Brasilien | Nummer 383 - Mai 2006

Die neuen Knechte

Über die Arbeitsbedingungen im südbrasilianischen Tabakanbau

Der bäuerliche Familienbetrieb wird gerne zum Idyll stilisiert. Ausbeutung und Zwangsarbeit finden nach landläufiger Meinung anderswo statt. Doch mit Knebelverträgen beuten internationale Tabakkonzerne Kleinbauern in Südbrasilien aus und ruinieren deren Gesundheit. Selbst die Tabakpflanzervereinigung AFUBRA bietet keine wirkliche Unterstützung, sondern treibt die ArbeiterInnen noch tiefer in die Schuldenfalle.

Benjamin Bunk / Guilherme Eidt

Rauchen gefährdet die Gesundheit, doch nicht nur die der RaucherInnen. Fast jährlich werden in Deutschland die Tabaksteuern erhöht. Die Tabakindustrie reagiert, indem sie versucht, Zigaretten immer noch billiger herzustellen. Die Leidtragenden am Ende der globalen Tabakproduktionskette sind letztendlich die Tabakbauern und -bäuerinnen mit ihren Familien. Sie müssen für immer weniger Geld immer mehr produzieren – unter unmenschlichen Bedingungen. Eigentlich gilt der Süden Brasiliens, die Tabakanbauregion des Landes, im Gegensatz zum Norden als sehr fortschrittlich. Der Tabakanbau selbst wird als eine Idylle propagiert, in der der ländliche Familienbetrieb noch bewahrt bleibt. Doch bestätigt sich dieser Eindruck nur auf den ersten Blick. Schaut man genauer hin, wird deutlich, wie diese Bauern und Bäuerinnen über ein System der erzwungenen Verschuldung kontrolliert werden.

Das Integrierte Tabak-Produktionssystem

Der Tabakanbau hat eine lange Tradition in Brasilien, die bis in die Kolonialzeit zurückreicht. Heute ist Tabak, nach Soja und Kaffee, das wichtigste Exportgut im Agrar-bereich – mit hervorragenden Wachstumsprognosen. Im Jahr 2005 war Brasilien immer noch der größte Tabakexporteur der Welt. Knapp die Hälfte ist dabei für den europäischen Markt bestimmt.
Als Geheimnis dieses Erfolges gibt die Branche das Integrierte Tabak-Produktionssystem an. Nach eigenen Angaben garantiert es eine beständige Produktion, stabile und niedrige Preise bei äußerst hoher Qualität und steigenden Erträgen.
Doch dieser Erfolg wird allein auf Kosten der Kleinbauern und
-bäuerinnen erreicht. Der Tabakanbau und die nachfolgende Fermentierung verlangen viel Handarbeit, die immer noch vornehmlich durch kleine Familienbetriebe ausgeübt wird. Diese sind durch Verträge an den Tabakkonzern gebunden. Im Mittelpunkt steht der verpflichtende Erwerb eines Technik-Pakets, durch welches sich der Familienbetrieb bei der Tabakfirma bis in eine Höhe von 25.000 Euro verschuldet – für brasilianische Verhältnisse Unsummen. In dem Paket bietet der Konzern technische Hilfe und Produktionsmittel für die PflanzerInnen, insbesondere Dünger und Pestizide, welche über das Jahr verteilt geliefert werden. Bei Abgabe der Ernte erfolgt die Verrechnung. Im Gegenzug wird ein Abnahmevertrag mit dem Tabakkonzern abgeschlossen, der bereits die Erntemenge vorgibt. Die TabakpflanzerInnen verpfänden circa 95 Prozent ihrer Ernte und damit auch ihrer Arbeitskraft, die der Familie und ihr einziges Eigentum – das Land. Diese Praxis garantiert zwar augenscheinlich eine stabile Lebensgrundlage. Aber zu welchem Preis?

