Brasilien | Nummer 312 - Juni 2000

„Die Regierung ist unfähig den Landkonflikt zu lösen“

Interview mit James Louis Cavallaro, Jurist und Mitbegründer der Menschenrechtsorganiation Justiça Global in São Paulo

James Louis Cavallaro, gebürtiger US-Amerikaner lebt seit vielen Jahren in Brasilien und arbeitet dort zum Thema Menschenrechte. Er war Gast auf den Deutschlandveranstaltungen der Brasiliensolidarität zu den 500-Jahr-Feiern. Am Rande seines Besuchs in Berlin machten die LN das folgende Interview.

Anton Landgraf

Die Regierung Cardoso hat mit großem Aufwand versucht, die 500-Jahr-Feiern als brasilianische Erfolgsgeschichte zu verkaufen. Doch die Medien berichteten vor allem über die Proteste der Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Sem Terra (MST). Steht nun eine weitere Eskalation der Landkonflikte bevor?

Das Verhalten der brasilianischen Regierung lässt dies zumindest befürchten. Seit Anfang Mai hat es bereits zwei Fälle gegeben, in denen das Gesetz über die „Nationale Sicherheit“ wieder zur Geltung kam. In beiden Fällen handelt es sich um Verfahren gegen die Landlosenbewegung in Paraná. Das Gesetz ist ein Relikt aus den Zeiten der Militärdiktatur, es wurde jedoch in den vergangenen Jahren nicht mehr angewendet.
Ein anderes Beispiel: Die Bundespolizei hat kürzlich eine Sondereinheit speziell für Landkonflikte eingerichtet. Der Name ist ein Euphemismus, denn jeder weiß, dass es sich dabei um eine Einheit gegen den MST handelt. Die Bundespolizei erhält in diesem Zusammenhang das Recht, in jedes öffentliche Gebäude einzudringen, um Besetzungen oder Demonstrationen des MST beenden zu können.

Wieso wird dieses schon fast vergessene Gesetz plötzlich wieder aktiviert?

Diese Maßnahmen sind eine Reaktion der Regierung auf landesweite Proteste, die das MST während der 500-Jahr-Feiern organisiert hat. Eine absurde Reaktion. Denn beim MST handelt es sich schließlich nicht um eine Gruppe von Terroristen, sondern um eine soziale Bewegung, die demokratische Rechte in Anspruch nimmt, die durch die brasilianische Verfassung garantiert sind. Hier wird ein soziales Problem als eine polizeiliche Aufgabe betrachtet.

Wieso reagiert der Staat ausgerechnet auf die Landlosenbewegung, die im Gegensatz etwa zu den Gewerkschaften nur über spärliche Machtmittel verfügt, jetzt so aggressiv?

Die Regierung hat in den vergangenen Jahren immer wieder kleinere Zugeständnisse gemacht, die nichts Wesentliches änderten, aber die Landlosen ruhig halten sollten. Die Proteste gegen die 500-Jahr-Feiern haben nun zu einer Polarisierung geführt. Die Regierung musste einsehen, dass sie mit ihrer Taktik die Landlosenbewegung nicht befrieden kann. Nun versucht sie es mit einer verstärkten Repression.
Hinzu kommt, dass die regierungsnahen Medien, wie der Fernsehsender TV Globo, derzeit eine Schmutzkampagne gegen den MST betreiben: Die Bewegungen unterschlage Gelder und sei gewaltätig. Es gibt zwar keine Beweise, dass die Regierung bei dieser Kampagne ihre Hände mit im Spiel hat, aber sie kommt ihren Interessen doch in einer sehr auffälligen Weise entgegen.
Die Landlosenbewegung stellt für die Regierung – mehr noch als die Gewerkschaften – eine ernsthafte Bedrohung dar. Der MST thematisiert einen Konflikt, den die Regierung nicht lösen kann. Nirgendwo auf der Welt ist der Landbesitz derart konzentriert wie in Brasilien. Ein Prozent der Bevölkerung kontrolliert ungefähr die Hälfte der nutzbaren Fläche. Es wäre einfach, dieses Problem durch eine Agrarreform zu lösen. Doch in der Mitte-Rechts-Koalition von Präsident Fernando Henrique Cardoso sitzen die Großgrundbesitzer und die Anteilseigner der großen Latifundien. Die Regierung braucht die Unterstützung dieser mächtigen Lobby, um ihre Projekte durchzusetzen. Sie kann daher keine strukturellen Änderungen an den Eigentumsverhältnissen auf dem Land vornehmen und ist damit unfähig, dieses Problem zu lösen.

