht, die Brasilianische Nationale Entwicklungs- und Sozialbank (BNDES) als Länder übergreifend agierende Regionalbank neu zu definieren, um mit Entwicklungskrediten aus Brasilien Infrastrukturprojekte auch außerhalb Brasiliens zu finanzieren – allerdings bislang nur bei brasilianischer Firmenbeteiligung.
Auf dem im Juni 2005 parallel stattfindenen Sozialforum in Paraguay forderten soziale Bewegungen und Gewerkschaften dagegen eine kontinentale Allianz, die Kultur, Unabhängigkeit und Menschenrechte als vorrangige Aufgaben regionaler Integration betrachtet: „Wir sind kein Markt. Wir sind Völker, menschliche Wesen“, sagte Rafael Freire vom brasilianischen Gewerkschaftsdachverband (CUT).
Immerhin trat Anfang Juni mit mehr als siebenjähriger Vorlaufzeit nunmehr das Abkommen über Soziale Sicherung im MERCOSUR in Kraft. Es ermöglicht die Anerkennung von Rentenansprüchen in jedem der vier MERCOSUR-Staaten. Zumindest ein realer Schritt in Richtung Integration für den MERCOSUR.

Veränderte Ziele
regionaler Integration

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich die Erscheinungsform des Regionalismus gewandelt. Während in den 90er Jahren auf dem amerikanischen Kontinent große Handelsblöcke geschaffen wurden, geht der Trend auch in Amerika zunehmend zu bi- und minilateralen Handelsvereinbarungen. Diese verlaufen häufig transregional, das heißt, sie werden quer über einzelne Kontinente und Weltmeere hinweg abgeschlossen. Hauptgrund für diese Entwicklung ist die strategische Konkurrenz zwischen der EU und den USA im Kampf um neue Märkte. Gerade diese beiden Akteure initiieren immer neue bilaterale Handelsprojekte. Viele kleinere Länder gehen darauf ein, weil sie einen neuen Protektionismus des Nordens fürchten. Stark exportorientierte Ökonomien des Südens, wie etwa Chile, bilden zudem selbst regelrechte Netze von Freihandelsabkommen, um ihre Handelsbeziehungen hinreichend zu diversifizieren. Zugleich werden Freihandelsabkommen zu einem wichtigen Instrument der Außenpolitik. So nutzt beispielsweise Brasilien als „global trader“ Vereinbarungen auch dahingehend, sich als „global player“ mehr politisches Gewicht zu verschaffen.
Handelspolitischer Regionalismus, wie auch die neuere Ausprägung des Bilateralismus, wird gemeinhin gleichgesetzt mit einer ökonomischen regionalen Integration: Zwei oder mehr Staaten vereinbaren die Schaffung einer Freihandelszone, eine höhere Integrationsstufe einer Zollunion oder einen gemeinsamen Markt. Kennzeichnend ist der allmähliche Abbau von politischen und wirtschaftlichen Barrieren zwischen den teilnehmenden Mitgliedsstaaten. Integration impliziert, dass nationalstaatliche Souveränität dabei partiell übertragen wird, sei es an eine supranationale Organisation oder durch Abgabe von Autonomie beim Treffen gemeinsamer wirtschaftlicher und politischer Entscheidungen.
Wenngleich es immer noch die staatlichen Akteure sind, die regionale Integrationsprojekte formal initiieren, ist der gesamte Prozess heute stärker marktinduziert orientiert und im Zusammenhang der zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung zu sehen. Zu erklären ist diese neue Dynamik mit der Globalisierung, die in entscheidendem Maße die Entwicklung der Weltwirtschaft und die sie formierenden Nationalökonomien bestimmt. Prozesse ökonomischer Globalisierung sind vielfältig und lassen sich in den Bereichen der internationalen Finanzmärkte, des internationalen Handels und der Direktinvestitionen ausmachen. Sie sind gleichsam verbunden mit der räumlichen Ausdehnung wie auch den transnationalen Produktions- und Vermarktungsstrategien multinationaler Unternehmen. Auf der Ebene des Nationalstaates wirkt Globalisierung als ein scheinbar unvermeidbarer, gesteigerter Wettbewerbsdruck, dem sich die nationalstaatlichen Akteure aufgrund der Integration ihrer Ökonomien in den Weltmarkt ausgesetzt sehen.

Zwischen Nationalstaat
und globalem Markt

An Handlungsspielraum nach innen gewinnen die nationalstaatlichen Akteure durch regionale Integration insofern, als sie die marktliberalen Anpassungen politisch durch den Verweis auf vertragliche Verpflichtungen gegenüber den Partnerstaaten oder die Notwendigkeit regionaler Konsensfindung begründen können. Subventions- und Sozialabbau kann beispielsweise begründet werden mit den Verpflichtungen aufgrund eines Freihandelsabkommens. Je nach Tiefe des Integrationsprozesses besteht jedoch hinsichtlich der politischen und sozialen Kosten marktliberalisierender Reformen auch die Möglichkeit, neue Instrumente zu deren Steuerung und Ausgleich zu erhalten und politische Verantwortung zu teilen.
Klassische Argumente ökonomischer Effizienz sind die Vergrößerung des Binnenmarktes und die damit verbundenen Skaleneffekte in der Produktion. Der stärkere Wettbewerb auf dem nun größeren Markt führt zu Unternehmensspezialisierung und vermehrter Arbeitsteilung. Außerdem können durch Wirtschaftsintegration Transaktionskosten, wie zum Beispiel Zölle, gesenkt und Vorteile gegenüber der Weltmarktkonkurrenz besser genutzt werden als es ohne eine Verschmelzung mehrerer Märkte möglich wäre. Gegenüber Drittstaaten gewinnen die einzelnen Mitglieder eines Integrationsprojekts einen Wettbewerbsvorteil aus deren relativer Diskriminierung, das heißt, ihrer Exklusion vom Freihandel, einem gemeinsamen Außenzoll und anderen Vereinbarungen.
In Zusammenhang dieser ökonomischen Potenziale und Anreize wird der durch Integration geschaffene größere Markt auch für ausländische Unternehmen und Direktinvestitionen attraktiver. Über das derart gesteigerte ökonomische Gewicht kann durch regionale Kooperation die politische Verhandlungsmacht der beteiligten Mitgliedsstaaten gegenüber anderen Akteuren (Investoren, Staaten, Organisationen) vergrößert werden.
Regionale Integration ist in Lateinamerika kein Novum, sie hat gewissermaßen Tradition. Nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Jahre 1957 war es zu einer „ersten Welle“ regionaler Integration gekommen, die in Lateinamerika vor allem durch die 1960 errichtete lateinamerikanische Freihandelszone ALALC geprägt wurde. Im Vordergrund der Bestrebungen stand, das damals auf nationaler Ebene betriebene Entwicklungsmodell einer importsubstituierenden Industrialisierung auch auf subregionaler Ebene einzuführen: Industrielle Komsumgüter, die vorerst importiert worden waren, sollten durch eigene Produktion ersetzt werden, um nationale Industrialisierungsprozesse zu verstärken und die Außenabhängigkeit zu verringern. Die Hoffnungen auf synergetische Effekte eines größeren Wirtschaftsraumes erfüllten sich allerdings kaum. Wirtschaftliche Gründe dafür sind in gewachsenen Oligopolstrukturen wie auch in mangelnden technologischen Entwicklungsanreizen aufgrund unzureichender Arbeitsteilung zu sehen. Politisch befanden sich die meisten lateinamerikanischen Staaten in den 70er Jahren unter der Ägide von Militärdiktaturen, die über einen gemeinsamen Wirtschaftsraum einen Verlust ihrer politischen Kontrolle und Herrschaft fürchteten. In der Nachfolgeorganisation der ALALC, der 1980 gegründeten Lateinamerikanischen Integrationsgemeinschaft (ALADI), wurden daher nur noch wirtschaftspolitische Koordinierungsmaßnahmen zwischen den beteiligten Ländern angestrebt.

Die zweite Welle
der Integration

Die neuen Integrationsprojekte, die während der „zweiten Welle“ regionaler Integration in den 90er Jahren in Lateinamerika entstanden, weisen dagegen in eine komplett andere Richtung. Als „offene“ Integrationsräume sind sie nicht nach innen, sondern zum Weltmarkt hin orientiert. Hintergrund für diese Entwicklung ist ein wirtschaftspolitischer Paradigmenwechsel, der für die meisten Länder Lateinamerikas seit den 80er Jahren kennzeichnend ist. Den Ausschlag für diese Neuorientierung gab die Schuldenkrise sowie das Krisenmanagement des Internationalen Währungsfonds (IWF). Um zur Stabilisierung ihrer Lage neue öffentliche Kredite oder Erleichterungen zu erlangen, wurden die Schuldnerländer zur Durchführung so genannter „wachstumsorientierter Strukturanpassungsprogramme“ verpflichtet. Die Schwerpunkte der Wirtschaftspolitik lagen auf der Öffnung der Ökonomien, dem Abbau staatlicher Wirtschaftstätigkeit zugunsten der Privatisierung sowie der Ausrichtung auf den Export. Infolge solch einschneidender Änderungen hat sich auch die Integrationslogik regionaler Projekte entscheidend gewandelt. Im Vordergrund der Planungen standen nicht mehr selektive Zollsenkungen und Industrieprojekte, sondern Freihandel mit übereinstimmender Wirtschaftspolitik. Integration wurde nun im Kontext marktwirtschaftlicher Öffnung betrieben und als Instrument zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt betrachtet. Ein Beispiel hierfür bietet der MERCOSUR. Mit dem Abbau der Handelsschranken und einem gemeinsamen Außenzoll wurde ein Wirtschaftsblock geschaffen, der den Handlungspielraum erweitert, indem er die Logik des Freihandels sowohl nutzt als auch begrenzt.

Globalisierung setzt Länder
unter Druck

Bei der Gründung des MERCOSUR hat die Vertiefung ökonomischer Zusammenschlüsse in anderen Weltregionen eine entscheidende Rolle gespielt, da die Konkurrenzsituation für lateinamerikanische Staaten sich verschärft hatte. Aus Sicht der beiden Initiatorenstaaten des MERCUSOR, Brasilien und Argentinien, war mit den Verhandlungen zur Bildung der ALCA seit 1990 und den Plänen zum Europäischen Binnenmarkt die Gefahr gewachsen, weltwirtschaftlich marginalisiert zu werden. Um diesen Wirtschaftsblöcken nicht vereinzelt gegenüber zu stehen, galt es, unter Einschluss Paraguays und Uruguays eigene Formen regionaler Integration zu entwickeln, zumal es auch nicht ihren Überzeugungen entsprach, sich einer von den USA dominierten gesamtamerikanischen Freihandelszone vorbehaltlos anzuschließen. Darüber hinaus standen den Ausformungen regionaler Blöcke Anfang der 90er Jahre auch nicht gerade Fortschritte in der Uruguay-Runde des GATT, dem Vorläufer der Welthandelsorganisation (WTO), gegenüber, die Anlass zur Hoffnung einer Reduzierung der Zollschranken in dem für die Länder des Südens so bedeutenden Agrarbereich gegeben hätten.
Der aktuelle Trend zu bilateralen Freihandelsabkommen knüpft an diese Entwicklungen an. Ausschlaggebend sind ebenfalls die Bemühungen der USA um eine gesamtamerikanische Freihandelszone (ALCA), durch welche sich in Konkurrenz dazu auch die EU veranlasst sah, bilaterale Freihandelsvereinbarungen mit lateinamerikanischen Staaten abzuschließen. Abkommen wurden bislang mit Mexiko und Chile unterzeichnet, Verhandlungen mit dem MERCOSUR wurden nach längerem Vorlauf im Jahr 2000 aufgenommen. Wesentliches Motiv ist die Sicherung wie auch der Ausbau von Marktanteilen europäischer Unternehmen. Seit der Öffnung der lateinamerikanischen Ökonomien haben sich diese Unternehmen auf den lateinamerikanischen Märkten einrichten können und damit begonnen, die gewachsenen Handelsnetze im Rahmen ihrer transnationalen Strategien zu nutzen.

Prekäre Erfolgschancen
aus Süd-Perspektive

Die Erfolgsaussichten für die einzelnen Integrationsoprojekte sind schwierig zu bemessen. In jedem Fall dürften sie für die einzelnen beteiligten Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich ausfallen. Das gilt gerade in Anbetracht ihres wirtschaftlichen Potenzials wie auch der Struktur und Zusammensetzung der jeweiligen Integrationszone. Der MERCOSUR beispielsweise kann als relativer Erfolg angesehen werden. Trotz Rückschlägen infolge der Realkrise 1999 und der Pesokrise 2002 hat er sich zum weltweit drittgrößten integrierten Wirtschaftsblock nach der EU und NAFTA entwickelt und konnte auch nach außen eine integrative Dynamik entfalten, die sich zunächst in den Freihandelsabkommen mit Chile und Bolivien zeigte. Verhandlungen mit der Andengemeinschaft zur Schaffung einer Freihandelszone unterstreichen diese Attraktivität. Insgesamt ist das Engagement der MERCOSUR-Mitgliedstaaten in der anvisierten Gemeinschaft der Südamerikanischen Nationen (CNS) als Bestandteil einer Strategie zu sehen, das Gewicht dieses Wirtschaftsblocks zu stärken und die Verhandlungsmacht der lateinamerikanischen Staaten innerhalb der Verhandlungen zu einer gesamtamerikanischen Freihandelszone zu bündeln.
Die Bildung von Freihandelszonen mit Industrieländern kann dagegen für Länder des Südens mit erheblichen Benachteiligungen verbunden sein. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Agrarhandel ganz oder teilweise ausgeschlossen bleibt. Die asymmetrischen Handelsabkommen der EU mit Chile und Mexiko sind dafür beispiele, bei denen obendrein noch Schutzklauseln eingebaut sind, die es der EU ermöglichen, ihre Märkte bei erfolgreicher Exportsteigerung der Handelspartner in den jeweiligen Sektoren zu schließen. Umgekehrt kann eine wie im Rahmen der NAFTA angestrebte komplette Liberalisierung im Agrarbereich aber auch von destruktiven Wirkungen begleitet sein. Die USA halten beispielsweise zu Ungunsten Mexikos an hohen Subventionszahlungen für US-amerikanische Großbetriebe fest. Andererseits zwingt die Schuldenproblematik alle Süd-Länder zur Exportmaximierung und begrenzt so die Dynamik einer Süd-Süd-Integration, so dass sich die betroffenen Länder häufig gezwungen sehen, sich trotz negativer Konsequenzen auf asymmetrische Handelsbeziehungen einzulassen.
Es sind vor allem soziale Bewegungen, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die sich gegen die Interpretation von Integration zwischen Staaten als bloßer Öffnung der Märkte für grenzüberschreitend operierende Konzerne und deren Waren zur Wehr setzen. Claudia Torrelli, Mitarbeiterin bei REDES Amigos de la Tierra in Uruguay und Mitglied der Kontinentalen Sozialen Allianz der Amerikas (ASC), sieht die Herausforderung für die sozialen Bewegungen vor allem darin, eine lateinamerikanische Integration zu konstruieren, die – entgegen dem neoliberalen Paradigma von Integration und Freihandel – vor allem die Kooperation und die Komplementarität der verschiedenen Regionen und Länder respektiert, um Integrationspolitik nicht für den Markt, sondern für soziale Gerechtigkeit und Freiheit zu gestalten.

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