Auswirkungen des Produktionssystems

Der Abnahmevertrag verhindert, dass die Kleinbauern und -bäuerinnen über den Preis ihrer Ernte selbst verhandeln können. Alles wird von den Tabakfirmen vorgegeben: das Produkt, die Menge, die Produktionsweise, die zu verwendenden Produktionsmittel und damit letztendlich der Preis des Tabaks. Die Firmen stellen jegliches Material zur Verfügung, liefern dieses bis nach Hause und stellen die Techniker vor Ort – zu überhöhten Preisen. Alle TabakpflanzerInnen sind verpflichtend in dieses System eingebunden. Es fehlen Alternativen für die Bauern und Bäuerinnen, denn alle Tabakfirmen wenden das gleiche System an. Sowohl die Klassifizierung der Ernte als auch die Definition der über 40 Qualitätsabstufungen des Tabaks geschieht ausschließlich durch die Firmen. Somit können diese willkürlich den Preis der Ernte bestimmen. Durch Absprachen der Konzerne untereinander und nach Verrechnung der Kosten der zur Verfügung gestellten Produktionsmittel, werden die Preise, für die der Tabak von den Bauern und Bäuerinnen abgekauft wird, regelmäßig zu Erntezeiten gedrückt. So gelingt es, bei Abnahme des Tabaks, genau auf die Höhe der vorher eingegangen Schulden zu kommen. In vielen Fällen ist eine Verschuldung der TabakpflanzerInnenfamilien durch die kaum erreichbaren Erntevorgaben vorprogrammiert.

Kinderarbeit und Pestizide

Eine weitere gravierende Auswirkung dieses Produktionssystems ist Kinderarbeit. Oft muss die gesamte Familie arbeiten, um den Ertragsanforderungen gerecht zu werden oder der Schuldenfalle zu entgehen. Zwar stellt die Mitarbeit der Kinder auf dem eigenen Stück Land eine traditionelle Form der Wissens- und Erfahrungsvermittlung dar. Doch wird die Grenze zur Kinderarbeit in dem Moment überschritten, in welchem die Kinder zur notwendigen Arbeitskraft werden, um die Familie vor der existenziellen Armut zu bewahren.
Der unangemessene und gesundheitsschädliche Gebrauch von Pestiziden ist ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Folge der ‚integrierten Produktionsweise’. Im ,Technik-Paket’ sind für die unterschiedlichen Tabakanbaugebiete und -bedingungen dieselben Pestizidmengen und -mittel vorgesehen. Der gesundheitsschädliche Effekt der Pestizide verstärkt sich noch, da die Landbevölkerung weitgehend ungebildet und wenig sensibilisiert für den Umgang mit diesen und möglichen Gefahren ist.

Ohne Wert, Recht und Einfluss

In den Abnahmeverträgen sind weder Gesundheitsvorsorge noch Gefahrenzulagen für die PflanzerInnen inbegriffen, wie es bei Lohnarbeitsverträgen gesetzlich vorgeschrieben wäre. Die direkten Angestellten der Firmen erhalten dagegen Entschädigungen und Extrazahlungen für jeden Minimalkontakt mit den Pestiziden. Dies zeigt, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird.
Aber haben die PflanzerInnen nicht auch eine Interessenvertretung? Mit der Vereinigung der TabakpflanzerInnen AFUBRA offiziell schon, doch ist diese Vereinigung eher ein Instrumnt der Tabakkonzerne. AFUBRA ist als einziger Vertreter der TabakpflanzerInnen an der Festlegung der Erntepreise beteiligt. Ihre demokratische Legitimierung erhält die AFUBRA, indem sie VertreterInnen in den Regionen ernennt, welche einmal im Jahr eine undurchsichtige Jahresbilanz absegnen. Die Mitgliedschaft in der AFUBRA ist jedoch für alle verpflichtend, da diese als Einzige die notwendige Versicherung für eventuelle Ernteverluste durch Umweltschäden anbieten darf. Eigenmächtig legt sie Anspruch und Höhe der Versicherungsleistungen im Schadensfall fest. Zudem agiert die AFUBRA als Verkäuferin für die Firmen und vertreibt die Produktionsmittel sowie Dünger und Pestizide. Alles ist komplett in das Verrechnungssystem der Schulden zum Zeitpunkt der Ernteablieferung integriert.