Welche Rolle spielen dabei die Bundesstaaten und die jeweiligen lokalen Autoritäten?

Nach dem Ende der Militärdiktatur zog sich der Staat zunächst zurück. Die Landkonflikte wurden sozusagen privatisiert und spielten sich vornehmlich zwischen Großgrundbesitzern und Landlosenbewegung ab. Die Polizei griff meistens nur ein, wenn die Auseinandersetzungen eskalierten. Doch mittlerweile tritt der Staat wieder verstärkt als Akteur in Erscheinung – und meistens gegen die Landlosenbewegung. Man muss dabei aber unterscheiden zwischen den Reaktionen der Bundesbehörden und den einzelnen Bundesstaaten. Rio Grande do Sul hat beispielsweise eine progressive Regierung, die mit den Agrarkonflikten verhältnismäßig vernünftig umgeht. In Paraná hingegen ist die Landesregierung reaktionär und eng mit den Großgrundbesitzern verbunden. Gleichzeitig gibt es dort eine ausgeprägte nicht-staatliche Repression durch die Milizen und privaten Sicherheitskräfte der Großgrundbesitzer.
Die Regierung Cardoso zeigt sich auf internationaler Ebene sehr bemüht, wenn es um die Durchsetzung zivilgesellschaftlicher Standards geht. Vergangenes Jahr hat sie beispielsweise einen offiziellen Bericht über Menschenrechtsverletzungen in Brasilien vorgelegt, der viel Beachtung fand.
Bei dem Thema Menschenrechte lässt sich die Politik der Regierung Cardoso in zwei Bereiche unterteilen: Die zivilen und politischen Rechte haben erste Priorität, während die sozialen und ökonomischen Rechte als untergeordnete Kategorien angesehen werden. In der ersten Kategorie gibt es sicherlich einige Fortschritte. Wie beispielsweise der bereits erwähnte Bericht: Die Regierung hat damit die Existenz von systematischer Folter durch die Polizei in Brasilien anerkannt. Nur, sie muss auch die Konsequenzen aus diesem Bericht ziehen. Bisher ist es Aufgabe der Polizei, gegen Beamte zu ermitteln, die der Folter verdächtigt werden. Jeder weiß, dass dabei nichts herauskommt.
Bisher haben die offiziellen Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Brasilien vor allem einen diplomatischen Effekt. Die Berichte finden im Ausland und vor der UNO großen Beifall. Anerkennend wird bemerkt, dass sich die Verantwortlichen in Brasilia mit diesem Problem auseinandersetzen. Währenddessen werden in Brasilien weiterhin Menschen mit Elektroschocks oder der Papageienschaukel gefoltert.
Alle namhaften Menschenrechtsgruppen in Brasilien wie im Ausland fordern seit langem, dass die Zuständigkeit für Verbrechen gegen die Menschenrechte auf die Bundesbehörde übertragen wird. Seit 1991 liegt ein entsprechender Gesetzesentwurf vor. Aber nichts ist bisher geschehen. Im Gegensatz dazu ist die Regierung in der Lage, innerhalb von wenigen Wochen ein ganzes Gesetzespaket durchzusetzen, dass sich gegen die Landlosenbewegung richtet.

Welche Rolle spielen die sozialen Grundrechte in diesen Berichten?

Im Nationalen Programm für die Menschenrechte, einem wichtigen Dokument, kommen die sozialen, ökonomischen und kulturellen Rechte so gut wie gar nicht vor. Diese Rechte werden von der Regierung erst gar nicht anerkannt. Der einfachste Beweis besteht darin, dass der Mindestlohn bei ungefähr 100 Dollar liegt. Niemand kann mit diesem Lohn ein menschenwürdiges Leben führen. Für die Regierung liegt dieses Problem außerhalb ihrer Zuständigkeit.

Hat sich die Situation der Menschenrechte seit dem Ende der Militärdiktatur verbessert?

Ich sehe einen deutlichen Fortschritt bei der Durchsetzung der Menschenrechte seit dem Ende der Militärdiktatur. Es gibt keine Todeslisten mehr, die Pressefreiheit ist einigermaßen gewährleistet. Es gibt freie Wahlen, auch wenn sie oft durch die Korruption beeinträchtigt werden. Doch eines unserer großen Probleme besteht darin, dass sich die Opfer geändert haben. Vor zwanzig, dreißig Jahren waren es vor allem die Kinder aus der Mittel- und Oberschicht, die zu den Opfern der Militärdiktatur gehörten. Doch die Mitglieder der Studentenbewegung und der politischen Organisationen hatten immerhin die Fähigkeit und die Mittel, mit der Elite zu kommunizieren und die Sympathien eines großen Teils der Bevölkerung zu erzielen.
Heute sind die Opfer vor allem die Kriminellen, Favela-Bewohner, die Ausgeschlossenen aus der Gesellschaft. Wer sich für diese Marginalisierten einsetzt, wird schnell als Verteidiger und Komplize von Banditen denunziert. Das ist ein großer Unterschied zu früher. Während der Militärdiktatur wurden etwa 500 Personen ermordert. Allein im Jahr 1998 wurden von der Polizei des Bundesstaates Rio de Janeiro über 7oo Personen getötet. Und oft handelt es sich bei den so genannten Schusswechseln um schlichte Hinrichtungen. Damit will ich nicht sagen, dass es um die Menschenrechte heute schlechter bestellt ist als vor dreißig Jahren. Aber diese Zahlen sollten zumindest zu denken geben.

Die Menschenrechtsgruppen haben bisher ebenfalls auf die Trennung zwischen den so genannten zivilen und den sozialen Rechten geachtet.

In der Öffentlichkeit ist es einfach, für zivile und politische Rechte einzutreten und sich gegen Folter und Polizeiübergriffe auszusprechen. Diese Fälle sind auch verhältnismäßig einfach zu dokumentieren. Im Gegensatz dazu fällt es natürlich schwer, gegen so allgemeine Probleme wie die Globalisierung oder die Verelendung zu kämpfen. Damit macht man sich auch leichter angreifbar. Doch die Unterteilung in Menschenrechte erster und zweiter Kategorie lässt sich auf Dauer nicht aufrechterhalten. In Brasilien existiert eine klare Beziehung zwischen der ungleichen Verteilung des Reichtums und der zunehmenden Gewalt. Die Ursache dafür ist nicht so sehr die absolute Armut, sondern die relative Ungleichheit. Länder wie Bolivien oder Ecuador, die ebenfalls ein sehr niedriges Pro-Kopf-Einkommen haben, weisen eine wesentlich niedrigere Gewaltquote auf als Brasilien. Die brasilianischen Menschenrechtsgruppen erkennen daher zunehmend die Bedeutung der sozialen und ökonomischen Rechte an. Die nationale Menschenrechts-Konferenz vom vergangenen Jahr hat zum ersten Mal auch einen Bericht über diese Rechte in Auftrag gegeben, der anschließend der UNO übergeben werden soll. Diese Annäherung zwischen den Menschenrechtsgruppen und den Bewegungen, die sich für soziale und ökonomische Rechte einsetzen, ist eine sehr wichtige Entwicklung in Brasilien.

Die Zeitung O Globo berichtete kürzlich über eine Art Neuauflage der „Operation Condor“. Demzufolge sollen die Geheimdienste von Argentinien, Brasilien, Chile und Paraguay Absprachen treffen, um gemeinsam auf die vermeintliche Bedrohung durch die sozialen Bewegungen zu reagieren.

Es ist natürlich schwierig, solche Informationen mit Sicherheit zu bestätigen. Aber eine große Überraschung stellen sie nicht dar. In Lateinamerika hat nie eine kritische Aufarbeitung der Geheimdienst-Aktivitäten während der Zeit der Militärdiktaturen stattgefunden – vergleichbar etwa mit der Auseinandersetzung in Deutschland mit der Stasi-Vergangenheit. In Lateinamerika herrscht Kontinuität: Das Personal wurde nicht ausgetauscht, die Dienste konnten einfach weiter machen.

Interview: Anton Landgraf

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