Brasilien | Nummer 477 - März 2014

„Die Repression ist hart“

Interview mit dem Journalisten und Politikwissenschaftler Leonardo Sakamoto über die aktuellen Proteste gegen die Fußballweltmeisterschaft

Nachdem im vergangenen Jahr Hunderttausende in Brasilien gegen die hohen Ausgaben für die WM und für ein staatliches Bildungs- und Gesundheitssystem „auf Fifa-Niveau“ auf die Straße gegangen sind, ist es mit dem Ende des Confederations Cup ruhiger geworden. Die LN sprachen mit Leonardo Sakamoto über die Kontinuität des Protests, staatliche Repression und die Bedeutung der alternativen Medien.

Interview: Claudia Fix

Werden in Brasilien die Proteste des vergangenen Jahres fortgesetzt oder ist die Welle verebbt?
Es gibt weiterhin Proteste gegen die Fußball-Weltmeisterschaft, aber man kann nicht von einer Fortsetzung sprechen, weil sie einer ganz anderen Logik folgen. Sie sind viel kleiner als die Proteste im Juni, die eine regelrechte Katharsis waren und von der nichtorganisierten Mittelklasse getragen wurden. Heute sind es eintausend Demonstranten, oder zweitausend, aber viel weniger als die Hunderttausenden im vergangenen Jahr.

Welche Rolle spielen die Basiskomitees zur WM? Organisieren sie die Proteste?
Die Basiskomitees zur WM beteiligen sich an den Protesten, aber sie organisieren sie nicht. Überhaupt sind die traditionellen sozialen Akteure, die Komitees und Gewerkschaften, in diesem Prozess völlig irrelevant. Die Proteste werden heute ganz häufig in einer diffusen Form organisiert, von empörten Jugendlichen, von Parteigruppen, von anarchistischen Gruppen oder dem Black Bloc, das ist eine Suppe mit sehr vielen unterschiedlichen Zutaten. Aber es sind vor allem Jugendliche, die über die Ausgaben für die WM in Bezug zur miesen Qualität der öffentlichen Dienstleistungen empört sind.
Die Organisation dieser Proteste folgt keinem traditionellen Modell, das läuft sehr anarchistisch und nicht institutionalisiert ab. Das ist ein Unterschied zum Juni, als die Bewegung für den kostenlosen Nahverkehr die Demonstrationen vorangetrieben hat, besonders am Anfang. Heute ist das anders, heute kann jeder Proteste initiieren. Oft läuft die Organisation über die sozialen Medien, die Leute kommen zur Demonstration und niemand hat die Kontrolle.

Nimmt die Repression gegen die Proteste zu?
Ja, die Repression ist sehr hart und die Prügel, die die Demonstranten beziehen, auch. Die Polizei agiert sehr gewalttätig und der Black Bloc gibt diese Aggression in einer scharfen Form zurück.
Und die Medien, allen voran Rede Globo als hegemoniales Medium, nutzen die momentane Form der Proteste, um sie zu delegitimieren, bezeichnen sie als Blödsinn, als ganz anders als im vergangenen Jahr. Sie sagen, dass sie nur Probleme bringen. Es ist eine regelrechte Kampagne. Denn Rede Globo wird eine Menge Geld an Werbeeinnahmen verlieren, wenn es während der WM Probleme gibt.

Wie schätzen Sie die Gesetzesinitiative ein, die versucht, mögliche Proteste während der WM als „terroristische Akte“ zu verfolgen?
Diese Gesetzesinitiative wurde bereits im Nationalkongress behandelt. Sie ist aber ein so undemokratischer Vorschlag, der in der Praxis zu Zensur und einer ganzen Reihe von Problemen bei Demonstrationen geführt hätte, dass die allgemeine Gesellschaft, darunter auch die Presse, ablehnend reagierte. Die Regierung hat angesichts dieser Reaktionen selbst vorgeschlagen, den Vorschlag abzumildern. Etwas, das auf einer Demonstration passiert, als Terrorismus zu bezeichnen, das erinnert an die schlimmsten Momente der Bush-Ära in den Vereinigten Staaten. Dieser Gesetzesvorschlag hat sicher nicht das Ziel, Journalisten oder Demonstranten besser zu schützen, sondern soll im Wahljahr 2014 wegen der WM das Image von Brasilien schützen.

Eine andere Gesetzesinitiative will das Strafmaß auf 30 Jahre erhöhen, wenn es auf einer Demonstration zu Gewalt kommt oder „Panik verbreitet wird“.
Nun, das Strafmaß von 30 Jahren Haft soll dann gelten, wenn man auf einer Demonstration jemanden ermordet, weil dies als strafverschärfend bewertet wird. Aber nicht dafür, dass man zum Beispiel die Tür einer Bank aufbricht. Für Mord beträgt die Höchststrafe bisher 20 Jahre. Aber diese Gesetzesinitiativen sind noch nicht verabschiedet, sie werden bislang nur diskutiert. Und ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass sie im Kongress verabschiedet werden. Es gibt bis jetzt in Brasilien kein Gesetz, das die Demonstrationsfreiheit einschränkt.
Eine andere Gesetzesinitiative, eine positive, die aktuell im Parlament behandelt wird, soll verhindern, dass die Polizei auf Demonstrationen Gewalt ausübt. Denn die Polizei ist der Hauptakteur der Gewalt bei den Protesten, nicht die Zivilgesellschaft. 75 Prozent aller gewalttätigen Übergriffe auf Journalisten bei Demonstrationen in den letzten Jahren gingen von Polizeikräften aus, und nur 25 Prozent von der Zivilgesellschaft.

Sie haben im vergangenen Jahr mehrere Artikel veröffentlicht, in denen die große Bedeutung der alternativen Medien für die Protestbewegung betont wird. Trifft das immer noch zu?
Ja, auf jeden Fall. Die alternativen Medien setzen einen antihegemonialen Kontrapunkt. Und das nicht nur, was den Inhalt betrifft, sondern auch in Bezug auf die Sprache und die Ästhetik. Denn Ästhetik ist sehr politisch, es gibt keine Politik ohne Ästhetik: Was gut ist und was schlecht, was schön ist und was hässlich, was schwierig und was einfach zu verstehen ist, was angenehm oder unangenehm ist, diese kollektive Wahrnehmung wird im Laufe der Zeit von den hegemonialen Eliten konstruiert. Alternative Medien spielen eine fundamentale Rolle, um diesen Prozess zu kritisieren. Es gibt einige kritische, linke Medien, wie die Zeitschrift Carta Capital, die ich sehr gut finde, die aber keinen antihegemonialen Standpunkt einnimmt. Beispiele für alternative Medien sind die Website von Brasil de Fato, die dem MST (Landlosenbewegung, Anm. d. Red.) nahesteht, oder von unserer Organisation Repórter Brasil, von kommunitären Radios, Blogs oder bestimmten Seiten auf Facebook. Ich denke, heutzutage verkörpern vor allem Blogs die Idee von „alternativen Medien“.

Das ist interessant: Facebook oder andere soziale Medien werden in Deutschland häufig nicht als alternative Medien verstanden.
Nun, Facebook ist sicher keine Plattform, die neutral oder unparteiisch ist. Dennoch kenne ich viele Gruppen oder Kollektive, die Inhalte von einer Facebookseite aus verbreiten, und tausende von Menschen folgen ihren Aktivitäten. Denn Facebook und Twitter sind nicht nur einfach eine Pinnwand, um Nachrichten zu veröffentlichen. Sie sind Orte, um kollektiv – durch den Austausch von Informationen – die Realität zu konstruieren und zu dekonstruieren. Das gilt vor allem für Jugendliche, die sich über Ereignisse aus ihrem Leben austauschen: „Ah, mir ist heute etwas passiert, ich wurde von einem Polizeibeamten angegriffen.“ Und ein anderer Jugendlicher aus einer weit entfernten Stadt postet: „Ich wurde auch von einem Polizeibeamten angegriffen, lass uns chatten.“ Dann können sie über einen Austausch und über verschiedene Ebenen des Verständnisses entdecken, dass sie, auch wenn sie sich zunächst als Schuldige gefühlt haben, keine Schuldigen waren, sondern Opfer.
Diese Dekonstruktion und Rekonstruktion der Realität war besonders ab dem 13 Juni letzten Jahres wichtig, als unterschiedliche Aktivisten, und nicht nur Mídia Ninja oder Mídia Geisha mit ihren Videos in Echtzeit, sondern viele, viele, die dabei gewesen waren, ihre Sicht der Dinge, ihre Fotos und Videos, online veröffentlichten und so die Sicht der hegemonialen Medien bei der Interpretation der Proteste radikal in Frage stellten. Diese Auseinandersetzung setzt sich im Grunde bis heute fort.

Infokasten

Der Journalist und promovierte Politikwissenschaftler Leonardo Sakamoto unterrichtet Journalismus an der Päpstlichen Katholischen Universität von São Paulo (PUC-SP) und koordiniert die NGO Repórter Brasil, für die er auch Mitglied in der Nationalen Kommission gegen Sklavenarbeit ist. Leonardo Sakamoto bloggt auf UOL zu Menschenrechtsfragen, sein Facebook-Auftritt hat 141.000 Likes.

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