Die absurden Blüten der Ausbeutung

Im Oktober 2005 wandte sich Julio, ein Tabakpflanzer, an eine Kreditinstitution, mit dem Anliegen, neben Tabak auch Melonen anzubauen. Bestürzt musste er feststellen, dass die Tabakfirma mit Hilfe von AFUBRA in seinem Namen, aber ohne sein Wissen, bei verschiedenen Banken Kredite aufgenommen hatte. Alles mit einer beliebigen Einverständniserklärung, die er im Rahmen der Verträge des Integrationssystems unterzeichnet hatte.
Dieser Kleinbauer war also etwa 25.000 Euro Schulden beim Erwerb des Technik Pakets über die AFUBRA mit der Tabakfirma Dimon/Alliance One International eingegangen und hatte dafür 97 Prozent seiner Ernte verpfändet. Daneben waren aber in seinem Namen weitere Kredite in Höhe von 45.000 Euro aufgenommen worden – wofür ist nicht bekannt. Absurderweise entstammt die Mehrzahl der Kredite einem Fonds der nationalen Entwicklungsbank zur Unterstützung der TabakpflanzerInnen, welcher wiederum aus dem Amparo-Fonds, zur Förderung der ArbeiterInnenrechte eingerichtet worden war.
Die Tabakfirma gab in Gesprächen diesen Tatbestand im Falle des Tabakpflanzers und noch weiteren 46.000 TabakpflanzerInnen zu. Der Hohn schwang mit, als man sagte, dass er der Einzige sei, der bisher Beschwerde eingelegt habe. Dimon/Alliance One International erklärte sich bereit, alle in seinem Namen getätigten Kredite zurückzuzahlen. Gleichzeitig wurde Julio jedoch angedroht, ihm nicht seine Ernte, wie im Vertrag vereinbart, abzunehmen, falls er weiterhin das Ansehen der Firma beschädige.

Zwischen Sklavenarbeit und Exportwirtschaft

Sind die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Tabakbauern und -bäuerinnen Brasiliens mit dem Begriff der modernen Sklaverei zu charakterisieren? Verschiedene Gesichtspunkte sprechen dafür: so zum Beispiel die Beherrschung der Kleinbauern und -bäuerinnen durch die Tabakkonzerne über ein System der Verschuldung mit dem Ziel wirtschaftlicher Ausbeutung. Auch sind das Ausmaß des psychischen Druckes sowie die Einschränkung der Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit Argumente dafür. Jedoch wird die Beurteilung dieser Situation durch den Umstand verzerrt, dass die Familie im Besitz von Eigentum bleibt. Am ehesten kann man diese Produktionsweise vielleicht als eine moderne Knechtschaft bezeichnen. Unbestreitbar ist, dass diese Produktionsweise eindeutig gegen Menschenrechte verstößt. Das Integrationssystem zu beenden reicht nicht aus, um die Situation der TabakpflanzerInnen zu verbessern, solange es keine wirklichen Alternativen gibt, wie ein ländlicher Familienbetrieb heute existieren kann. Mit einer funktionierenden Mitbestimmung, einem effektiven Interesse an staatlicher Kontrolle und mehr Wertschätzung der Arbeitskraft wäre aber schon ein großer Schritt auf diesem Weg getan.

Die wichtigsten in Brasilien tätigen Tabakfirmen sind Souza Cruz (British American Tobacco Group), Universal Leaf Tobaccos (Hauptlieferanten für Phillip Morris International), Continental Tobacco Alliance (CTA), Alliance One International Incorporation (Fusion von Dimon und Meridional Tobaccos) und Kannenberg.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren